Kirchen

Des Pfarrers neue Kleider




Talare bei einer Aktion spontane Segenshochzeiten in Berlin (Archivbild)
epd-bild/Hans Scherhaufer
Der Talar gehörte lange selbstverständlich zum Pfarrer wie das Amen zur Kirche. Doch besonders jüngere Geistliche distanzieren sich zunehmend von der traditionellen Amtstracht und setzen auf lockerere Kleidung. Das Schlagwort lautet: Augenhöhe.

Stuttgart, Hannover (epd). Die Mitgliederzahlen der beiden großen Kirchen in Deutschland sinken dramatisch. Allein im vergangenen Jahr traten rund 345.000 Menschen aus der evangelischen und weitere 322.000 aus der katholischen Kirche aus - zusammen entspricht das einer ganzen Stadt von der Größe Stuttgarts oder Leipzigs.

Was tun gegen den Schwund? Eine Antwort lautet: zeitgemäßere Formen finden. Dazu gehört für jüngere Pfarrerinnen und Pfarrer auch die Kleidung. Seit mehr als 200 Jahren ist der schwarze Talar die offizielle Amtstracht evangelischer Pfarrer. Eingeführt wurde er 1811 auf Anordnung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. Bis heute gilt er in allen 20 Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als verbindlich.

„Im Regelfall predigen Pfarrer im Talar“

„Im Regelfall predigen Pfarrer im Talar“, sagt eine EKD-Sprecherin dem Evangelischen Pressedienst (epd) und verweist auf Paragraf 36 des Pfarrdienstgesetzes, der das regelt. Der Talar sei das sichtbare Zeichen ihres Amtes. Allerdings gebe es Ausnahmen, etwa bei Gottesdiensten im Freien oder bei Jugendgottesdiensten. Dort könne auf den Talar verzichtet werden: „Dies geschieht aus praktischen Gründen oder weil die Form des Gottesdienstes es nahelegt.“

Für die konkrete Ausgestaltung dieser Vorschriften haben die EKD-Gliedkirchen eigene Regelungen. So ist der Talar etwa in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg ordinierten Pfarrpersonen vorbehalten. In der Evangelischen Landeskirche in Baden dürfen ihn auch Diakone und Prädikanten tragen. Beide Kirchen betonen im Gespräch mit dem epd jedoch, dass der Verzicht auf den Talar bei Pfarrerinnen und Pfarrern die Ausnahme darstellt.

Ganz anders handhaben es die Freikirchen: Hier ist der Talar zumeist unbekannt. Viele Pastoren wollen durch moderne und zwanglose Kleidung Nähe zur Gemeinde signalisieren. Ob Anzug oder Jeans mit Hemd - das Anliegen bleibt gleich: Distanz zur Gemeinde soll gar nicht erst entstehen.

Theologieprofessor sieht tiefgreifenden Wandel

Nach Einschätzung des Heidelberger Theologieprofessors Fritz Lienhard bleibt der Talar im landeskirchlichen Bereich zwar Standard, er verleihe der Predigt die nötige Autorität. Gleichzeitig beobachtet Lienhard einen tiefgreifenden Wandel: „Früher erinnerte die evangelische Kirche an eine Behörde - eine starke Institution. Heute entwickelt sie sich zunehmend zu einer Organisation, vergleichbar mit einer NGO.“

Dieser Wandel zeige sich auch in der Kommunikation. So setze man heute in der Kirche stärker auf Interaktion. Es gehe um eine Kommunikation, die auf Augenhöhe stattfindet, so Lienhard. Aus diesem Grund predigten auch zunehmend mehr Pfarrer nicht mehr von der Kanzel, die traditionell über den Köpfen der Gemeinde thront, sondern vom Altar oder einem Lesepult aus. Sie empfänden die Kanzel als Symbol einer „starken Machtasymmetrie zwischen Pfarrperson und Gemeinde“. Das sei heute vielfach nicht mehr gewünscht.

Der Trend zur Verkündigung auf Augenhöhe findet also nicht nur auf kommunikativer Ebene, sondern auch im äußeren Erscheinungsbild seinen Ausdruck: weniger Amtstracht, mehr Alltag. Ob sich durch Anzug statt Talar und einen veränderten Auftritt allerdings der Mitgliederschwund aufhalten lässt, bleibt fraglich und wird sich in den kommenden Jahren zeigen.

Von Matthias Pankau (epd)


Ein großer Freund des Dialogs




Johannes Friedrich
epd-Bild / Peter Roggenthin
Er war ein Theologe mit klarem Verstand, Übersicht und freundlichem Wesen: Der frühere bayerische evangelische Landesbischof Johannes Friedrich ist im Alter von 77 Jahren gestorben.

Nürnberg/München (epd). Johannes Friedrichs Name ist in der evangelischen Kirche vor allem mit drei Dingen verbunden: mit dem Bischofsamt, das er in Bayern von 1999 bis 2011 innehatte, mit dem jüdisch-christlichen Dialog und mit dem Bibelmuseum Bayern in Nürnberg. Der Theologe war aber auch Propst, Stadtdekan und Dorfpfarrer. Wie die Landeskirche am 3. September mitteilte, ist Friedrich im Alter von 77 Jahren gestorben.

Friedrich wurde als Sohn eines Theologieprofessors in Westfalen geboren und wuchs in Erlangen auf. Vor seiner Zeit als Propst in Jerusalem war Friedrich Studentenpfarrer in Nürnberg, nach seiner Rückkehr wurde er Stadtdekan in Nürnberg. 1996 wurde er in die Landessynode gewählt und ergriff dort die Initiative für die Vereinbarung „Zur Begründung eines neuen Verhältnisses von Christen und Juden“, die die Synode 1996 verabschiedete.

Die Bedeutung des Dialogs, der inhaltlichen Differenzierung, wurde ihm als Propst von 1985 bis 1991 in Jerusalem deutlich. Er habe Schwierigkeiten mit Leuten, die beim Nahost-Konflikt „ganz genau zu wissen scheinen, wer recht hat und wer im Unrecht ist“, sagte er. Er setzte sich gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus ein und kritisierte, dass es auch in der Kirche noch „böse Vorurteile“ gegenüber Jüdinnen und Juden gebe.

Er konnte gut mit Kardinal Marx

Die Zeit als Propst in einer Stadt, in der die Christen in der Minderheit sind, führte Friedrich auch vor Augen, wie wichtig Ökumene ist - und zwar nicht nur die von katholischer und evangelischer Kirche, sondern auch mit Orthodoxen und Anglikanern. Als bayerischer Landesbischof konnte er gut mit dem Münchner Kardinal Reinhard Marx. Den Ökumenischen Kirchentag 2010 in München bezeichnete Friedrich einmal als den Höhepunkt seiner Karriere. Dass er 2001 als Catholica-Beauftragter der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) den Papst als einen „ökumenisch akzeptierten Sprecher der Weltchristenheit“ bezeichnete, kam allerdings bei Protestanten nicht überall gut an.

In der Debatte um die Umbenennung der nach Landesbischof Hans Meiser (1881-1956) benannten Straßen während seiner Amtszeit, hätte er sich mehr Differenzierung gewünscht. Schwarz-Weiß-Denken ärgere ihn, sagte er. Hintergrund der Debatte war die ambivalente Haltung von Hans Meiser während der NS-Zeit.

Mit geduldigem Zuhören, der Fähigkeit zu tragfähigen Kompromissen und einem guten Maß Pragmatismus hielt Friedrich seine Landeskirche mit ihren verschiedenen Flügeln zusammen. Ein Mann, der Konflikte vermeide und lieber nach Lösungen suche, die allen etwas bringen, beschrieb ihn seine Stellvertreterin, Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler. Friedrich sei „einer mit klarem Verstand und Übersicht“.

Sein Organisationsgeschick trug wesentlich mit dazu bei, dass die Landeskirche ihre großen Strukturreformen - von der grundlegenden Konsolidierung der Finanzen bis zu einer neuen landesweiten Verteilung der Pfarrstellen - ohne tiefgehende Verwerfungen über die Bühne brachte. Wegbegleiter erinnern gerne daran, wie Friedrich als Landesbischof anstrengungslos und bisweilen fröhlich pfeifend Sitzungen hinter sich brachte und Dokumentenberge abarbeitete.

„Ich bin zufrieden mit dem Leben, wie es gelaufen ist“

Johannes Friedrich brachte in seiner Amtszeit als Landesbischof die Kirche ins Gespräch. Er äußerte sich nicht nur zu Religionsfragen, sondern auch zu Migrationspolitik oder zur embryonalen Stammzellenforschung. Und medienscheu war Johannes Friedrich nie.

Ebenfalls untrennbar mit seinem Namen verbunden ist das Thema Bibel. Er war Vorsitzender der Deutschen Bibelgesellschaft, Vorsitzender des Verwaltungsrats des Bayerischen Zentralbibelvereins und trieb in dieser Eigenschaft das Projekt Bibelmuseum in Nürnberg voran. 2023 wurde es im Lorenzer Hof in Nürnberg eingeweiht. Zu Einweihung zeigte er sich bereits von seiner Krankheit gezeichnet.

„Ich bin zufrieden mit dem Leben, wie es gelaufen ist“, sagt er in einem Interview zu seinem 70. Geburtstag. Alle Erdteile habe er als Landesbischof besuchen können, sagt er, „das ist doch toll“. Nach zwölf Jahren Dienstzeit als Bischof einer der größten evangelischen Landeskirchen hatte er sich noch ein Leben als einfacher Dorfpfarrer gewünscht. Im fränkischen Bertholdsdorf setzte er das um. Dort stieg er jeden Sonntag auf die Kanzel, gab Konfirmandenunterricht und leitete Beerdigungen.

Ein großer Rückhalt waren dem Bischof immer seine Frau und seine zwei Töchter: Seine Frau, eine Religionspädagogin, begleitete ihn so oft wie möglich bei Dienstreisen und kümmerte sich voller Liebe und Hingabe um ihn, als sie wegen seiner Krankheit das Haus in Spalt mit einem Pflegeheim in Nürnberg tauschen mussten.

Von Jutta Olschewski (epd)


Niedersachsen und Kirchen besiegeln Fach "Christliche Religion"



Hannover (epd). Bei einer Feierstunde in Hannover haben die niedersächsische Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) und Vertreter von Kirchen in Niedersachsen die Einführung einer neuen Form des Religionsunterrichts besiegelt. „Das Fach 'Christliche Religion' wird künftig einen großen Beitrag leisten für den Dialog zwischen den Schülerinnen und Schülern und für die Schaffung der eigenen Werteorientierung“, sagte Hamburg am 5. September bei dem Festakt im Gästehaus der Landesregierung in Hannover.

Der Ratsvorsitzende der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, Bischof Thomas Adomeit aus Oldenburg, sagte: „Das Ziel ist, dass Schülerinnen und Schüler religiös gebildet sind und für sich klären können, woran sie 'ihr Herz hängen', was ihrem Leben Sinn und Orientierung gibt.“ Der Unterricht thematisiere auch Ängste und Sorgen junger Menschen. „Der Religionsunterricht steht exemplarisch für das gemeinsame Engagement von Land und Kirchen im Interesse der Menschen, die uns anvertraut sind.“

Der Hildesheimer katholische Bischof Heiner Wilmer sprach von einem Novum in Niedersachsen und in Deutschland. „Das neue Fach 'Christliche Religion' leistet auch einen unverzichtbaren Beitrag zur allgemeinen Bildung in einer pluralen Gesellschaft.“ Es eröffne einen eigenen Zugang zur Wirklichkeit und fördere Urteilsfähigkeit, Sinnfindung sowie Toleranz.

Gemeinsamer Unterricht

Neben den Bischöfen Wilmer und Adomeit nahmen unter anderen Bischof Dominicus Meier (Osnabrück), die Kirchenpräsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche, Susanne Bei der Wieden, die Landesbischöfe Ralf Meister (Hannover) und Oliver Schuegraf (Schaumburg-Lippe), Weihbischof Wilfried Theising (Vechta), Generalvikar Michael Bredeck (Paderborn) sowie Oberlandeskirchenrat Thomas Hofer (Braunschweig) an dem Festakt teil. Sie haben die Erklärung ebenfalls unterschrieben.

Das neue Fach „Christliche Religion“ soll an die Stelle der bisherigen Unterrichtsfächer evangelische und katholische Religion treten. Ab August 2026 sollen evangelische und katholische Schüler der Klassen 1 bis 10 gemeinsam in Religion unterrichtet werden, statt wie bisher zumeist getrennt. Das Fach ist offen für weitere Interessierte, die keiner Kirche angehören.



Bischof: "Flüchtlingsbewegung aus dem Sudan ist weiblich und jung"




Erzbischof Heße feiert die Heilige Messe mit sudanesischen Geflüchteten.
epd-bild/Deutsche Bischofskonferenz/Daniela Elpers
Die Lage der 1,5 Millionen nach Ägypten Geflüchteten sei besorgniserregend, sagt der katholische Flüchtlingsbischof Heße.

Kairo, Frankfurt a.M. (epd). Der katholische Flüchtlingsbischof Stefan Heße hat mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung für Geflüchtete aus dem Sudan gefordert. Im Aufnahmeland Ägypten sei der Zugang zu Wohnungen und Bildung begrenzt, sagte der Sonderbeauftragte für Flüchtlingsfragen der Deutschen Bischofskonferenz dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Lage der offiziell 1,5 Millionen Geflüchteten aus dem Sudan in dem nordafrikanischen Land bezeichnete er als in vielen Bereichen „besorgniserregend“. Heße befindet sich bis zum 5. September auf einer mehrtägigen Reise in Ägypten.

Die Mehrheit der Geflüchteten seien Frauen und Kinder. „Die Fluchtbewegung aus dem Sudan ist weiblich und jung“, sagte Heße. Damit seien höchst vulnerable Gruppen betroffen. Insgesamt seien derzeit über zwölf Millionen Sudanesen auf der Flucht, davon über sieben Millionen innerhalb des Sudans.

Er habe in den vergangenen Tagen viele Geflüchtete getroffen, in den Begegnungen hätten ihm die Sorgen der Menschen förmlich entgegengeblickt, sagte Heße. In Ägypten gebe es anders als in anderen Ländern keine großen Camps für die Versorgung von Geflüchteten. Die Menschen seien darauf angewiesen, sich selbst eine Unterkunft zu suchen, was oft schwierig und teuer sei.

„Kinder kommen nicht ins öffentliche Schulwesen“

„Viele Menschen müssen in kleinen Räumen sehr eng zusammenleben und dafür auch viel Geld bezahlen“, sagte der Hamburger Erzbischof, der auch Vorsitzender der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz ist. Die Geflüchteten sorgten sich zudem um Erziehung und Bildung ihrer Kinder. „Ins öffentliche Schulwesen kommen die meisten sudanesischen geflüchteten Kinder nicht“, sagte er. Sie hätten nur in Schulen privater Initiativen die Möglichkeit, nach dem sudanesischen Curriculum Zertifikate zu erwerben, was auch wiederum mit Kosten verbunden sei.

Hinzu komme, dass die meisten Geflüchteten keinen Zugang zum staatlichen Gesundheitswesen hätten. „Sie werden nicht in den öffentlichen Kliniken behandelt, höchstens dann, wenn sie offiziell registriert werden, was viele nicht sind“, sagte Heße. Viele könnten auch offiziell keiner Arbeit nachgehen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. „Gesellschaftliche Integration ist kein Ziel“, sagte der Bischof. Das Ziel sei, dass die Geflüchteten in ihr Heimatland zurückkehren, was aber wegen des brutalen Bürgerkriegs dort auf lange Sicht kaum möglich sei.

Hilfsprojekte wegen Geldmangels zurückgefahren

Wichtig sei, dass Ägypten internationale Hilfe erhalte, denn das Land befinde sich derzeit selbst in einer wirtschaftlich schwierigen Lage. Es würden dort gerade doppelt so viele Asylanträge gestellt wie in Deutschland, sagte Heße. In Europa seien der Bürgerkrieg, die Hungerkrise und die Vertreibungswelle im Sudan unter dem Radar. „Andere Konflikte wie in der Ukraine oder in Gaza sind uns in Deutschland im Augenblick näher“, sagte Heße.

Seit dem Wegfall von Entwicklungshilfe aus den USA und weiteren Geberländern seien viele Hilfsprojekte in Ägypten zurückgefahren worden. Neben der Unterstützung durch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR erhielten die Geflüchteten vor allem Hilfe durch zivilgesellschaftliche und kirchliche Organisationen wie die Caritas oder die Catholic Relief Services (CRS).

Die Menschen, denen er begegnet sei, hätten ihm imponiert, sagte Heße. Sie seien zwar extrem belastet, aber offenbar auch sehr widerstandsfähig. „Sie versuchen mit großen Kräften aus ihrer Situation das Beste zu machen. Dabei hilft ihnen oft auch ihr Glaube und die Anbindung an die christliche Gemeinschaft“, sagte er.

epd-Gespräch: Franziska Hein


Ein Heiliger für die Millennials




Messe zur Heiligsprechung von Carlo Acutis in Rom.
epd-bild/Vatican Media, Pool
Papst Leo XIV. hat den Italiener Carlo Acutis heiliggesprochen. Der Italiener war im Alter von 15 Jahren an Leukämie gestorben. Die italienischen Medien gaben ihm den Beinamen "Influencer Gottes".

Rom (epd). Eine Gruppe Gläubiger aus Brasilien steht um den steinernen Sarg. Ein Mann legt seine Hand darauf und schaut minutenlang durch die Glaswand ins beleuchtete Innere auf den Jungen, der darin gebettet ist. Gekleidet ist der Leichnam in einer dunkelblauen Jeans und einer blauen Joggingjacke, das dunkle volle Haar steht lockig von seinem Kopf. Er sieht aus wie ein normaler 15-Jähriger.

Doch normal ist hier nichts: Carlo Acutis ist am 7. September von Papst Leo XIV. heiliggesprochen worden. 2006 war Acutis im Alter von 15 Jahren an Leukämie gestorben. Erst seit April 2019 ist er im Sarg in der Kirche Santa Maria Maggiore in Assisi bestattet. Seine Familie ließ den Leichnam nach Assisi bringen, was nach Auskunft der Familie seinem Wunsch entsprochen haben soll. In Assisi wurde Acutis im Jahr 2020 selig gesprochen. Acutis ist der erste aus der Generation der „Millennials“, der heiliggesprochen wurde.

Dieser habe als Kind und Jugendlicher „ganz natürlich Gebet, Sport, Lernen und Nächstenliebe miteinander verbunden“, sagte Papst Leo am 7. September in seiner Predigt während der Heiligen Messe, die vor rund 70.000 Gläubigen auf dem Petersplatz gefeiert wurde.

„Internet-Heiliger“

Der Mann, der so lange am Sarg des Jungen betete, hat Tränen in den Augen, als er den steinernen Sarg küsst und sich dann mit gebeugtem Kopf zum Ausgang begibt. Er kommt an einem Acutis-Pappaufsteller vorbei und an Acutis-Postern und -Broschüren, die in mehreren Sprachen ausliegen. Vor der Kirche steht eine Reisegruppe aus Kanada und lauscht ihrem Reiseführer, der die Geschichte des „Influencers Gottes“, wie ihn die italienischen Medien gerne nennen, erläutert.

Acutis galt als Computergenie und war am Aufbau religiöser Internetseiten beteiligt. Zu seinen Lebzeiten hat der „Internet-Heilige“, auch das einer seiner Titel, eine Auflistung eucharistischer Wunder angelegt, die heute auf einer Internetseite zusammengefasst aufrufbar ist.

Geboren wurde Acutis 1991 in London, wo seine Eltern damals lebten. Kurz darauf zog die Familie nach Mailand. Der Junge erhielt auf eigenen Wunsch im Alter von sieben Jahren die Erstkommunion. Als Jugendlicher engagierte er sich für arme Menschen und Obdachlose.

Um in der katholischen Kirche selig gesprochen zu werden, muss der Vatikan nach dem Tod ein Wunder anerkennen: Ein brasilianischer Junge, der an einer Bauchspeicheldrüsenkrankheit litt, soll nach einer Gebetsbitte im Jahr 2010 geheilt worden sein. Der Vatikan erkannte das im November 2019 als Wunder von Carlo Acutis an.

Wundersame Heilung

Im Mai 2024 erkannte Papst Franziskus das zweite Wunder an, das für eine Heiligsprechung notwendig ist. 2022 soll eine Schwerverletzte geheilt worden sein, nachdem ihre Mutter am Grab von Acutis für sie gebetet hatte. Die Heiligung der Frau sei medizinisch nicht erklärbar gewesen, heißt es.

Franziskus' Nachfolger, Papst Leo XIV., nahm am 7. September auch den Italiener Pier Giorgio Frassati in den Kreis der katholischen Heiligen auf. Er wurde 1901 in Turin geboren. Der Sohn von Alfredo Frassati, der die italienische Tageszeitung „La Stampa“ gründete und als Diplomat unter anderem als Botschafter in Berlin tätig war, engagierte sich früh und ohne das Wissen seiner bürgerlichen Familie für Arme und Kranke.

1925 starb Frassati an Kinderlähmung, woran er nach einem Besuch in einem Elendsviertel erkrankt war. Frassati wurde 1990 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen worden. Auch er soll als Heiliger vor allem für junge Gläubige eine Inspiration sein. Doch der Star des Tages wird wohl Carlo Acutis sein.

Die Marketing-Maschine läuft seit Jahren - auch in Rom sieht man im aktuell laufenden Heiligen Jahr Menschen aus aller Welt in Acutis-T-Shirts. Eine Heiligsprechung ist stets mit Kosten verbunden, die von jenen getragen werden, die den Kandidaten vorschlagen. Der Vatikan selbst prüft lediglich den Antrag. Kirchenrechtliche Anwälte, Theologen, medizinische Gutachter oder Übersetzer müssen bezahlt werden. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, Schätzungen gehen von 50.000 bis 250.000 Euro aus, die ein Prozess der Heiligsprechung kostet.

Nur wenige Meter von der Kirche Santa Maria Maggiore in Assisi entfernt findet sich die Via San Francesco. Hier reiht sich ein Souvenirladen an den nächsten. In den Auslagen allgegenwärtig: das Porträt des Internetapostels in einem roten Poloshirt. Von Magneten über T-Shirts bis zu Baumwoll-Beuteln wird dort alles Mögliche zum Verkauf angeboten: Ein Baumwoll-Beutel kostet 6,50 Euro.

Von Almut Siefert (epd)


Papst-Hype in Chicago




Elternhaus von Leo IV. in einem Vorort von Chicago
epd-bild/Mirjam Rüscher
T-Shirts, Baseballcaps, Pizzen, sogar ein Bier - seit der Wahl von Robert Francis Prevost zum Papst ist in seiner Heimatstadt Chicago im US-Bundesstaat Illinois ein Hype ausgebrochen. Gläubige wie Geschäftsleute feiern Leo XIV. gleichermaßen.

Chicago (epd). Das Elternhaus von Papst Leo XIV. liegt in einer nicht besonders schönen, aber ruhigen Nachbarschaft und ist unscheinbar: Roter Klinker, graues Dach. Vor dem Eingang haben Menschen ein paar Kerzen abgestellt. Mittlerweile weist ein weißes Schild vor dem Haus in einem Chicagoer Vorort auf seine Geschichte hin: „Papst Leo XIV. - Pope Leo's childhood home“ steht darauf. Das Gebäude stand zwischenzeitlich kurz vor dem Verfall und hatte in den letzten Jahrzehnten zum Teil zweifelhafte Bewohner. Es stand zum Kauf, als Robert Francis Prevost am 8. Mai zum Papst gewählt wurde. Sein Wert schoss rasant in die Höhe, es gab plötzlich zahlreiche Interessenten.

Am 14. September feiert Papst Leo XIV. seinen 70. Geburtstag. Er ist in Chicago geboren und ganz in der Nähe der US-amerikanischen Millionenmetropole aufgewachsen. Die Einwohner der Stadt am Lake Michigan feiern das neue katholische Kirchenoberhaupt seit dessen Wahl als einen der Ihren. Viele seiner Lieblingsorte sind seitdem zu regelrechten Pilgerstätten geworden. Besonders die Gemeinde Dolton, ein Vorort von Chicago, profitiert von dem neuen Papst. Hier steht das Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hat.

Touristenattraktion und Pilgerstätte

Kürzlich erwarb die Gemeinde das Haus. Die Kommune will daraus eine Touristenattraktion und Pilgerstätte machen. Seit der Papstwahl pilgerten zahlreiche Besucher zu der Adresse. Nachbarin Donna Sagna hat ein Holzkreuz vor dem Haus aufgestellt. In den vergangenen Monaten erlebte sie, wie das Interesse an der Nachbarschaft wuchs. Wann immer es geht, begrüßt sie Besucher an dem Prevost-Haus. Wenn sie nicht da ist, übernimmt ihre Mutter die Wache vor dem Haus.

Freundlich lädt Donna Sagna Besucher ein, sich vor die rote Eingangstür zu stellen, bietet an, Fotos zu machen: „Gehen Sie ruhig herum, auf der Rückseite gibt es noch zwei weitere rote Türen“, fordert sie auf - und schon steht man in dem Garten, in dem der Papst als Kind spielte.

Eine Besucherin berichtet, dass sie mit Robert Prevost zur Schule gegangen sei. Ihre Mütter sangen gemeinsam im Kirchenchor. Sie lebt mittlerweile in Arizona. Zusammen mit ihrer Familie ist sie nun zu Besuch in ihrem alten Viertel. „Ich wollte es einfach noch mal sehen. Dass jemand, der auf meine Schule ging, Papst geworden ist, das ist doch verrückt!“ Als die Familie wieder losfährt, halten bereits die nächsten Wagen. „So geht das die ganze Zeit“, sagt Donna Sagna und wendet sich neuen Besuchern zu.

„Chicago Pope Tours“

Mittlerweile sind auch andere Orte, die in Verbindung zum Leben des Papstes stehen, zum Anziehungspunkt für Besucher geworden. Einer, der sich das zunutze machen will, ist Tyler van Duvall. Er hat die „Chicago Pope Tours“ ins Leben gerufen. Die Bus-Tour führt zu den wichtigsten Stationen der frühen Lebensjahre des Papstes. Sie beginnt an der „Holy Name Cathedral“ in Chicago, wo Prevosts Eltern geheiratet haben. Die zweieinhalbstündige Tour kostet 65 US-Dollar.

Ein Gemälde von Leo ziert eine Wand im Stadion der „White Sox“, das Baseball-Team ist die Lieblingsmannschaft des Papstes. Bei „Aurelio's Pizza“ wird eine „Poperoni Pizza“ mit extra viel Salami angeboten. Die kleine Brauerei „Burning Bush Brewery“ hat das „Da Pope“-Bier auf der Speisekarte, ein mildes amerikanisches Craftbeer. „Es mag nicht das Blut Christi sein, aber es ist gesegnet mit einem biblischen Level an Geschmack“, steht in der Getränkekarte.

Mit Baseballschläger auf dem T-Shirt

Auch in den Andenkenläden ist das Konterfei Leos überall zu sehen. Die T-Shirts sind ein großer Verkaufshit. In einem der Souvenir-Shops am „Navy Pier“ - Seebrücke, Einkaufszentrum und Veranstaltungsort der Stadt - schiebt Verkäuferin Marisol das letzte Shirt mit dem Bild des Papstes über den Verkaufstresen. „Wir verkaufen so viele davon, dass wir gar nicht mit der Bestellung hinterherkommen. Normalerweise haben wir drei Motive, das war jetzt aber das Letzte“, erklärt sie. Im benachbarten Sportartikel-Geschäft gibt es immerhin noch Papst-Shirts, die Leo mit seinen Insignien in Baseballschläger-Pose zeigen.

Aber nicht überall geht es um den Papst. Der Hype ist nicht in der ganzen Stadt zu sehen und zu fühlen. Es gibt keine großen Werbebanner oder Plakate. Hotelportier Steven zuckt auf die Frage nach dem Papst und einem neuen Besucheransturm nur mit den Schultern. Auch in der benachbarten katholischen Kirche, die offen für Besucher ist, ist augenscheinlich alles wie immer. Dafür diskutieren im neuen Harry-Potter-Geschäft um die Ecke zwei Frauen, die gerade Zauberstäbe für ihre Kinder gekauft haben, wo sie noch ein Papst-T-Shirt bekommen können. Chicago und der Papst, es scheint, als sei das erst der Anfang.

Von Mirjam Rüscher


Kirchen begehen Ökumenischen Tag der Schöpfung



Bad Sassendorf (epd). Bei der zentralen Feier des Ökumenischen Tags der Schöpfung im westfälischen Bad Sassendorf haben die Kirchen in Deutschland dazu aufgerufen, mehr auf die Bedürfnisse von Tieren zu achten. „Oft geht es Menschen ausschließlich um ihr eigenes Interesse“, sagte der katholische Weihbischof Rolf Lohmann, Beauftragter für Umwelt- und Klimafragen der Deutschen Bischofskonferenz, am 5. September laut Predigttext. „Das Wohl der Tiere wird dabei geflissentlich ignoriert.“

Menschen nähmen Tiere oft ausschließlich als Nutztiere wahr, erklärte der Münsteraner Weihbischof. Doch lebten Mensch und Tier in einem gemeinsamen Ökosystem: „Wir müssen darauf achten, dass dieses Ökosystem auch in Zukunft stabil ist und Pflanzen, Tiere und Menschen nebeneinander existieren können.“ Bei Umweltbelastungen, die durch Tierhaltung entstehen, werde deutlich, wie Mensch und Tier voneinander abhingen. „Wir Menschen haben nicht das Recht, die Natur auszubeuten und Tiere zu misshandeln, nur um unsere Interessen durchzusetzen“, sagte Lohmann.

Initiative der orthodoxen Kirchen

Seinen Ursprung hat der Tag der Schöpfung in einer Initiative der orthodoxen Kirchen. Das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel mit Sitz im heutigen Istanbul wies bereits früh auf die Umweltproblematik hin. „Die Orthodoxie ist in ihrem Glauben, ihrem Gottesdienst und ihrem Zeugnis gegenüber der Welt sozusagen die umweltfreundliche Form des Christentums“, hieß es in der diesjährigen Botschaft von Patriarch Bartholomäus I. zum Feiertag des Gebets für die natürliche Umwelt am 1. September, der von orthodoxen, aber auch anderen Kirchen weltweit begangen wird.



Ökumene-Sonderpreis für Projekt aus Soest



Soest, Frankfurt a.M. (epd). Das Projekt „Schöpfungszeit - religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung (rBNE)“ hat den Sonderpreis des Ökumenepreises der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) In der Kategorie „Ökumenische und interdisziplinäre Initiativen zur Bewahrung der Schöpfung“ erhalten. Der mit 1.000 Euro dotierte Preis sei am 4. September in Soest übergeben worden, teilte die ACK in Frankfurt am Main mit.

Die Jury begründete ihre Auswahl mit der Verknüpfung religiöser Bildung für nachhaltige Entwicklung mit gesellschaftlichen und spirituellen Anliegen durch das Soester Projekt. Es bringe mehr als 20 lokale Partner aus Kirchen, Schulen, Kultur und Initiativen zusammen und habe mit jährlich wechselnden Leitthemen wie Klimagerechtigkeit, Frieden oder sozialer Verantwortung „eine wachsende, nachhaltige Strahlkraft entfaltet“.

Der ACK-Vorsitzende Christopher Easthill würdigte das Projekt als ein Beispiel dafür, „wie Kirche - in welcher Form auch immer - in der heutigen Zeit Verantwortung übernimmt: für die Schöpfung, für die Gesellschaft, für die Zukunft - und dabei gleichzeitig Hoffnung wecken kann.“

Die ACK vergibt den Ökumenepreis alle zwei Jahre mit einem Hauptpreis und zwei Sonderpreisen. Der mit 2.000 Euro dotierte Hauptpreis ging in diesem Jahr an eine gemeinschaftsstiftende Initiative aus dem brandenburgischen Dorf Kossin. Der Sonderpreis an die Soester Initiative wurde am Vorabend des Ökumenischen Tags der Schöpfung verliehen, den die Kirchen am Freitagabend in Bad Sassendorf begehen.



Netzwerk "Christen in der Autoindustrie" macht Umfrage auf der IAA



München (epd). Mit einer internationalen Umfrage will das Netzwerk „Christen in der Automobilindustrie“ (CAI) das Thema „Werte“ bei der Münchner Automesse „IAA Mobility“ (9. bis 14. September) in den Fokus rücken. „Ohne Werte gibt es keine Wertschätzung und keine Wertschöpfung“, sagte der CAI-Vorsitzende, Peer-Detlev Schladebusch, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Er sei davon überzeugt, dass die Wertehaltung der Mitarbeitenden einen direkten Einfluss auf die Produkte des Unternehmens habe, sagte der Pastor der hannoverschen Landeskirche.

Kurzfristige „Tricksereien“ führten zu Gewinneinbußen und Imageverlust, sagte Schladebusch mit Blick auf den VW-Dieselskandal von 2015. Werte brauche es nicht nur „auf Hochglanz im Werbeprospekt, sondern im Alltag der Firmen“.

1.500 Mitglieder

Deshalb lade man die Fachbesucher der IAA ein, einen kritischen Fragenkatalog zu beantworten. „Wir wollen wissen, welche Werte die Mitarbeitenden antreiben, wie menschenfreundlich sie die Branche erleben und welche Fragen sie in ihren Unternehmen nicht stellen dürfen“, zählte Schladebusch auf. Die Umfrage stehe in sechs Sprachen, darunter Chinesisch, zur Verfügung und solle künftig jedes Jahr durchgeführt werden.

Bei der IAA 2023 habe das Netzwerk sehr viele chinesische Messebesucher an seinem Info-Bus begrüßt. Man sei „richtig gespannt, was chinesische Beschäftigte in der Autoindustrie bewegt und was das für uns bedeutet“, denn damit habe sich noch niemand beschäftigt. Das Netzwerk CAI wurde 2013 gegründet und zählt rund 1.500 Mitglieder in den meisten großen Autokonzernen.




Gesellschaft

"Der Schmerz wird immer größer"




Semiya Simsek
epd-Bild / Rico Thumser
Vor 25 Jahren begann die Mordserie der rechtsextremen Terrorgruppe NSU. Bis heute leiden die Hinterbliebenen der Opfer an dem Verlust, aber auch an mangelnder Aufarbeitung und einem Fokus auf die Täter.

Nürnberg (epd). Die Angehörigen der Menschen, die von der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) getötet wurden, kommen auch 25 Jahre nach dem ersten Mordanschlag nicht zur Ruhe. „Man denkt immer, der Schmerz wird über die Zeit weniger“, sagte Semiya Simsek, Tochter des ersten NSU-Opfers, dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Wir lernen zwar, damit umzugehen. Aber der Schmerz, der Verlust wird immer größer.“ Wenn sie daran denke, wie viel Zeit ihr mit ihrem Vater genommen wurde und dass ihre Kinder den Großvater nie kennenlernen durften, „macht mich das so wütend“. Auch ihre Mutter leide seit Jahren an Depressionen.

Am 9. September 2000 wurde der selbstständige Blumengroßhändler Enver Simsek in seinem Lieferwagen an einer Nürnberger Ausfallstraße niedergeschossen. Fünf Kugeln gingen in den Kopf. Zwei Tage später, am 11. September, erlag der Ehemann und Vater, der 1985 aus der Türkei nach Deutschland gekommen war, seinen Verletzungen. Er wurde 38 Jahre alt. Simsek, der in Hessen wohnte, hatte an diesem Samstag einen seiner Nürnberger Verkäufer vertreten, weil der im Urlaub war.

„Helfer laufen immer noch frei herum“

In den Jahren bis 2007 folgten weitere neun Morde, überwiegend an türkisch- und griechischstämmigen Menschen sowie einer Polizistin. Heute ist klar: Enver Simsek war das erste Todesopfer der rechtsextremen Terrorgruppe NSU um das Trio Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Die Medien damals schrieben allerdings von „Döner-Morden“ und die Ermittler suchten das Mordmotiv in den Familien oder im Drogenmilieu. Immer sei der Vorwurf im Raum gestanden, „ihr habt etwas zu verheimlichen“, schilderte Semiya Simsek wiederholt die Stimmung, unter der sie jahrelang litt. „In den elf Jahren bis zur Aufklärung war mein Vater ein potenzieller Verbrecher“, sagte sie in einer Dokumentation.

Ans Licht kamen die Taten des NSU erst im Jahr 2011 durch die Selbstenttarnung der Terrorgruppe. Böhnhardt und Mundlos töteten sich im November 2011 in Eisenach nach einem Banküberfall auf der Flucht vor der Polizei selbst. Zschäpe veröffentlichte danach ein Bekennervideo und wurde kurze Zeit später festgenommen. 2013 begann der Prozess gegen sie und vier weitere Helfer des NSU vor dem Münchner Oberlandesgericht. Im Juli 2018 wurde Zschäpe zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Einen Abschluss sieht Birgit Mair, Leiterin des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung (ISFBB), und Expertin für die Verbrechen des NSU, aber nicht. „Viele Helferinnen und Helfer laufen immer noch frei herum“, sagt sie. Außerdem würden rechtsextreme Gewalttaten immer noch zu selten als politisch motiviert eingestuft. „Und dann haben wir ein Erstarken der extrem rechten Szene, auch mit der AfD. Das betrachten die Angehörigen der NSU-Opfer mit großer Sorge.“

Sorge über das Erstarken der AfD

Semiya Simsek, im hessischen Friedberg geboren, lebt heute in der Türkei. Trotzdem engagiert sie sich immer noch für das Erinnern an die NSU-Opfer in Deutschland und besonders in Nürnberg. Mit Unterstützung von Birgit Mair und dem Nürnberger Bündnis Nazistopp hat sie eine Gedenkveranstaltung am 9. September organisiert, bei der sie auch selbst sprechen wird. „Ich beobachte den Rechtsruck und war nach den letzten Wahlen sehr erschrocken über den Erfolg der AfD“, sagt sie.

Simsek und Mair sehen im Prozess rund um den NSU einen starken Fokus auf die Täter. „Ich habe mich als Angehörige nie ernst genommen gefühlt“, sagt Simsek heute. Dass jetzt Beate Zschäpe in ein Aussteigerprogramm aufgenommen wurde, bezeichnet die Hinterbliebene als „reine Taktik“ und zeigt sich entsetzt, dass überhaupt eine vorzeitige Haftentlassung diskutiert wird. „Da sollte das Gericht auch den Opferfamilien zuhören.“

Die Tochter von Enver Simsek hat den Mord an ihrem Vater in dem 2013 erschienenen Buch „Schmerzliche Heimat“ verarbeitet. Zusammen mit Gamze Kubasik, der Tochter des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet, hat sie gerade mit „Unser Schmerz ist unsere Kraft“ ein Buch veröffentlicht, das sich gezielt an Jugendliche richtet. Durch das Buch wollen sie auch Empathie für die Opfer wecken: „Unser Leid darf einfach nicht vergessen werden.“

Von Jutta Olschewski und Julia Riese (epd)


Deutsche Bevölkerung seit Einheit um 3,8 Millionen Menschen gewachsen



Wiesbaden (epd). In den 35 Jahren seit der Wiedervereinigung ist die Bevölkerung Deutschlands um 3,8 Millionen Menschen gewachsen. Wie das Statistische Bundesamt am 2. September in Wiesbaden mitteilte, lebten 1990 in der Bundesrepublik 79,8 Millionen Menschen. Zum Jahresende 2024 waren es 83,6 Millionen. Der Zuwachs betrug damit seit dem Tag der Einheit am 3. Oktober 1990 fünf Prozent.

In den Bundesländern verlief die Bevölkerungsentwicklung unterschiedlich. Bayern (plus 16 Prozent), Baden-Württemberg (plus 14 Prozent), Hamburg und Schleswig-Holstein (jeweils plus 13 Prozent) verzeichneten laut Statistikbehörde die stärksten Zuwächse. Dagegen ging die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner in Sachsen-Anhalt (minus 26 Prozent), Thüringen (minus 20 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (minus 18 Prozent) im Vergleich zu 1990 am stärksten zurück.

Deutlicher Rückgang in Ostdeutschland

In den ostdeutschen Bundesländern insgesamt (ohne Berlin) ging die Bevölkerungszahl zwischen 1990 und 2024 um 16 Prozent auf 12,4 Millionen zurück, während sie im Westen um 10 Prozent auf 67,5 Millionen stieg. 1990 lebten 77 Prozent der Bevölkerung in westlichen und 18 Prozent in östlichen Bundesländern, der Rest in Berlin. 2024 waren es 81 Prozent im Westen und 15 Prozent im Osten.

In der Zeit nach der deutschen Vereinigung kam es den Angaben zufolge zu Bevölkerungsbewegungen gen Westen: Im Zeitraum von 1991 bis 2024 wanderten rund 1,2 Millionen Menschen mehr von Ost nach West als umgekehrt. Wanderungen von und nach Berlin sind in dieser Betrachtung nicht enthalten.

Mehr Zuwanderung als Abwanderung

Zudem sind mit wenigen Ausnahmen seit 1991 pro Jahr mehr Menschen nach Deutschland zugewandert als abgewandert. Im Jahr 1991 etwa sind insgesamt gut 600.000 Personen mehr nach Deutschland zugezogen als aus Deutschland fortgezogen. Diese sogenannte Nettozuwanderung lag im Jahr 2024 bei gut 430.000 Personen. Eine besonders hohe Nettozuwanderung war in den Jahren 2015 und 2016 wegen des Bürgerkriegs in Syrien sowie im Jahr 2022 als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine zu beobachten.

Im vergangenen Jahr kamen in Deutschland 677.117 Kinder zur Welt, wie die Statistiker weiter meldeten. Das waren 228.558 weniger als im Jahr 1990. Die häufig als Geburtenrate bezeichnete zusammengefasste Geburtenziffer sank im Jahr 2024 gegenüber 1990 um 7 Prozent von 1,45 auf 1,35 Kinder je Frau. Damit die Bevölkerung eines Landes - ohne Zuwanderung - nicht schrumpft, müssten in einem hoch entwickelten Land rein rechnerisch etwa 2,1 Kinder je Frau geboren werden.



Neitzel: "Verantwortung vor Gott" bei Bundeswehr zu handeln



Berlin (epd). Der Militärhistoriker Sönke Neitzel hat seine Forderung nach schnellen Reformen in der Bundeswehr für einen möglichen Verteidigungsfall unterstrichen. Es sei eine „Verantwortung vor Gott“, bei der Bundeswehr zu handeln, sagte der Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam am 4. September in einem Vortrag beim Sommerfest der Evangelischen Militärseelsorge in Berlin. Die Verantwortung gebe es gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die in einem Krieg kämpfen müssten.

Neitzel räumte ein, in der Bundeswehr sei in den vergangenen Jahren seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine viel passiert, es reiche aber nicht. Die Geschichte zeige, dass Armeen meist nur in Kriegen und durch Niederlagen gelernt hätten. Für ihn sei die Frage, ob „wir als Bundesrepublik Deutschland, als Westen, als Nato“ früher die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Krieg in der Ukraine zögen. „Wir sind auf dem besten Weg, das nicht zu tun“, sagte Neitzel.

„Behäbige Strukturen“

Der Historiker verwies auf in seinen Augen zu behäbige Strukturen in der Bundeswehr. Über 70 Jahre sei eine „Friedensbürokratie“ aufgebaut worden. Gebraucht werde heute aber eine schnelle und effiziente Armee. „Wir leben eben nicht mehr im Frieden“, sagte Neitzel, der nach eigenen Worten erstmals eingeladen war, in einer Kirche über seine Positionen zur „Zeitenwende“ zu sprechen.

Ausgerichtet wurde das Sommerfest an der Berliner Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche vom Militärbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bernhard Felmberg. Er sagte, die aktuellen Entwicklungen in der Landes- und Bündnisverteidigung forderten auch die Seelsorge heraus. Sie brächten die Seelsorge aber auch in dem Bestreben weiter, nah bei den Soldatinnen und Soldaten zu sein. Es sei aktuell leichter, Überholtes zur Seite zu legen und Neues zu entwickeln.

In der Bundeswehr gibt es mehr als 100 Dienststellen der evangelischen Militärseelsorge. Die Pfarrerinnen und Pfarrer leisten vor Ort Seelsorge und begleiten die Streitkräfte auch in Auslandseinsätze. Neben der evangelischen gibt es auch eine katholische und jüdische Militärseelsorge.



Reul-Vorstoß zur Kriminalstatistik: Skepsis in mehreren Bundesländern



Düsseldorf (epd). Der Vorstoß des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul (CDU) zur Erfassung von Mehrfach-Staatsangehörigkeiten bei Tatverdächtigen in der polizeilichen Kriminalstatistik stößt in mehreren anderen Bundesländern auf Skepsis. „Ich sehe überhaupt nicht, worin hier der Erkenntnisgewinn oder der Mehrwert für die Polizeiarbeit liegen soll“, sagte die niedersächsische Innenministerin Daniela Behrens (SPD) der Düsseldorfer „Rheinischen Post“ (2. September).

Ein Sprecher der Hamburger Behörde für Inneres sagte der Zeitung, grundsätzlich vertrete die Polizei Hamburg die Auffassung, dass die Erfassung von Daten der polizeilichen Kriminalstatistik bundesweit einheitlich erfolgen sollte. Der Vorschlag werde „fachlich zu prüfen sein, um eine Mehrfachzählung zu vermeiden und eine bundesweite Vergleichbarkeit weiterhin zu gewährleisten“. Auch die Senatsverwaltung für Inneres im schwarz-rot regierten Berlin äußerte sich zurückhaltend. „In Berlin werden Detailauswertungen mit dem Fokus der Ermittlung der Ursachen von Kriminalität und der Aufklärung von Straftaten durchgeführt“, sagte ein Sprecher dem Blatt.

Bayern: Interessanter Ansatz

Das bayerische Innenministerium sprach hingegen von einem interessanten Ansatz. „Sobald erste Ergebnisse aus dem Vorgehen in Nordrhein-Westfalen vorliegen, werden wir uns diese genauer anschauen“, sagte eine Sprecherin der „Rheinischen Post“. Aus dem Bundesinnenministerium hieß es dem Bericht zufolge, das Vorgehen von NRW sei „nachvollziehbar und sinnvoll“. Ein entsprechendes Vorgehen auf Bundesebene sei aber unwahrscheinlich: „Hierfür bedarf es einer konsensualen Entscheidung im Kreis aller Länder und des Bundes, was in der Vergangenheit bei anderen Kriterien teilweise erhebliche Zeit in Anspruch genommen hat“, zitierte die Zeitung eine Sprecherin.

Bislang werden in den Statistiken bundesweit Straftäter, die neben einem deutschen Pass auch eine zweite Staatsangehörigkeit haben, als Deutsche geführt. In der NRW-Kriminalitätsstatistik werden nun nach einem Erlass des Innenministeriums rückwirkend ab dem 1. Juli alle Staatsangehörigkeiten von Verdächtigen und Opfern ausgewiesen. Das Bundesland geht damit einen Sonderweg. Innenminister Reul begründete seinen Vorstoß damit, dass mehr Transparenz geschaffen werde.

Kritiker: Erlass schürt Ressentiments

Grüne und Linke kritisierten, der Erlass schüre Populismus und Ressentiments gegen Menschen mit ausländischen Wurzeln. Er bringe „keinerlei Erkenntnisgewinn für die Arbeit der Polizei und zahlt ein aufs Konto der völkisch denkenden AfD“, erklärte die innenpolitische Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion, Julia Höller, am Donnerstag. Menschen mit ausländischen Wurzeln würden zu „Deutschen zweiter Klasse“ gemacht. Am 14. September finden in Nordrhein-Westfalen Kommunalwahlen statt.



Bundeskabinett bringt Umsetzung von EU-Asylreform auf den Weg



Die Bundesregierung macht sich an die Umsetzung der EU-Asylreform. Innenminister Dobrindt sieht in seinem Gesetz aber auch Regelungen darüber hinaus vor, unter anderem für "Sekundärmigrationszentren", die bei Organisationen auf Kritik stoßen.

Berlin (epd). Die Bundesregierung hat die Umsetzung der EU-Asylreform in deutsches Recht auf den Weg gebracht. Das Bundeskabinett billigte am 3. September bei seiner Sitzung in Berlin einen entsprechenden Gesetzentwurf von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU). Deutschland gehe damit in der Migrationspolitik weiter voran, erklärte Dobrindt. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) sieht vor, dass über Asylanträge von Menschen mit geringer Bleibeperspektive künftig bereits an der EU-Außengrenze entschieden wird. In Deutschland muss das im Wesentlichen für Verfahren an Flughäfen umgesetzt werden.

Zusätzlich will Dobrindt mit dem Gesetzentwurf die Voraussetzungen dafür schaffen, dass mehr Flüchtlinge, für die ein anderer EU-Staat zuständig ist, in gesonderten Einrichtungen untergebracht werden. Damit wird das Ziel verfolgt, die Asylbewerber schneller in diese Staaten zurückzuführen. In Brandenburg und Hamburg gibt es bereits sogenannte Dublin-Zentren, das Innenministerium sprach am Mittwoch von „Sekundärmigrationszentren“.

GEAS-Reform muss bis Mitte 2026 umgesetzt werden

Auch die anderen Bundesländer können auf der Grundlage der Regelung dann künftig ähnliche Einrichtungen einführen. Sie sind keine Vorgabe der EU-Asylreform, haben auf die Asylzahlen in Deutschland aber voraussichtlich deutlich mehr Auswirkung. Die allermeisten Flüchtlinge kommen über eine der EU-Binnengrenzen in die Bundesrepublik, über eine deutsche EU-Außengrenze dagegen verhältnismäßig wenige Menschen. Rücküberstellungen in andere EU-Staaten finden bislang nur in verhältnismäßig geringer Zahl statt.

Die EU-Mitgliedstaaten müssen die GEAS-Reform bis Mitte 2026 umsetzen. Dobrindt strebt an, dass Teile der deutschen Umsetzung bereits früher in Kraft treten, um in Form von Politprojekten Erfahrungen zu sammeln. Die EU-Asylreform, die auch vorsieht, dass Schutzsuchende künftig fairer auf die Mitgliedstaaten verteilt werden, wird aufgrund der vorgesehenen Grenzverfahren von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen kritisch gesehen. Beispielsweise müssen auch Minderjährige in den Grenzverfahren festgehalten werden, es sei denn, sie kommen ohne Begleitung Erwachsener an der EU-Außengrenze an. Das gleiche gilt nach Dobrindts Plänen auch für die Einrichtungen für Dublin-Fälle.

Kritik von Kinderrechtsorganisationen

Kinderrechtsorganisationen übten vor diesem Hintergrund deutliche Kritik an den Plänen. „Kinder gehören nicht in Haft oder Aufnahmeeinrichtungen ohne ausreichende Freiräume“, sagte der Vorstandssprecher von Terre des Hommes, Joshua Hofert. Die geplanten Regelungen gefährdeten das Kindeswohl, erklärte die Organisation „Save the Children“. Demgegenüber erklärte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Natalie Pawlik (SPD), sie habe sich in den regierungsinternen Verhandlungen dafür stark gemacht, dass die Rechte von besonders schutzbedürftigen Geflüchteten wie Familien, Kindern und unbegleiteten Minderjährigen gewahrt würden.

Pro Asyl bezeichnete die Gesetzespläne als „harte Umsetzung“ der GEAS-Reform und kritisierte vor allem die Pläne für Aufnahmeeinrichtungen für Dublin-Fälle. Praktisch gehe es „um zumindest zum Teil geschlossene Zentren, in denen sich eine Vielzahl der in Deutschland ankommenden Schutzsuchenden aufhalten müssten“, sagte Wiebke Judith von der Flüchtlingsrechtsorganisation. Kritik kam auch von den Linken. Man werde gegen die Pläne protestieren, „sowohl im Parlament als auch auf der Straße“, kündigte die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger an.

Der Gesetzentwurf von Dobrindt enthält weitere über die GEAS-Umsetzung hinaus Änderungen im deutschen Asylrecht. Dazu zählt die Ausweitung der Möglichkeiten für Einschränkungen bei Sozialleistungen und auf der anderen Seite ein Abbau der Hürden für den Zugang von Asylbewerbern zum Arbeitsmarkt. Ihnen muss Ministeriumsangaben zufolge künftig sechs Monate nach Asylantragstellung die Annahme einer Stelle ermöglicht werden, auch wenn der Asylantrag noch nicht entschieden ist, die Schuld dafür aber nicht bei ihnen liegt. Der Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge soll grundsätzlich schon nach drei Monaten erlaubt werden.



Acht Afghanen trotz deutscher Aufnahmezusage aus Pakistan abgeschoben



Pakistanische Sicherheitsbehörden haben trotz deutscher Aufnahmezusagen erneut Afghanen festgenommen und teilweise abgeschoben. Dies geschah nur wenige Tage nach der Ankündigung eines zwischen Deutschland und Pakistan vereinbarten Abschiebestopps.

Berlin (epd). Trotz deutscher Aufnahmezusage haben pakistanische Sicherheitsbehörden am Dienstag und Mittwoch erneut Menschen aus Afghanistan festgenommen. Kabul Luftbrücke sind 22 Fälle bekannt, wie die Organisation am 4. September mitteilte. Acht Personen seien bereits nach Afghanistan abgeschoben worden.

Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, dass seit Beginn der Woche eine niedrige zweistellige Zahl afghanischer Staatsbürger in Pakistan festgenommen wurde. Zudem seien einzelne Personen nach Afghanistan abgeschoben worden. Am Mittwoch hatte ein Sprecher des Außenamtes gesagt, dass es sich dabei um eine Lage handele, „die sich aktuell noch weiterentwickelt“. Die Gründe für die neuerlichen Festnahmen sind dem Ministerium demnach nicht bekannt.

Die erneuten Razzien erfolgen nur wenige Tage, nachdem das Auswärtige Amt verkündet hatte, Außenminister Johann Wadephul (CDU) habe sich mit seinem pakistanischen Amtskollegen auf einen Abschiebestopp für in Pakistan lebende Afghaninnen und Afghanen bis Jahresende verständigt. Die Durchsuchungen der pakistanischen Sicherheitsbehörden erfolgten Kabul Luftbrücke zufolge in Unterbringungen in der Hauptstadt Islamabad, die die im Bundesauftrag tätige Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) betreibt.

Noch 2.300 Aufnahmezusagen

Im August waren mehr als 200 Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage für Deutschland aus Pakistan in ihr Herkunftsland abgeschoben worden. Laut Kabul Luftbrücke befinden sich derzeit 218 Personen in Afghanistan. Die Organisation kritisiert die Bundesregierung: Diese lasse Menschen im Stich, die auf ihre Aufforderung nach Pakistan ausgereist seien „und dort über Monate oder Jahre auf ein Visum gewartet haben“, erklärte Sprecherin Eva Beyer. Nun seien die Menschen genau dem Regime ausgeliefert, vor dem sie Schutz gesucht hätten.

In der Region befinden sich noch rund 2.300 Afghaninnen und Afghanen, die von der vorherigen Bundesregierung Aufnahmezusagen erhalten hatten, weil sie unter dem Regime der Taliban Verfolgung befürchten müssen. Dabei handelt es sich um lokale Mitarbeiter von Bundeswehr, Polizei oder Ministerien, aber auch um Menschenrechtsaktivisten und Anwälte. Die neue Bundesregierung stoppte die Aufnahmen zunächst. Die Koalition aus Union und SPD hat vereinbart, freiwillige Aufnahmeprogramme „soweit wie möglich“ zu beenden.

Zuletzt klagten mehrere Betroffene erfolgreich darauf, dennoch nach Deutschland kommen zu können. So landeten am vergangenen Montag 47 Personen in Hannover - laut Kabul Luftbrücke zehn Familien (20 Frauen, 8 Männer und 19 Kinder). Unter den Hauptantragstellern sind eine Ärztin, die für das Militär gearbeitet hat, ein bekannter Regimekritiker und Schriftsteller, eine Wissenschaftlerin und eine Karate-Kämpferin, die Afghanistan früher international repräsentierte.



Angriff auf "Ocean Viking": Seenotretter stellen Anzeige in Italien



Berlin (epd). Knapp zwei Wochen nach dem Angriff auf die „Ocean Viking“ durch die libysche Küstenwache strebt die Seenotrettungsorganisation SOS Méditerranée eine juristische Aufarbeitung an. Bei der italienischen Staatsanwaltschaft sei eine Strafanzeige wegen versuchten mehrfachen Mordes, versuchten Schiffbruchs und Sachbeschädigung an einem Schiff eingereicht worden, teilte SOS Méditerranée am 5. September in Berlin mit. Dies sei lediglich der erste Schritt einer „Reihe rechtlicher Maßnahmen“, um sowohl die Täter als auch die Verantwortlichen im Hintergrund zu Rechenschaft zu ziehen, hieß es weiter.

Die „Ocean Viking“ war den Seenotrettern zufolge am 24. August von der libyschen Küstenwache in internationalen Gewässern beschossen worden. Während des Angriffs waren außer der Crew 87 Flüchtlinge und Migranten an Bord, die aus Seenot gerettet worden waren. Laut SOS Méditerranée wurden nach der Attacke mehr als 100 Einschusslöcher gefunden, davon einige auf Kopfhöhe auf der Schiffsbrücke. Verletzt oder getötet wurde niemand. Das bei dem Angriff eingesetzte Corrubia-Patrouillenboot wurde nach Angaben von SOS Méditerranée im Jahr 2023 von Italien im Rahmen eines EU-finanzierten Programms an die Libyer übergeben.

„Muss ein Weckruf sein“

„Dieser Angriff muss ein Weckruf sein“, sagte Bianca Benvenuti, Leiterin der internationalen Öffentlichkeitsarbeit von SOS Méditerranée. Helferinnen und Helfer sowie Überlebende dürften auf See nicht schutzlos bleiben, „während europäische Staaten weiterhin die Grenzkontrolle an eine libysche Behörde auslagern, die wiederholt ihre Missachtung des Völkerrechts bewiesen hat“.

Libyen ist ein wichtiges Transitland für Geflüchtete und Migranten auf dem Weg nach Europa. Die EU kooperiert zur Migrationsabwehr seit Jahren mit der Küstenwache des nordafrikanischen Landes. Ihr wurden wiederholt Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen.

Die Staatsanwaltschaft im sizilianischen Syrakus hatte bereits Ende August, unabhängig von der Strafanzeige, eine Untersuchung eingeleitet. Die EU-Kommission nahm nach Angaben eines Sprechers zwecks Aufklärung Kontakt mit den libyschen Behörden auf.



Ringen um jeden Einzelfall




Gerichtssaal (Symbolbild)
epd-bild/Heike Lyding
Vier Jahre nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan warten in der Region noch rund 2.300 Menschen, denen Deutschland eine Perspektive fernab des radikal-islamischen Regimes versprochen hatte. Warum und wie sind sie zum Politikum geworden?

Berlin (epd). 45 von noch rund 2.300 gefährdeten Afghaninnen und Afghanen, denen Deutschland eine Aufnahme zugesagt hat, durften am 1. September nach teilweise jahrelangem Warten einreisen. Seit die neue Koalition aus Union und SPD regiert, werden die Aufnahmen von Menschen, die unter den Taliban Verfolgung fürchten müssen, infrage gestellt. Um jeden Einzelfall wird gerungen, auch vor Gerichten. Darum geht es:

Was ist der Grund für die Aufnahmen?

Als im Sommer 2021 die internationalen Streitkräfte Afghanistan nach 20-jährigem Militäreinsatz verließen, eroberten die radikal-islamischen Taliban das Land zurück. Zehntausende Menschen, die für die Bundeswehr oder deutsche Organisationen gearbeitet oder sich für Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit eingesetzt hatten, verloren ihre Perspektive und mussten Verfolgung fürchten. Besonders galt das für Frauen. Aus Verantwortung für diese Menschen versprachen die damalige Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die darauffolgende Ampel-Regierung, gefährdete Personen aufzunehmen.

Wie viele Menschen wurden aufgenommen?

Bis zum Frühjahr kamen nach Angaben des Auswärtigen Amts mehr als 36.000 Afghaninnen und Afghanen, die allermeisten davon direkt nach der Rückeroberung der Islamisten im Sommer 2021. Gekommen sind sie über verschiedene Programme: Bereits seit 2013 gibt es das Ortskräfteverfahren für ehemalige lokale Mitarbeiter von Bundeswehr, Polizei, Ministerien und deutschen Organisationen.

Viele Menschen kamen ab 2021 zudem über die sogenannte Menschenrechtsliste, auch Überbrückungsliste genannt. Schutz fanden darüber Menschen, die sich für das Ziel der westlichen Staaten, in Afghanistan einen demokratischen Rechtsstaat zu errichten, eingesetzt hatten: Anwälte, Journalistinnen, Menschenrechtsaktivisten, Polizistinnen, Kulturschaffende oder Lehrerinnen. 2022 hatte die Ampel-Regierung ein zentrales Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Afghaninnen und Afghanen aufgelegt, über das bis zu 1.000 Menschen im Monat kommen sollten.

Um wie viele Menschen geht es jetzt noch?

Nach Angaben des Auswärtigen Amts warten in der Region noch rund 2.300 Menschen mit Aufnahmezusage aus Deutschland darauf, auch tatsächlich ein Visum zu bekommen. Die allermeisten davon sind in Pakistan, müssen dort wegen abgelaufener Aufenthaltstitel aber inzwischen fürchten, nach Afghanistan zurückgebracht zu werden. Mehr als 200 Menschen mit Zusage aus Deutschland wurden kürzlich nach Afghanistan abgeschoben.

Warum will die jetzige Bundesregierung die Aufnahmen stoppen?

Union und SPD wollen die Fluchtzuwanderung nach Deutschland weiter begrenzen. Im Stopp freiwilliger Aufnahmeprogramme sehen sie ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen.

Warum geht das nicht so einfach?

Mit Unterstützung der Organisation „Kabul Luftbrücke“ haben Dutzende Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage aus Berlin geklagt und vor dem Verwaltungsgericht auch Recht bekommen. Das Gericht sah Deutschland in der Pflicht, ihnen Visa auszustellen. Auf diese Urteile gehen die am Montag erfolgten Einreisen zurück.

Müssen jetzt alle Betroffenen klagen?

Das bleibt offen. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hat wiederholt betont, jeden Einzelfall daraufhin prüfen zu lassen, ob die Aufnahmezusage rechtsverbindlich ist, also nicht zurückgenommen werden darf. Ein am Montag veröffentlichter Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg zeigt, dass es in den verschiedenen Programmen formelle Unterschiede gibt. Zumindest im Ortskräfteprogramm und bei der sogenannten Überbrückungsliste begründen die Zusagen demnach allein noch keinen Anspruch auf ein Visum für Deutschland.

Sieht es die ganze Bundesregierung wie Dobrindt?

Offenen Streit gibt es nicht, aber offenbar durchaus andere Ansichten. Außenminister Johann Wadephul (CDU) hat sich nach Angaben des Außenamts bei der pakistanischen Regierung dafür eingesetzt, dass die nach Afghanistan Abgeschobenen wieder zurückkommen können und zunächst keine weiteren Abschiebungen mehr vorgenommen werden. Bis Jahresende soll die Bundesregierung jetzt Zeit haben, eine Lösung für die Menschen zu finden, denen sie eine Perspektive versprochen hat. Auch die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Natalie Pawlik (SPD), erklärte am Montag, man dürfe die Menschen nicht im Stich lassen.

Von Corinna Buschow (epd)


Polen: Flüchtlingshelfer vor Gericht




Kundgebung vor dem Bezirksgericht Bialystok
epd-bild/Moritz Elliesen
In Polen steht eine Gruppe von Flüchtlingshelfern vor Gericht. Ihnen wird die Unterstützung einer irakischen Familie und eines Ägypters zum Vorwurf gemacht. Für Aktivistinnen zielt der Prozess auf die Hilfe an der Grenze zu Belarus insgesamt.

Bialystok (epd). Mit Trommeln, Sprechchören und Transparenten machen sie auf ihr Anliegen aufmerksam. Rund 70 Menschen haben sich vor dem Bezirksgericht im ostpolnischen Bialystok versammelt. Sie sind hier, um eine Gruppe von Flüchtlingshelfern zu unterstützen.

Drinnen, im Gerichtssaal IV, sitzen vier der fünf Anklagten auf grünen Holzbänken. Das Medieninteresse ist groß, mehrere Fernsehteams haben sich mit ihren Kameras in dem weitläufigen Raum aufgebaut.

Die unter dem Namen „Hajnowka 5“ bekannten Angeklagten - benannt nach der Stadt, in der die Anklage erhoben wurde - müssen sich an diesem Dienstag wegen Beihilfe zum unrechtmäßigen Aufenthalt in Polen vor Gericht verantworten. Ihnen wird nach Angaben der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte, die den Fall begleitet, vorgeworfen, im März 2022 eine irakische Familie und einen ägyptischen Staatsangehörigen in der Grenzregion zu Belarus mit Lebensmitteln versorgt und sie ins Landesinnere gefahren zu haben. Es droht eine Haftstrafe.

2021 Krise an der Grenze

Hintergrund des Verfahrens ist die Krise an der Grenze zu Belarus. 2021 lockte das Regime von Machthaber Alexander Lukaschenko Geflüchtete und Migranten aus aller Welt mit dem Versprechen an, über Belarus weiter nach Europa zu gelangen. Tausende Menschen machten sich damals auf den Weg, die Zahl der Grenzübertritte ging stark nach oben.

Die polnische Regierung reagierte mit Abschottung, baute die Grenzanlage aus und schränkte den Zugang für Journalisten sowie Hilfsorganisationen in dem Grenzgebiet zwischenzeitlich ein. Die Notlage von Geflüchteten, die in dem Wald zwischen Polen und Belarus gestrandet waren, sorgte eine kurze Zeit lang für Schlagzeilen. Dann wurde es ruhiger, zumindest in den internationalen Medien.

Dabei kommen auch heute noch Geflüchtete und Migranten über die Grenze, wenn auch weniger, so berichten es Helferinnen und Helfer. Das polnische Innenministerium registrierte seit Beginn des Jahres bis zum 22. April noch 5.639 versuchte Grenzübertritte, ein Rückgang um 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Vorwurf der illegalen Pushbacks

Laut Menschenrechtlern gehen die Sicherheitskräfte bei der Grenzsicherung teils brutal gegen Geflüchtete vor. „Human Rights Watch“ warf Grenz- und Polizeibeamten in einem Bericht von Dezember den Einsatz von Gewalt sowie illegale Pushbacks vor. Aktivistinnen und Aktivisten in der Grenzregion berichten ebenfalls von solchen Pushbacks, also Abschiebungen ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen.

Ein Netzwerk von Engagierten will helfen, etwa indem sie Geflüchteten juristisch beistehen oder sie in Notlagen versorgen. Eine von ihnen ist Aleksandra Chrzanowska, die auch zur Demonstration vor dem Gerichtsgebäude gekommen ist. Für die 45-Jährige zielt der Prozess gegen die „Hajnowka 5“ auf die Solidarität mit den Geflüchteten insgesamt. „Das Verfahren richtet sich gegen alle Menschen, die humanitär in der Grenzregion aktiv sind“, sagt sie.

Eigentlich lebt Chrzanowska in der Hauptstadt Warschau, aber seit 2021 verbringe sie viel Zeit an der Grenze, erzählt sie. Dabei würden sie und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter seit Beginn der Krise als Schmuggler gebrandmarkt, kritisiert die Aktivistin. Daran habe sich auch unter der Regierung des liberal-konservativen Ministerpräsidenten Donald Tusk nichts geändert.

In dem Prozess gegen die „Hajnowka 5“ war für Dienstag eigentlich ein Urteil erwartet worden. Doch die Entscheidung wurde verschoben. Die nächste Sitzung vor dem Gericht in Bialystok, nicht allzu weit entfernt von der Grenze zu Belarus, ist für den 8. September angesetzt.

Von Moritz Elliesen (epd)


"Brauer haben unheimlich viel gemacht"




Gebinde mit alkoholfreiem Bier im Supermarktregal
epd-bild/Mika Preller-Pieroth
Sie heißen "Fun", "Zero", "Zzzisch" oder "Frei-Bier": Biere von süß bis herb für fast jeden Geschmack gibt es inzwischen alkoholfrei: Der Markt erreicht hohe Zuwachsraten. An den Stammtischen oder bei der Wiesn fließt noch wenig Promilleloses.

Spalt, München (epd). Da hatte der Osten die Nase vorn: Das erste alkoholfreie Bier in Deutschland braute der Volkseigene Betrieb (VEB) Engelhardt-Bräu in Ostberlin 1972. Die Regierung wollte den Autofahrern das „Aubi“ schmackhaft machen, weil sich auf den Straßen der Republik immer mehr Unfälle ereigneten, bei denen die Fahrer unter Alkoholeinfluss standen, erzählt der Professor für Brau- und Getränketechnologie an der Technischen Universität München (TUM), Thomas Becker. Das erste alkoholfreie Bier auf dem Westmarkt war Clausthaler in den 80er Jahren.

Anfangs waren solche Getränke „malzig“, „papieren“ oder „leer“, sagt der Geschäftsführer der einzigen deutschen kommunalen Brauerei, der Stadtbrauerei Spalt (Landkreis Roth), Udo Weingart. Auch heute beherrschten „nicht so viele“ die Kunst, ein alkoholfreies Bier zu machen. Sein Unternehmen stellt mittlerweile ein Weißbier, ein Helles und ein Pils ohne Promille her. „Wir verzeichnen in dem Segment zweistellige Zuwachsraten.“

Alkoholfreies Bier bleibt Nische

Die Deutschen trinken so viel alkoholfreies Bier wie nie zuvor. Im vergangenen Jahr konsumierten sie knapp 579 Millionen Liter. Die hergestellte Menge hat sich damit in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilt. Die Produktion von Bier mit Alkohol ist in den vergangenen zehn Jahren um 14 Prozent zurückgegangen.

Allerdings bleibt Alkoholfreies eine Nische. Es wird immer noch deutlich mehr Bier mit Alkohol produziert und getrunken: Im Jahr 2024 stellten die Brauereien gut 7,2 Milliarden Liter alkoholhaltiges Bier her.

Vermarktung als isotonisches Sportgetränk

Ist der Alkohol im Bier vielleicht sogar verzichtbar? „Ein Brauer würde niemals sagen, dass der Alkohol im Bier überflüssig ist, der Alkohol ist ein Geschmacksträger“ sagt der Spalter Braumeister Stefan Herz und vergleicht ihn mit dem Fett am Schweinebraten. Er wehrt sich aber nicht gegen den erstaunlichen Erfolg seines Biers ohne Alkohol: „Wenn man ein Bier von mir mag, bin ich einverstanden damit, auch wenn das das Alkoholfreie ist.“

„Bis vor zehn Jahren haben die Brauer das alkoholfreie Bier stiefmütterlich behandelt, für sie war es ein Nebenprodukt“, erklärt Professor Becker. Ihre Produkte „waren mastig, brotig oder süß und nicht ausgewogen“. Aber spätestens seit die große Brauerei in Erding ihr alkoholfreies Bier als isotonisches Getränk für Sportler vermarktet, „merkten viele Braumeister, ich muss mir das mal genauer anschauen“.

Alkohol wird nachträglich entzogen

Seither investiert man mehr Grips, „um das Bier besser zu machen“, lobt Becker die Branche. Man habe nicht mehr versucht, das normale Bier nachzuahmen, sondern spezielle Biere gebraut, denen in weiteren Verfahren der Alkohol wieder entzogen wird. „Die Brauer haben da unheimlich viel gemacht.“ Beim Weißbier sei das leicht gewesen, weil obergäriges Bier durch die Hefe ein prägnantes Aroma habe, aber untergäriges Bier, also Helles oder Pils, verzeihe ein „Fehlaroma“ nicht so leicht.

In die Gläser der Stammtischgäste in den Wirtschaften in und um Spalt werde weitgehend alkoholisches Bier gezapft, stellt auch Braumeister Herz fest. Der Stammtisch sei seiner Meinung nach der falsche Platz für alkoholfreies Bier. Hierher gehöre „Geselligkeit und ein traditionelles Bier“.

Von Jutta Olschewski (epd)


Sterneninsel Spiekeroog: Das All zum Greifen nah




Bronzefigur "Der Utkieker" vor dem Sternenhimmel auf Spiekeroog
epd-bild/Dieter Sell
Unter den Lichtglocken der Städte ist der nächtliche Sternenhimmel kaum noch zu sehen. Das ist auf Spiekeroog bei klarem Wetter und im Herbst anders. Die Nordseeinsel gilt als einer der dunkelsten Orte Deutschlands.

Spiekeroog (epd). Es ist ein ganz besonderer Spaziergang, den sich an diesem Abend mehr als 20 Frauen und Männer vorgenommen haben. Denn wer geht schon in die Dunkelheit? Doch genau darum geht es heute: Lange nach Sonnenuntergang startet die Gruppe in die Dünen von Spiekeroog. Sie will den Sternenhimmel über der Insel erleben. Mit jedem Schritt Richtung Badestrand wird es dunkler, der Gang vorsichtiger, tastender. „Wir lassen das Dorf und die Lichter der Zivilisation hinter uns“, ermutigt Dark-Sky-Guide Jonathan Binder, in das Dunkel der Nacht im ostfriesischen Wattenmeer einzutauchen.

„Nach einer knappen halben Stunde haben sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt“, beruhigt der Sternenexperte. Eine halbe Stunde vor Mitternacht werden alle Laternen auf der Insel abgeschaltet. Dann ist es zappenduster auf dem ersten Sternenspaziergang der Herbstsaison, den Binder nach der Sommerpause anbietet.

„Einer der dunkelsten Orte Deutschlands“

Dass der Umweltpädagoge ausgerechnet hier unterwegs ist, hat seinen Grund. „Spiekeroog ist nachts einer der dunkelsten Orte Deutschlands“, sagt der Physiker und Astronom Andreas Hänel aus Georgsmarienhütte bei Osnabrück. Der Experte für Lichtverschmutzung in der bundesdeutschen Vereinigung der Sternfreunde hatte im April 2019 während einer nächtlichen Exkursion am Strand und in den Dünen die Helligkeit am Inselhimmel untersucht - und war überrascht: „Das waren die bis dahin weltweit dunkelsten Werte, die ich gemessen habe.“

Rekordverdächtige Dunkelheit also. Mit Unterstützung vieler Insulaner gelang es, Spiekeroog von der US-amerikanischen Dark-Sky Association (IDA) als „Dunkelort“ zertifizieren zu lassen. Das hat, wenn man so will, sogar Geschichte. Denn im Internat auf der Insel hat der Raketenpionier Wernher von Braun 1930 Abitur gemacht und als Schüler eine Sternwarte gebaut. Von Braun habe schon damals in einer Veröffentlichung vom Sternenhimmel über Spiekeroog geschwärmt, berichtet Hänel.

Grandioser Sternenhimmel über den Dünen

Seit August 2021 ist der Ort im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer offiziell IDA-„Sterneninsel“. Unter günstigen Bedingungen spannt sich hier ein grandioser Sternenhimmel über die Dünen. Dann ist mit bloßem Auge sogar das schimmernde Band der Milchstraße zu sehen. Ähnlich gute Bedingungen wie auf Spiekeroog dokumentiert DarkSky International an acht weiteren Orten in Deutschland, etwa auf Pellworm an der nordfriesischen Küste, im Westhavelland, in der Eifel und auf der bayerischen Winklmoos-Alm.

Auf dem Sternenspaziergang mit Jonathan Binder ist es zwischenzeitlich dunkel geworden, richtig dunkel. Nur die Sterne machen sich rar, Wolken ziehen über das Firmament. Erst mit der Zeit lockern sie auf, geben den Blick auf den Nachthimmel frei, auf den Polarstern und Sternbilder wie den Großen Wagen. Die Gruppe ist begeistert, staunt über das funkelnde Himmelszelt. Das All scheint zum Greifen nah.

100 Milliarden Sterne

Zum Greifen nah? „Die Entfernungen da oben sind unvorstellbar groß“, sagt Binders Kollege Carsten Heithecker am Nachmittag vor dem Sternenspaziergang in einem Vortrag im Spiekerooger Nationalparkhaus Wittbülten. Er versucht aber doch, das Unfassbare fassbar zu machen. Heithecker hebt den rechten und den linken Arm, ballt die Hände zu Fäusten, einen Meter voneinander entfernt. „Wenn dieser Meter für den Abstand zwischen der Erde und der Sonne steht, dann wäre der unserem Sonnensystem nächstgelegene Stern Proxima Centauri 267 Kilometer entfernt“, erläutert er.

Noch verrückter wird es, wenn es um die Zahl der Sterne geht. „Unsere Galaxie, die Milchstraße, soll etwa 100 Milliarden Sterne haben, vielleicht auch mehr“, erklärt Heithecker. „Und es soll etwa 100 Milliarden Galaxien geben, mit insgesamt zehn Trilliarden Sternen, was einer 1 mit 22 Nullen entspricht.“

„Es heißt, es gebe mehr Sterne als Sandkörner auf der Erde“, verdeutlicht auf dem Sternenspaziergang Jonathan Binder. Ein Tal in den Dünen gilt als „Dunkelort“ der Insel. Nicht weit entfernt bietet der „Sternenkieker-Ort“ zwei Holzliegen, von denen sich das Firmament entspannt beobachten lässt.

Tiere und Pflanzen benötigen Hell-Dunkel-Rhythmus

Mit seiner Gruppe ist Binder mittlerweile am „Utkieker“ angekommen. Die Bronzefigur des Kölner Bildhauers Hannes Helmke auf der Kuppe einer Aussichtsdüne ist „dem unermüdlichen Wächter über das Kleinod Spiekeroog“ gewidmet und markiert gewissermaßen den Gegenpol zum Dunkelort, den „Lichtort“. Von hier aus ist zu sehen, wie hell selbst die dunkelste Nacht noch sein kann. Dafür sorgen die städtische Lichtglocke über Wilhelmshaven, 40 Kilometer entfernt, Positionslichter von Schiffen, rot blinkende Warnlichter von Windkraftanlagen auf dem Festland und sogar das Signal des 50 Kilometer entfernten Leuchtturms auf Helgoland.

Das künstliche Licht in der Nacht schadet dem ökologischen System. Denn Tiere und Pflanzen benötigen einen Hell-Dunkel-Rhythmus. „Umso wichtiger sind international anerkannte Regionen wie Spiekeroog, die sich verpflichtet haben, das künstliche Licht auf ein notwendiges Maß zu reduzieren“, betont Physiker und Astronom Andreas Hänel. Dazu wurden auf der Insel unter anderem Leuchten neu ausgerichtet und deren Licht gedämpft.

Mittlerweile gibt es im gesamten Nordseeraum ein EU-gefördertes Projekt, das von der französischen Küste in Brest über die Niederlande und Deutschland bis nach Aarhus in Dänemark reicht und übermäßigen Lichteinsatz weiter zurückdrängen will. „Dringend nötig“, meint Hänel und freut sich: „Es geht weiter.“

Von Dieter Sell (epd)


"Hunde sprechen mit dem ganzen Körper"




"So ist recht" - Hundesprache will gelernt sein.
epd-bild/Karen Miether
Die Vier-"F"-Regel und andere Tipps für ein gutes Miteinander von Mensch und Tier.

Hannover (epd). Oft sind auch klare Zeichen von Frauchen und Herrchen besser als viele Worte, sagt die Hundetrainerin und promovierte Tierärztin Sandra Bruns, die in Hannover eine Hundeschule und Praxis für Verhaltensmedizin hat. Profis wie sie raten außerdem zu Zurückhaltung, insbesondere gegenüber fremden Hunden. Über die „Vier-F-Regel“ und weitere hilfreiche Tipps:

Welche Kommandos sollte mein Hund kennen?

Wenn der Hund etwas richtig oder falsch macht, sollte das kommentiert werden, sagt Bruns. „Ich sollte ihn loben oder auch ihm etwas verbieten, fördernde und hemmende Signale geben können. In den Prüfungen und auch im Alltag ist es wichtig, dass ein Hund verweilen und auch mal warten kann. Er sollte im Kontakt zu seinem Halter bleiben, auch wenn zum Beispiel ein Reiter vorbeikommt. Und ich sollte ihn zurückrufen können, wenn er mal ausbüxt. Wichtiger als Worte ist dabei oft die Körpersprache.“

Wie setze ich denn die Körpersprache ein?

„Ich bringe mich in die richtige Position, trete vor den Hund und hebe die Hand hoch, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Dann fällt es ihm leichter, sich von anderen Dingen abzuwenden und auf mich zu achten. Unsere Sprache ist ja für den Hund eine Fremdsprache“, sagt die Expertin. „Er muss die Kommandos lernen, wie wir Vokabeln. Da hilft ihm die Körpersprache, die seiner eigenen Ausdrucksweise näher ist.“

Wie lerne ich denn, die Körpersprache des Hundes zu lesen?

„Durch Aufmerksamkeit, durch Hinsehen, nicht indem ich mit dem Handy vor der Nase Gassi gehe“, erklärt Bruns. „Wichtig ist es, zu sehen, wenn der Hund Angst hat. Das erkenne ich in der Regel an zurückgelegten Ohren, einer geduckten Haltung, einer tief gehaltenen Rute und dadurch, dass der Hund ausweicht. Wenn ich das wahrnehme, kann ich meinem Hund dabei helfen, mit den für ihn bedrohlichen Situationen besser umzugehen.“

Bruns nimmt auch Wesensprüfungen bei Hunden ab, die durch Beißvorfälle auffällig geworden sind. Sie weiß, es muss nicht erst so weit kommen, dass ein Hund sich angriffsbereit macht. Denn es gibt Botschaften, die vorangehen. Der Hund spannt die Muskeln an, fixiert sein Gegenüber. „Ich sollte so etwas schon im Vorfeld erkennen, um gegenzusteuern“, sagt die Tierärztin. „Das ist das A und O beim Führen von Hunden.“

Schwanzwedeln versteht aber ja wohl jeder, der Hund freut sich, oder?

Das einzelne Signal hat noch nicht viel zu sagen, erläutert die Expertin. Es hängt von der Situation ab. Will ein Hund beschwichtigen, wedelt er zum Beispiel mit tief gehaltener Rute. Manches Mal schwingt der Schwanz nicht nur vor Freude, sondern auch aus Aufgeregtheit. Beim Bedrohen ist dann die angespannt wedelnde Rute im Spiel, waagerecht oder hochgehalten.

Darf ich denn einen fremden Hund überhaupt streicheln?

Das sollte man nicht tun. Zu einem vernünftigen Umgang gehört es, dass man zumindest den Halter erst einmal fragt, ob der Hund gestreichelt werden darf. „Wenn das möglich ist, sollte ich aber nicht einfach von oben auf den Kopf des Hundes fassen. Das Risiko, dass der Hund das als Bedrohung empfindet und nach der Hand schnappt, ist zu groß.“

„Ich sollte mich vielmehr auf Augenhöhe begeben und den Hund keinesfalls anstarren“, sagt Sandra Bruns. „Ich sollte warten, dass der Hund von selbst kommt, dass auch er Interesse an der Kontaktaufnahme zeigt. Dann erst sollten die Hände ins Spiel kommen.“ Die meisten Hunde reagieren positiv, wenn man sie dann an der Vorderbrust unterm Hals streichelt. Ein Leckerli kann zusätzlich das Eis brechen.

Wenn ich aber gar keinen Kontakt will und Angst vor Hunden habe?

Instinktiv reagieren viele Menschen falsch, wenn sie ängstlich an Hunden vorbeigehen. Sie sind selbst angespannt und gucken den Hund direkt an, um ihn im Blick zu behalten. „Das interpretieren die Hunde jedoch auf ihre Art als einen möglichen Angriff“, sagt Bruns. „Besser ist es, Ruhe zu bewahren. Auch wenn ein Hund plötzlich um die Ecke kommt, ist es keine gute Idee, dann hektisch zur Seite zu springen und die Arme hochzureißen.“

Die Halter sollten dazu beitragen, die Situation zu lösen, indem sie den Hund an der abgewandten Seite vorbeiführen. „Sie nehmen dann dem Hund ein vermeintliches Beschützer-Amt ab“, erläutert die Tierärztin. „Und es ist natürlich gut, wenn der Hund so trainiert ist, dass er auf mich und mein Kommando achtet und alles andere unwichtig findet.“

Was hat es mit der Vier-F-Regel zum Verhalten von Hunden auf sich?

Hunde haben in aller Regel vier mögliche Strategien, mit Konflikten umzugehen, erläutert Bruns. Abgeleitet aus dem Englischen, lässt sich das mit vier Begriffen beschreiben. Sie erstarren (freeze), flüchten (flight), drohen oder kämpfen (fight) oder versuchen zu beschwichtigen, indem sie zum Beispiel die Hände ablecken und ihren Charme spielen lassen (flirt). Dabei kann die Strategie auch schnell wechseln, ein Hund flirtet und erstarrt dann. Manchmal schlägt ein Flirt gar in einen Angriff um. „Das verstehen viele Menschen nicht“, sagt Bruns. Und erläutert: „Der Hund versucht dann, eine für ihn schwierige Situation auf eine andere Art zu bewältigen.“

epd video: Hundesprache

Von Karen Miether (epd)



Soziales

Preußischer Prunk in leichter Sprache




Lila Riedel (Mitte) bei einer Führung im Schloss Neue Kammern im Park Sanssouci in Potsdam
epd-bild/Christian Ditsch
Die Schlösser im Potsdamer Unesco-Weltkulturerbe gehören zu den großen touristischen Orten in Brandenburg. Hunderttausende kommen jedes Jahr. In einem Schloss wird auch ein ungewöhnlicher Blick auf die Kunst möglich gemacht.

Potsdam (epd). Vergoldete Wandreliefs mit Szenen aus den Metamorphosen des römischen Dichters Ovid, ein mit dem Schmuckstein Jaspis ausgekleideter Saal, eine Venus als großes Deckengemälde: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließ König Friedrich der Große in Potsdam das Orangeriegebäude neben Schloss Sanssouci zu einem Gästeschloss umgestalten. Die Neuen Kammern mit Festsälen und luxuriösen Wohn- und Schlafräumen wurden zum Spätwerk des preußischen Rokoko. Heute bieten dort Menschen mit Behinderung ganz besondere Führungen durch die Schätze an.

Das Projekt in sogenannter „leichter Sprache“ wurde von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten ins Leben gerufen, um Inklusion zu fördern. Bildung und Selbstvertrauen von Menschen mit Handicap stünden dabei im Mittelpunkt, erzählt Nadine Löffler von der Schlösserstiftung. Zunächst seien Beschäftigte mit Beeinträchtigungen aus den Potsdamer Oberlin-Werkstätten der Diakonie eingeladen worden, aufzuschreiben, was ihnen in den Neuen Kammern am besten gefällt. Daraus wurden die Texte entwickelt, dann wurde geübt, und dann begannen die öffentlichen Führungen.

„Wir wollen zeigen, was uns dort besonders gut gefallen hat“

Drei Frauen und ein Mann aus den Oberlin-Werkstätten sind an diesem Tag zum Schloss gekommen, um dort gemeinsam als Guides durch die Räume zu führen. Lila Riedel ist eine von ihnen. „Wir wollen zeigen, was uns dort besonders gut gefallen hat“, sagt die zierliche Frau, die draußen wie drinnen ihren Strohhut trägt: „Und wir erzählen auch ein bisschen was zur Geschichte.“

Ihr Publikum sind diesmal Kolleginnen und Kollegen aus den Werkstätten, die einen Ausflug machen. Lila Riedel erklärt der Gruppe kurz die historischen Umstände. „Da gab es noch keine Autos, keinen Strom, keine elektrischen Geräte“, erzählt sie. Dann geht es weiter zur Südfassade mit ihren weißen Marmorskulpturen und dann ins Schloss.

„Viele sind selbstbewusster geworden“

In der Blauen Galerie übernimmt Maria Golnow. Sie hat sich die Kronleuchter zum Erklären ausgesucht. „In der Mitte ist ein Stern drin“, sagt sie: „Das gefällt mir besonders.“ Im Jaspissaal ist Daniel Tauchmann dran. „Den Raum finde ich schön wegen seiner rotbraunen Farben, das sieht aus wie ein Puzzle“, sagt er und erzählt noch etwas über den Stein Jaspis. Dann lenkt Ines Vogel die Blicke auf das Deckengemälde einer von kleinen Engeln umgebenen Venus: „Das Bild verbindet mich mit meiner Freundin.“

Axel Budzinski ist Sozialarbeiter in den Oberlin-Werkstätten und an dem Tag als Begleitung dabei. „Ich finde, das ist ein tolles Projekt“, sagt er. Ein wichtiges Ziel sei, Menschen ohne Beeinträchtigung näherzubringen, was Menschen mit Beeinträchtigung alles können. Die Beschäftigten der Werkstätten seien stolz auf ihre Leistungen, erzählt er: „Viele sind selbstbewusster geworden.“

Und sie haben ganz unterschiedliche Gründe, sich an den Schlossführungen zu beteiligen. „Ich bin kulturell interessiert, ich spreche gerne öffentlich, ich spiele auch Theater“, sagt Lila Riedel: „Und der Büroalltag ist nicht so spannend.“ Dort arbeitet sie in der Digitalisierung, einem der 13 Bereiche der Oberlin-Werkstätten. Daniel Tauchmann ist in der Metallwerkstatt beschäftigt. Die Führungen mache er, „weil es Spaß macht und weil es schön ist“, sagt er. Und Ines Vogel, die auch in der Digitalisierung arbeitet, sagt: „Ich mache die Führungen wegen dem Bild.“

Beitrag zum Abbau von Barrieren

Das Konzept, das Selbstvertrauen der Menschen aus den Werkstätten zu stärken und ihnen zugleich Bildung zu bieten, gehe auf, sagt Nadine Löffler: „Was der Erfolg für das Selbstbewusstsein bringt, das ist einfach grandios mitzuerleben.“ Der Generaldirektor der Schlösserstiftung, Christoph Martin Vogtherr, sieht die Führungen auch als Beitrag zum Abbau von Barrieren. „Die Schlösser und Gärten der Stiftung sind für alle da“, betont er: „Wir arbeiten darauf hin, dass die Leichte Sprache regulärer Teil unserer Angebote wird.“ Dies sei auch ein Wunsch vieler Gäste.

Die Führungen der Menschen mit Handicap in den Neuen Kammern gibt es seit 2023, auch wegen der Architektur. „Wir sind ein barrierefreies Schloss“, sagt Nadine Löffler. Das Interesse an den Touren wachse stetig, sagt sie: „Wir sind jetzt immer ausgebucht.“

epd video: Schlossführung in leichter Sprache

Von Yvonne Jennerjahn (epd)


Sozialbeiträge für Gutverdiener sollen steigen




Bärbel Bas (Archivbild)
epd-bild/Christian Ditsch
Laut einem Entwurf aus dem Bundesarbeitsministerium sollen Gutverdiener künftig mehr Sozialbeiträge zahlen. Der Vorschlag trifft auf Kritik.

Berlin (epd). Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) plant höhere Sozialbeiträge für Gutverdiener. Das geht aus einem Verordnungsentwurf des Arbeitsministeriums hervor, der sich noch in der Ressortabstimmung befindet und dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. Das bedeutet, dass diejenigen, die mehr verdienen, 2026 auf einen größeren Teil ihres Einkommens Renten- sowie Kranken- und Pflegekassenbeiträge zahlen müssten. Zuerst hatte das Nachrichtenmagazin „Politico“ darüber berichtet. Kritik an den Plänen kommt von Seiten der Union und dem BSW.

Wie aus dem Entwurf hervorgeht, soll sich die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung 2026 auf 8.450 Euro im Monat erhöhen (2025: 8.050 Euro/Monat).

Veränderungen sind ebenfalls für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung geplant: Aktuell beträgt hier die Beitragsbemessungsgrenze 5.512,50 Euro im Monat. Wie aus der Verordnung aus dem Arbeitsministerium hervorgeht, soll sie 2026 auf 5.812,50 Euro steigen. Die Beitragsbemessungsgrenze ist der Betrag, bis zu dem vom sozialversicherungspflichtigen Entgelt Beiträge für die verschiedenen Bereiche der Sozialversicherung berechnet und abgeführt werden.

An Lohnentwicklung orientiert

In der gesetzlichen Krankenversicherung steigt demzufolge auch die Versicherungspflichtgrenze auf 6.450 Euro im Monat; derzeit liegt sie bei 6.150 Euro monatlich. Die Versicherungspflichtgrenze (Jahresarbeitsentgeltgrenze) ist die Einkommensgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung, die Arbeitnehmer überschreiten müssen, um in die private Krankenversicherung zu wechseln.

Zudem heißt es in dem Entwurf, dass das vorläufige Durchschnittsentgelt in der Rentenversicherung für das Jahr 2026 auf 51.944 Euro (2025: 50.493 Euro) festgesetzt wird. Das Durchschnittsentgelt ist das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt aller Versicherten. Es dient als Rechengröße in der gesetzlichen Rentenversicherung, um individuelle Entgeltpunkte zu ermitteln. Die Rechengrößen für die Sozialversicherungen werden auf Grundlage der Lohnentwicklung bestimmt. Die gesamtdeutsche Lohnzuwachsrate im Jahr 2024 beträgt laut Entwurf 5,16 Prozent.

Kritische Töne an dem Entwurf kommen derweil von der Union. Dennis Radtke (CDU), Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft Deutschlands, warnte im „Tagesspiegel“ (Samstag, online) indessen vor Doppelbelastungen: „Das Dilemma ist: Parallel zur Anhebung der Bemessungsgrenze zeichnet sich die Erhöhung der Zusatzbeiträge in der GKV ab. Somit werden viele Beschäftigte gleich doppelt getroffen, statt endlich entlastet.“

Kritik von BSW und Steuerzahlerbund

BSW-Parteichefin Sahra Wagenknecht nannte die Pläne der Bundesregierung „halbherzig“. Diese werden nicht ausreichen, um die steigenden Sozialbeiträge zu stoppen, sagte Wagenknecht den Zeitungen der Funke Mediengruppe in Essen (Sonntag). Sie forderte den Einstieg in eine Bürgerversicherung: „Alle zahlen ein, und zwar proportional zu ihren Einkommen“, sagte die BSW-Chefin.

Auch der Bund der Steuerzahler kritisierte den Plan zur Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzen bei der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung. Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler, sagte der „Bild“ (Samstag, online): „Eine Erhöhung trifft vor allem Facharbeiter und Selbständige - ihre Krankenversicherungsbeiträge steigen sofort.“ Stattdessen brauche es endlich Einsparungen bei den Sozialleistungen.



Stiftung: Es reicht nicht, Obdachlosen eine Wohnung zu vermitteln



Hamburg (epd). Der Kampf gegen Obdachlosigkeit steht und fällt laut der Hamburger Behrens-Stiftung mit dem Zugang zu günstigen Wohnungen. Ziel effektiver Politik gegen Wohnungslosigkeit müsse es sein, „bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, zu vermitteln und durch soziale Arbeit abzusichern“, sagte der Bereichsleiter der Stiftung, Michale Edele, dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Wir wollen, dass die Menschen langfristig klarkommen.“ In mehreren Projekten in der Hansestadt zeige man, dass das bereits funktioniere.

Man dürfe jedoch nicht nur auf Neubauten schauen, denn es braucht Jahre, bis neue Häuser geplant und gebaut sind, sagte Edele. Es müssten dringend mehr Wohnungen aus dem Bestand preisgünstig zur Verfügung gestellt werden. Zum Ziel der Bundesregierung, bis 2030 die Obdachlosigkeit zu überwinden, sagte Edele, das sei ein sehr ambitionierter Plan. „Aber man muss sich weit aus dem Fenster hängen, sonst wird man das Ziel innerhalb der kommenden fünf Jahre nicht erreichen.“

Mehr Wohnungslose

Die Zahl der Wohnungslosen ist zuletzt gestiegen. Zum Stichtag 31. Januar 2025 waren laut dem Statistischen Bundesamt rund 474.700 Personen wegen Wohnungslosigkeit in öffentlichen Einrichtungen untergebracht. Damit habe sich deren Zahl gegenüber dem Vorjahr um acht Prozent erhöht (2024: 439.500).

Mit Blick auf die Hansestadt sagte Edele, auf dem bestehenden Niveau sei die Situation nicht in den Griff zu kriegen. Allein in Hamburg seien mehr als 32.000 Personen wohnungslos. Rund 3.700 Menschen lebten auf der Straße. Diese Zahl habe sich seit 2018 fast verdoppelt.

Die Behrens-Stiftung habe ein besonderes Merkmal, nämlich auf verschiedenen Feldern der Wohnraumversorgung aktiv zu sein. Sie agiere als sozialer Investor, der seit 2013 schon selbst zwei Gebäude errichtet habe. „Zugleich haben wir Angebote des Übergangswohnens und arbeiten auch mit dem Ansatz von Housing-First.“ Die Idee dahinter sei, Wohnraum zu schaffen, zu vermitteln und durch soziale Arbeit abzusichern.

Auch EU-Bürger betroffen

Edele verwies auf eine besonders benachteiligte Gruppe von Menschen, um die sich die Stiftung in besonderem Maße kümmere: die EU-Bürger, die die Hälfte der Obdachlosen in Hamburg ausmachten. Viele seien oft schon vor Jahren auf der Suche nach Jobs gekommen, aber so mancher Arbeitssuchende scheitert, findet keine Arbeit oder landet nach einem Verlust des Arbeitsplatzes auf der Straße."

Viele hätten keine Krankenversicherung und verelendeten, denn sie hätten weder Zugang zu gesetzlichen Leistungen noch zu den Notunterkünften der Stadt. „Sozialrechtlich könnte man das natürlich ändern, aber ob da ein Wille in der Politik vorhanden ist, bezweifle ich, auch weil das ja mehr Geld kostet“, sagte Edele.

epd-Gespräch: Dirk Baas


Evangelisches Klinikum: Staatsanwaltschaft erhebt Anklagen



Bielefeld (epd). Im Fall des früheren Assistenzarztes, der Patientinnen im Evangelischen Klinikum Bethel betäubt und vergewaltigt haben soll, hat die Staatsanwaltschaft Duisburg Anklage gegen einen Chefarzt, einen früheren Oberarzt und einen Pflegedienstleiter erhoben. Den Angeschuldigten wird „fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen“ zum Nachteil von bis zu zwölf Patienten vorgeworfen, wie die Staatsanwaltschaft Duisburg mitteilte. Das Verfahren gegen den Geschäftsführer des Klinikums sei mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden, hieß es.

Die Anklage wirft den Angeschuldigten vor, ab September 2019 deutliche Hinweise darauf gehabt zu haben, dass der verstorbene Assistenzarzt ohne medizinische Indikation bei den Patientinnen Zugänge legte und ihnen sedierende Medikamente verabreichte. Nach der Sorgfaltspflicht hätten diese Auffälligkeiten in der Arbeitsweise und Person des Assistenzarztes zusammentragen und bewertet werden müssen, erklärte die Staatsanwaltschaft. Der angeschuldigte Chefarzt und der Pflegedienstleiter hätten organisatorische Maßnahmen zur verstärkten Kontrolle des Assistenzarztes veranlassen müssen.

Soll ohne medizinischen Grund Patientinnen sediert haben

Ein Nachweis, dass die Angeschuldigten Kenntnis von den anschließenden sexuellen Übergriffen gehabt hatten, ließ sich nach den Ermittlungen nicht führen, erklärte die Staatsanwaltschaft weiter. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens werde das Landgericht Bielefeld entscheiden. Bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens gelte die Unschuldsvermutung.

Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sedierte der frühere Assistenzarzt während seiner Beschäftigung am Evangelischen Klinikum Bethel insgesamt 34 Patientinnen, zum Teil mehrfach ohne medizinische Indikation mit dem Narkosemedikament Propofol. Bei einem Teil der Patientinnen lagen die Taten in einem Zeitraum, bevor die Angeschuldigten durch Hinweise hätten handeln können. Daher sei für diesen Zeitraum keine strafrechtliche Verantwortlichkeit festgestellt worden.

Bethel: Kooperieren mit den Behörden

Die Geschäftsführung des Evangelischen Klinikums Bethel habe von Beginn an mit den Behörden kooperiert und werde das auch weiterhin tun, sagte ein Bethel-Sprecher am 2. September in Bielefeld. Er hob hervor, dass es laut dem Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft keinen Nachweis dafür gebe, dass die Angeschuldigten Kenntnis über die Sexualstraftaten des verstorbenen Assistenzarztes hatten. Nach wie vor gelte die Unschuldsvermutung.

Der damals 32-jährige Assistenzarzt hatte in der Untersuchungshaft offenbar Suizid begangen. Daraufhin wurde das Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft Bielefeld gegen ihn eingestellt. Im Jahr 2021 begann die Staatsanwaltschaft Duisburg gegen verantwortliche Mitarbeiter des Klinikums Bethel zu ermitteln. Dabei wurden mehr als 100 Zeugen vernommen, Sachverständigengutachten eingeholt und große Mengen an Daten ausgewertet.



Bethel-Chef warnt vor Einsparungen bei sozialer Arbeit



Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel sehen den Sozialbereich vor großen Herausforderungen. Trotz vieler Unsicherheiten stehe das diakonische Unternehmen jedoch gut da, hieß es bei der Vorstellung des Jahresberichts 2024.

Bielefeld (epd). Bethel-Chef Ulrich Pohl warnt vor den Folgen von Einsparungen im Sozialbereich. Besonders in Krisenzeiten sei soziale Arbeit wichtig, erklärte der Vorstandsvorsitzende der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel am 4. September in Bielefeld. „Wer gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern will, muss das Soziale stark machen“, unterstrich Pohl bei Jahrespressekonferenz. Das große diakonische Unternehmen stehe laut Jahresbericht 2024 gut da.

Die schwierige Lage der öffentlichen Geldgeber sowie der Krankenkassen beträfe deutschlandweit das Sozial- und Gesundheitswesen, erklärte Pohl. Auch Bethel müsse auf Verzögerungen bei der Abwicklung finanzieller Forderungen für Pflegesätze und Investitionen reagieren. Zuvor geplante Investitionen in Höhe von 50 Millionen Euro seien zurückgestellt worden. „Wir konzentrieren unsere Finanzmittel auf die bestehenden Standorte.“

Pohl plädiert für soziales Jahr

Mit Blick auf eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht sprach sich Pohl für ein soziales Jahr aus. „Wenn es einen Wehrdienst gibt, muss es auch so etwas wie einen Ersatzdienst geben“, sagte er. Man dürfe das Soziale bei dieser Debatte nicht aus dem Blick verlieren. Der Vorstandschef unterstütze den Vorschlag von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für einen sozialen Pflichtdienst.

Die Gewinn- und Verlustrechnung Bethels für das Jahr 2024 schloss nach Worten von Vorstand Christoph Nolting mit einem positiven Jahresergebnis von 11,25 Millionen Euro ab. Im Vorjahr lag das Ergebnis bei 9,74 Millionen Euro. Der erwirtschaftete Betrag werde vollständig in die Arbeit Bethels reinvestiert, so Nolting.

Die Gesamterträge aller Stiftungsbereiche und Tochtergesellschaften der Stiftungen Bethels lagen den Angaben nach bei 1,98 Milliarden Euro (Vorjahr: 1,81 Milliarden Euro). Die Gesamterträge sind vergleichbar mit dem Umsatz.

105 Millionen Euro Sachinvestitionen

Die Sachinvestitionen fielen im Vorjahr mit 105,15 Millionen Euro höher aus als 2023 (94,9 Millionen Euro). Bei drei Hospizneubauten in Bielefeld-Bethel, Bad Kösen und Wandlitz habe es Bauabschlüsse und -fortschritte gegeben, erklärte Nolting. Für das laufende Jahr seien wieder Maßnahmen in etwa gleicher Höhe geplant. Nach einem leichten Rückgang habe die Zahl der angebotenen Betten und Plätze im vergangenen Jahr um 337 Plätze auf insgesamt rund 26.760 erweitert werden können.

Angesichts einer anhaltenden allgemeinen Verunsicherung, hoher Energiepreise, geringem Wirtschaftswachstum und klammen Kassen der Kommunen sei man erleichtert, dass am Ende des Geschäftsjahres 2024 für Bethel ein zufriedenstellendes Ergebnis gestanden habe, sagte Nolting.

Ohne die große Unterstützung von Spendern wäre es kaum möglich gewesen, bestehende Angebote zu erhalten und neue zu schaffen, erklärte Pohl. Die Beträge von Spenden und Nachlässen stiegen im vergangenen Jahr auf 75,68 Millionen Euro. Im Vorjahr waren es 69,44 Millionen Euro.

Fast 25.000 Mitarbeiter

Mit dem aktuellen Jahresspendenprojekt „Mitten im Leben“ sollen mehrere Projekte gefördert werden, um für Menschen mit Beeinträchtigungen bessere Teilhabe und Lebensqualität schaffen, erläuterte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Bartolt Haase. Dazu gehören Wohnprojekte und Werkstätten in Lemgo, Berlin und Bielefeld-Bethel. Haase tritt im kommenden Jahr die Nachfolge von Ulrich Pohl (67) an, der dann in den Ruhestand verabschiedet wird.

Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel mit Hauptsitz in Bielefeld sind eines der größten diakonischen Unternehmen Europas. In den Einrichtungen in acht Bundesländern wurden im vergangenen Jahr rund 270.000 Menschen von rund 24.886 Mitarbeitenden behandelt, betreut oder ausgebildet. Standorte gibt es in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, Rheinland-Pfalz, Berlin, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt.




Medien & Kultur

Kentridge in zwei Städten und vier Museen




William Kentridge in seiner Ausstellung im Albertinum.
epd-bild/Matthias Schumann
Seine Arbeiten erzählen von Ausbeutung und Ungerechtigkeit. William Kentridge hat die Apartheid in Südafrika als junger Mann erlebt. Anlässlich seines 70. Geburtstags stellt er in zwei deutschen Städten aus.

Dresden (epd). Die künstlerische Vielfalt des Südafrikaners William Kentridge ist in den nächsten Monaten in mehreren Ausstellungen in Dresden und Essen zu erleben. Präsentiert werden im Museum Folkwang in Essen und in drei Museen der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Zeichnungen, Grafiken und Filme sowie performative Arbeiten. Die Retrospektive findet anlässlich des 70. Geburtstages statt, den Kentridge im April feierte. In Dresden steht die Beschäftigung mit dem Thema Prozession als Metapher für das Streben nach Veränderung im Fokus.

Ein Schwerpunkt der Ausstellung „Listen to the Echo“ ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte Südafrikas, mit Rassismus, Kolonialismus, Apartheid und Macht. Kentridges Arbeiten erzählen von Ausbeutung und Ungerechtigkeit, von Schuld, Vergebung, Gemeinschaft und Menschlichkeit. In Essen war ein erster Teil der Ausstellung am Donnerstag eröffnet worden. In Dresden sind die Arbeiten von Samstag an zu sehen.

Grafische Arbeiten bis Mitte Februar im Kupferstich-Kabinett

Als er ein junger Mann war, habe in seinem Land die Unterdrückung der Apartheid geherrscht, sagte Kentridge am Freitag in Dresden. Öffentlicher Protest sei unmöglich gewesen. Erst von etwa 1989 an habe es große Umzüge und Demonstrationen auch durch Städte in Südafrika gegeben. Die Aufmärsche in seinen Filmen etwa würden auch Bezug auf den mittelalterlichen Glauben nehmen, sagte der Künstler, der 1955 in Johannesburg geboren wurde und dort noch immer lebt. Konkret handele es sich um die Vorstellung, dass, wenn jeder und jede tanzt, etwa die Pest abgewendet werden könne. Es sei quasi „ein Tanz gegen den Tod“.

Im Kupferstich-Kabinett im Dresdner Residenzschloss sind bis Mitte Februar grafische Arbeiten des 70-Jährigen zu sehen. Sie werden unter anderem Werken von Albrecht Dürer (1471-1528) gegenübergestellt. Im Dresdner Albertinum stehen zwei Filme des Südafrikaners im Mittelpunkt: „More Sweetly Play the Dance“ aus dem Jahr 2015 zeigt eine Prozession von Helden und Außenseitern, „Oh To Believe in Another World“ von 2022 erzählt von der begrenzten Haltbarkeit von Utopien.

Filme treten in Dialog mit Dresdner „Fürstenzug“

Die Filme treten in einen künstlerischen Dialog mit großformatigen Zeichnungen zum Dresdner „Fürstenzug“, ein Wandgemälde und eine Touristenattraktion aus mehr als 20.000 Porzellankacheln. Dargestellt ist die Geschichte des sächsischen Herrschergeschlechtes als überlebensgroßer Reiterzug.

Die Direktorin des Kupferstich-Kabinetts, Stephanie Buck, sagte: Anlass der Doppelausstellung, die über mehrere Jahre geplant wurde, sei die „Begeisterung für Kentridges künstlerische Kraft“ gewesen. Der Südafrikaner behandle „die Frage von Triumph und Klagen“,ein durchaus schwieriges Thema, denn es gebe immer zwei Seiten einer Medaille. In Essen werde sein Werk mit der Geschichte des Bergbaus verbunden. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden seien hingegen von den kurfürstlichen Sammlungen geprägt. Daher steht unter anderem der „Fürstenzug“ im Fokus.

Beteiligt an der Ausstellung ist zudem die Dresdner Puppentheatersammlung. Dort wird das von Kentridge gegründete „Centre for the Less Good Idea“ aus Johannesburg ein Jahr lang zu Gast sein. Für Freitagabend war eine künstlerische Prozession durch die Dresdner Innenstadt mit Musik und Schauspiel geplant.



Die Nacht der Außenseiter



Jim Jarmusch hat den diesjährigen Goldenen Löwen des Filmfestivals Venedig gewonnen. Mit einem Familienfilm, der trotz Top-Besetzung durch coole Zurückhaltung glänzt. Es war nicht die einzige Überraschung der Löwen-Verleihung in Venedig.

Venedig (epd). Was hat man nicht alles gesehen auf diesem Festival! Emma Stone als Alien im Grobstrickanzug in „Bugonia“ von Yorgos Lanthimos. Ein Frankenstein-Schloss, in dem aus einem Leichenberg ein Monster mit Sexappeal entsteht bei Guillermo del Toro. Eine Vision vom nuklearen Ende der Welt in Kathryn Bigelows „A House of Dynamite“ ...

Und dann gewinnt in diesem Jahr Jim Jarmusch den Goldenen Löwen des Filmfestivals Venedig. Mit einem Beitrag, der trotz glanzvoller Besetzung - Tom Waits, Adam Driver, Charlotte Rampling, Cate Blanchett - vom Aufwand her ein, nun ja, lässiger Familienfilm ist. „Father Mother Sister Brother“ besteht aus drei Episoden, dreieinhalb Schauplätzen und bewusst minimalistischen, verzahnten Dialogen, die darum kreisen, was Kinder von Eltern nicht bekommen - aber vielleicht von ihren Geschwistern. Kunst, sagte Jarmusch bei der Preisverleihung, müsse Politik nicht direkt behandeln, um politisch zu sein: „Sie kann Mitgefühl erzeugen und eine Verbindung zwischen uns, die der erste Schritt ist, um unsere Probleme zu lösen.“

Jury-Preis an Film über Tod eines palästinensischen Mädchens

Dass der zweitwichtigste, der Große Preis der Jury, an Kaouther Ben Hanias „The Voice of Hind Rajab“ ging, das Dokudrama über ein palästinensisches Mädchen, das im letzten Jahr im nördlichen Gaza auf der Flucht mit seiner Familie in einem Auto starb, war dagegen nicht überraschend. Der Aktualität des Films, seiner immersiven Technik konnten sich weder Publikum noch Kritik entziehen. Die Regisseurin nutzte ihre Dankrede für ein aktivistisches Statement gegen das „kriminelle israelische Regime“, für ein freies Palästina, das offenbar keine größere Reaktion auslöste. „The Voice of Hind Rajab“ ist inzwischen auch als Tunesiens Oscar-Einreichung nominiert.

Im Übrigen aber reagierte die Jury unter dem Regisseur Alexander Payne auf eine aufgeheizte Stimmung - so viele Stars, vor und hinter der Kamera, so viel Politik, im geopolitischen Maßstab sogar - geradezu trotzig. Die Auszeichnungen gingen mit frappierender Konsequenz an die stillen, gemäßigten Arthouse-Filme, gern mit sozialrealistischer Note.

Darstellerpreise bekamen Toni Servillo als skrupulöser, nachdenklicher Präsident in „La Grazia“ und Xin Zhilei, die im chinesischen Beitrag „The Sun Rises on Us All“, einer Mischung aus Melodram und Milieustudie, eine von Schicksalsschlägen und Schuld gequälte Frau spielt. Der Drehbuchpreis ging an Valérie Donzelli und Gilles Marchand für „À pied d’oeuvre“ („At Work“), die Geschichte eines Fotografen, der seinen Job aufgibt, um einen Roman zu schreiben, und verarmt. Der Dokumentarfilm „Sotto le nuvole“ („Under the Clouds“) von Gianfranco Rosi (Spezialpreis der Jury) verbindet die Beobachtung des Lebens in der neapolitanischen Küstenregion mit Reflexionen über ihre antike Geschichte.

Jungdarstellerinnen-Preis an Luna Wedler

Selbst der Regie-Löwe für Benni Safdi fügte sich ins Bild: „The Smashing Machine“ mit Dwayne Johnson ist kein heroischer Kracher im „Rocky“-Stil, sondern zeigt den Extremkampfsport-Zirkus in einer Ära, in der es so etwas wie einen proletarischen Gemeinsinn unter den Kombattanten gab.

Deutschland ging übrigens nicht leer aus: Luna Wedler bekam den Marcello-Mastroianni-Preis als beste Jungschauspielerin in Ildikó Enyedis großartigem „Silent Friend“ (auch Preis der Interfilm-Jury), der auf eigene Art Verbindungen stiftet: zwischen drei Generationen von Wissenschaftlern und den Pflanzen im Alten Botanischen Garten in Marburg. Meditative Szenen unter einem riesigen Ginkgo-Baum wechseln sich ab mit Zeitrafferaufnahmen von Keimlingen, Wurzeln und Blättern. Ein sanfter Öko-Thriller, eine Reflexion über die biologische Produktivkraft, von der alles Leben auf der Erde abhängt - und die wir im Begriff sind zu zerstören. Zu sehen gibt es hier ganz wunderliche Dinge. Eine Geranie, die Tore öffnet, zum Beispiel.

Sabine Horst (epd)


Frankfurter Kunsthalle Schirn ist umgezogen




Probe der Tanzcompagnie Sasha Waltz & Guests am Interimsstandorts der Schirn Kunsthalle in Frankfurt
epd-bild/Tim Wegner

Frankfurt a.M. (epd). Mit einer Parade und einer Aufführung von 100 Tänzerinnen und Tänzern ist die Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main am 7. September umgezogen. Die Tanz-Compagnie Sasha Waltz & Guests, sechs Tanzgruppen aus Frankfurt und Umgebung und die Band „Meute“ feierten den Umzug der Kunsthalle quer durch die Innenstadt in ihr Interimsquartier im Stadtteil Bockenheim. Das Stammgebäude der Schirn am Römerberg wird bis 2028 saniert. In der Zwischenzeit setzt die Kunsthalle ihr Programm in der ehemaligen Dondorf-Druckerei fort.

Das 1873 von der jüdischen Unternehmerfamilie Dondorf errichtete Druckereigebäude wurde bis 2022 durch das Institut für Kunstpädagogik der Goethe-Universität genutzt. Für den Umbau innerhalb eines knappen Jahres brachte die Stadt nach eigenen Angaben 6,3 Millionen Euro auf. Das Land stellt der Schirn das Gebäude kostenlos zur Verfügung. Der hessische Kunstminister Timon Gremmels (SPD) hatte die Zwischennutzung einen „kraftvollen Auftakt“ für den geplanten Kulturcampus Bockenheim genannt.

Zwei Ausstellungen gleichzeitig

Am neuen Standort werden nach Angaben der Schirn wie bislang im Stammgebäude jeweils zwei Kunstausstellungen parallel gezeigt. Dafür wurden im ersten Stockwerk des Hauptgebäudes ein klimatisierter Ausstellungsraum eingerichtet und die anliegende Ausstellungshalle für die Präsentation zeitgenössischer Kunst vorbereitet. Im Erdgeschoss des Hauptgebäudes wird ein offenes Foyer mit Raum für Veranstaltungen sowie ein Café geschaffen.

Das Ausstellungsprogramm beginnt am 25. September mit einer großen Soloausstellung der philippinisch-kanadischen Künstlerin und Filmemacherin Stephanie Comilang. Ab dem 10. Oktober präsentiert die Schirn die weltweit erste Retrospektive von Werken Suzanne Duchamps, einer Pionierin der Dada-Bewegung.

Sanierung des Stammhauses am Römerberg bis 2028

Die bis 2028 geplante Sanierung des Stammgebäudes am Römerberg umfasst die Erneuerung der erodierten Sandsteinfassade und eine umfassende Dämmung. Zudem wird eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach angebracht sowie einzelne Dächer und Fassadenteile begrünt. Brandschutz und Gebäudetechnik werden verbessert sowie die Sanitärbereiche saniert. Die Stadt hat für die Baumaßnahmen 36 Millionen Euro vorgesehen.

Die 1986 eröffnete und mit hellem Sandstein verkleidete Kunsthalle zwischen dem Frankfurter Marktplatz und dem Dom gilt als ein Beispiel der Architektur der Postmoderne. Die überregional bekannte Kunsthalle hat bisher mehr als 270 Ausstellungen zur Kunst der Moderne und zu zeitgenössischer Kunst angeboten und dazu mehr als zehn Millionen Besuche verzeichnet.



Kunstgalerien verlieren an Umsatz



Im weltweiten Vergleich wird in Deutschland mit Kunst wenig Geld umgesetzt. Experten gehen von einer gewissen Sättigung aus. Dennoch gibt es nach der Pandemie wieder mehr Beschäftigte in der Branche.

Berlin (epd). Die Kunstgalerien in Deutschland haben einer Studie zufolge in den vergangenen Jahren einen dramatischen Umsatzeinbruch erlitten. Dies gelte insbesondere für das hochpreisige Segment, sagte der Kunstmarktexperte Hergen Wöbken am 2. September in Berlin bei der Vorstellung seiner neuen Galerienstudie 2025.

Demnach lag der geschätzte Gesamtumsatz 2024 der rund 700 professionellen Kunstgalerien bei rund 600 Millionen Euro gegenüber rund 890 Millionen Euro im Jahr 2019. Nach dem Galeriegründungsboom der vergangenen Jahrzehnte sei im Kunstmarkt eine gewisse Sättigung erreicht worden. Jüngere Menschen erbten inzwischen Kunst, die ihre Eltern in den vergangenen Jahrzehnten gekauft haben. Rund 45 Prozent der existierenden Galerien seien vor dem Jahr 2000 gegründet worden. Nur sechs Prozent seit dem Jahr 2020.

Wöbken nannte die Kunstgalerien „die unterschätzten Museen Deutschlands“. Mit jährlich mehr als 4.000 Ausstellungen leisteten sie einen großen kulturellen Beitrag und trügen dabei das gesamte wirtschaftliche Risiko. Im vergangenen Jahr vertraten die Galerien rund 14.600 Künstlerinnen und Künstler.

Drei Prozent Anteil am globalen Kunstmarkt

Der pandemiebedingte Rückgang von etwa zehn Prozent der Arbeitsplätze sei inzwischen weitgehend kompensiert. Insgesamt hätten die Galerien mehr als 3.000 Arbeitsplätze geschaffen. Der überwiegende Anteil beschäftige dabei bis zu drei Personen. In 39 Prozent der Galerien wird demnach der meiste Umsatz mit Arbeiten zwischen 1.000 und 5.000 Euro gemacht, bei weiteren 30 Prozent im Bereich zwischen 5.000 und 10.000 Euro.

Die Studie beruht auf einer Online-Umfrage im Frühjahr 2025. Daran beteiligten sich mehr als 160 Galerien, 150 Fragebögen konnten ausgewertet werden. Das Fazit: Deutschland bleibe im internationalen Vergleich ein Standort „mit hoher künstlerischer Produktivität, vielfältiger Infrastruktur und starkem kulturellen Anspruch, jedoch ohne die Marktkraft der großen Kunstnationen“. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland demnach mit einem Anteil von drei Prozent am Gesamtumsatz des globalen Kunstmarktes zusammen mit der Schweiz auf Rang fünf, hinter den USA (43 Prozent), Großbritannien (18 Prozent) China (15 Prozent) und Frankreich (sieben Prozent).

Kritik an Bürokratie und Abgabepflichten

Kritik gibt es etwa am Geldwäschegesetz. Dies sei praxisfern, unverhältnismäßig und bürokratisch. Die Pflicht zur Kundenerfassung und zur langfristigen Aufbewahrung von Dokumentationen überfordere insbesondere kleinere Galerien. Auch die Abgabenpflicht an die Künstlersozialkasse (KSK) werde als Belastung beschrieben. Positiv sei die Wiedereinführung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes von sieben Prozent auf Kunstverkäufe seit Anfang des Jahres. Dies gelte allerdings nicht für Fotografie, Videoarbeiten und fotobasierte Drucktechniken.

Laut Studie gehören rund 59 Prozent der Galerien „zum kleinen Segment“ mit einem Jahresumsatz unter 400.000 Euro. Rund 28 Prozent der Galerien hatten einen Umsatz von schätzungsweise 400.000 bis 1,5 Millionen Euro. Der sogenannte Rohertrag nach Abzug des Anteils für die Künstler, Produktions- und Transportkosten lag bei 30 Prozent des Umsatzes. Wichtigste Galerienstandorte sind Berlin, Hamburg und München.



Donnepp Media Award: Preisträgerin gibt Auszeichnung zurück



Berlin (epd). Nach der Aberkennung des Donnepp Media Awards an Judith Scheytt wegen Antisemitismusvorwürfen hat die diesjährige Preisträgerin, Annika Schneider, aus Protest ihre Auszeichnung zurückgegeben. Der Vorstand des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises, der den Preis vergibt, habe sich offensichtlich nicht mit der Arbeit Scheytts auseinandergesetzt, kritisierte Schneider auf ihrer Homepage. „Sonst hätten sie gewusst, dass die Auszeichnung Kritiker auf den Plan rufen wird“. Sie gebe aus Solidarität mit Scheytt ihren Preis zurück.

Schneider ist unter anderem Redakteurin des Onlinemagazins „Übermedien“ und wurde mit der Auszeichnung für ihre medienkritischen Beiträge geehrt.

Der Vorsitzende des Vorstands des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises, Jörg Schieb, sagte dem epd am 3. September in Marl zur Begründung der Aberkennung der „besonderen Ehrung“ an Judith Scheytt, dass die Instagram-Videos Scheytts eine „systematische Verzerrung und selektive Kontextualisierung des israelisch-palästinensischen Konflikts“ aufwiesen. Zuvor habe sich die Kölnische Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit beim Verein über die Vergabe des Preises an Scheytt beschwert. Für die Aberkennung der Auszeichnung hat es keine Mehrheit in der Jury gegeben, es war eine reine Vorstandsentscheidung.

„Keine glaubwürdigen Belege“

Schneider betonte, dass sie sich nicht mit der politischen Haltung Scheytts solidarisiere. „Aber: Glaubwürdige Belege für Antisemitismus hat der Vereinsvorstand bisher nicht vorgelegt.“

Scheytt nahm auf ihrem Instagram-Account Stellung zur Aberkennung ihres Preises. Sie schrieb, dass es nicht die Aufgabe von Medienkritik sei, Verständnis für militärische Operationen zu zeigen. Vielmehr gehe es um eine Betrachtung der Berichterstattung.

Der Donnepp Media Award wurde im Januar verliehen. In der Begründung für den Preis hieß es über Scheytt: „Mit tiefem Kenntnisreichtum und analytischer Brillanz nehme sie sich 'konzentriert und unterhaltsam die gröbsten Verstöße gegen journalistische Professionalität und Integrität vor'“. Ihr Augenmerk gelte insbesondere der deutschen Nahost-Berichterstattung.

Der Donnepp Media Award hieß bis 2025 Bert-Donnepp-Preis und wurde 1991 vom Verein der Freunde des Adolf-Grimme-Preises gestiftet.



Filme der Woche



Honey Don’t!

Nach „Drive Away Dolls“ bringt Ethan Coen den zweiten, inhaltlich vollkommen unabhängigen Teil seiner „Queeren B-Movie-Trilogie“ heraus. Erneut übernimmt Margaret Qualley die Hauptrolle, dieses Mal als lesbische Privatdetektivin, die im kalifornischen Bakersfield ermittelt. Eine Mordserie bringt sie auf die Spur einer von Reverend Drew Devlin (Chris Evans) angeführten Sekte. Nebenbei entwickelt sich eine Liebschaft mit Polizistin MJ (Aubrey Plaza) und Honey hilft Schwester Heidi (Kristen Connolly) und Nichte Corinne (Talia Ryder), ihren beschwerlichen Alltag zu meistern. Der Film ist eine Art Neuinterpretation klassischer Films noirs mit einer interessanten Hauptfigur. Die unterschiedlichen Themen und Handlungsstränge sind jedoch so wild durcheinandergeworfen, dass sich kein echter Spannungsbogen entwickelt. Überdrehte Sexszenen, albern ironische Gags und grotesk blutige Gewaltszenen nehmen zudem deutlich zu viel Platz ein.

Honey Don't (USA 2025). Regie: Ethan Coen. Buch: Ethan Coen, Tricia Cooke. Mit: Margaret Qualley, Aubrey Plaza, Chris Evans, Charlie Day, Talia Ryder, Kristen Connolly. Länge: 89 Minuten. FSK: ab 16. FBW: keine Angabe.

How to be Normal

Pia (Luisa-Céline Gaffron) wurde gerade aus der Psychiatrie entlassen, allerdings ohne genaue Diagnose. Nun muss sie sich wieder in ihrem Alltag einrichten, findet aber keinen Halt in einer Außenwelt, die aus ihrer Perspektive von Absurdität und Surrealismus geprägt ist. Während sie versucht, der Realität zu entfliehen, bemühen sich Familie und Freunde, ihr zu helfen. Letztendlich tragen sie mit ihren Erwartungen aber nicht zur Verbesserung von Pias psychischem Zustand bei. Mit einem Overkill an popkulturellen Zitaten und visuellem Einfallsreichtum schafft es Regisseur Florian Pochlatko, in seinem Spielfilmdebüt innovative Ausdrucksweisen für psychische Krankheiten zu finden und diese vorstellbar zu machen. Dies gelingt, ohne Pias Krankheit zu verharmlosen oder sie als Heldin zu romantisieren.

How to be Normal (Österreich 2025). Regie und Buch: Florian Pochlatko. Mit Luisa-Céline Gaffron, Cornelius Obonya, Elke Winkens, Oliver Rosskopf, Harald Krassnitzer. Länge: 102 Minuten.

Kung Fu in Rome

Als Mei (Yaxi Liu) sich auf die Suche nach ihrer entführten Schwester begibt, landet sie in einem römischen Bordell, wo ihr niemand weiterhelfen will. Gut, dass Mei schon seit ihrer Kindheit Kung-Fu gelernt hat, und so hinterlässt sie gleich das gesamte Etablissement in Trümmern. Furchtlos durchforstet sie im weiteren Verlauf das multikulturelle Viertel Esquilino, stellt sich der chinesischen Mafia und trifft auf den Koch Marcello (Enrico Borello). Gabriele Mainetti brennt in seinem Film ein atemberaubendes Kampfballett-Feuerwerk ab, reiht in seinem Rachedrama aber nicht einfach nur Kampfszene an Kampfszene, sondern spinnt mit der Zeit auch eine Liebesgeschichte und erzählt auf ungewöhnliche Weise von der chinesischen Community in Rom. Die gelungene Überzeichnung der Charaktere gleicht dabei den stellenweise doch etwas verworrenen Plot wieder aus.

Kung Fu in Rome (Italien 2025). Regie: Gabriele Mainetti. Buch: Stefano Bises, Gabriele Mainetti, Davide Serino. Mit: Yaxi Liu, Enrico Borello, Sabrina Ferilli, Marco Giallini, Luca Zingaretti, Shanshan Chunyu. Länge: 138 Minuten.

Beule - Zerlegt die Welt

„Beule“, der eigentlich Olli heißt, lebt mit seiner Freundin Anja in Norddeutschland, wo die beiden Boote reparieren. Doch anstatt Dinge wieder zusammenzubauen, widmet sich Olli lieber dem Zerlegen, wenn er mit einer riesigen Axt durch die norddeutsche Provinz läuft, wo nicht nur Mülleimer und Zigarettenautomaten ihm zum Opfer fallen. Der Titel des Films ist also wörtlich zu nehmen. Dabei fehlt dem Werk von Janek Rieke allerdings der künstlerische Feinsinn, worunter auch die weitere Geschichte leidet: Anja wünscht sich ein Kind, Olli fängt wenig später eine Affäre mit Mia an, die bei einer Tankstelle arbeitet, und dann taucht auch noch Anjas Exfreund auf. Der Film bietet eine überdrehte Farce, die vom Verzeihen in der Liebe und der Freundschaft erzählen will, überzeugt aber bis auf einige komödiantische Szenen nicht wirklich; trotz toller schauspielerischer Leistungen von Julia Hartmann, Max Giermann und Rieke selbst.

Beule - Zerlegt die Welt (Deutschland 2022). Regie und Buch: Janek Rieke. Mit: Janek Rieke, Julia Hartmann, Max Giermann, Nilam Farooq, Freya Tampert, Hans Löw, Gerdy Zint. Länge: 79 Minuten.

www.epd-film.de




Entwicklung

Künstlerviertel im kenianischen Slum: "Hier fühle ich mich frei"




Saviour Juma arbeitet im "Art Sun Valley Collective" in Kibera an einem seiner Werke.
epd-bild/Jeremiah Onyango
Kibera ist der größte Slum in Nairobi. Zwischen einfachen Behausungen und staubigen Wegen leuchten Graffiti, es entstehen Collagen und Skulpturen: Der Kibera Arts District bringt Menschen zusammen - und fördert Kinder, die sonst wenig Chancen haben.

Nairobi (epd). Am Straßenrand fischt ein Mann frisch frittiertes Gebäck aus dem heißen Öl. An jedem zweiten Haus sind Graffiti zu sehen - ein Bus, ein bunter Vogel, ein Frauengesicht. Dazwischen liegen Künstlerateliers. Die Straße am Rand des Slums Kibera ist wohl eine der buntesten in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Seit 2023 organisieren sich hier Künstlerinnen und Künstler gemeinsam im „Kibera Arts District“, um Künstlern aus dem Slum eine Bühne zu geben, Austausch zu ermöglichen und Kunst als Karriere zu etablieren. Ein Glasbläser fertigt Trinkgläser, Krüge und Perlen. Die Schweißer gegenüber arbeiten an Tierfiguren, wenn nicht - so wie an diesem Sonntagvormittag - der Strom ausgefallen ist.

In einem Raum, gebaut aus Metallplatten auf einem Betonfundament, sitzt der 14-jährige Hillary und mischt konzentriert Acrylfarben, mit denen er sein Bild vom Vortag fertigstellen will. Er ist an diesem Morgen der Erste in dem Atelier. „Ich bin gerne hier“, sagt er, „hier fühle ich mich frei.“ Nachmittags kommen hier oft bis zu 30 Kinder gleichzeitig zusammen, wie er erzählt. Frei zugängliche Orte, an denen Kinder sich einfach aufhalten und beschäftigen können, gibt es im Slum nur wenige. Jeden Nachmittag unterrichten erfahrene Künstler Mal- und Zeichentechniken, gratis. Finanziert wird das Material über Spenden.

Zwei Euro Tageslohn

Zu Fuß braucht Hillary etwa eine halbe Stunde von seinem Zuhause, wo er mit seinen Eltern und drei Geschwistern lebt. Rund eine Million Menschen leben in Kibera, der Großteil ohne fließend Wasser und direkte Stromversorgung. Viele arbeiten in den reicheren Stadtteilen und versuchen zum Beispiel als Tagelöhner auf Baustellen, etwas Geld zu verdienen - meist sind es etwa zwei Euro für einen Tag Arbeit.

Das Malen motiviert ihn, wie Hillary erzählt. Früher wollte er Soldat werden, jetzt würde er gerne Künstler werden. Dafür gibt es im Kibera Arts District viele Vorbilder. Auf seinem Bild, das mit Klebefilm an der Wand befestigt ist, sind zwei Gestalten zu sehen. Die Stimmung ist düster. Daneben hängt das Porträt einer Frau, das er in der Woche zuvor mit Kohle gezeichnet hat.

Schon von weitem zu sehen ist die Galerie, die 2024 mit Unterstützung der US-amerikanischen Organisation „House of Friends“ gebaut wurde: Im Volksmund wird sie nur das „Weiße Haus“ von Kibera genannt. Heute findet dort eine Pop-Up-Ausstellung statt, in der es um sexualisierte Gewalt und den Widerstand dagegen geht. Ein Teil der Künstler und Künstlerinnen kommt aus dem Slum Kibera, andere von außerhalb.

Gedichtrezitationen und Trommelrhythmen

Gerade rezitiert ein Mann ein Gedicht. Kinder schauen immer wieder neugierig durch die Tür, manche bleiben eine Weile dabei, bevor sie weiterziehen. „Wir wollen kreative Räume schaffen. Das hat schon Veränderung gebracht, weil die Leute hier das Projekt als ihr eigenes sehen“, sagt Patrick Othieno. Der 36-Jährige hilft ehrenamtlich bei der Verwaltung des Kunstbezirks und bietet Führungen für Touristen an. Mit den Einnahmen aus den Touren kauft das Team Materialien, Farben, Pinsel für die Kinder - und manchmal auch für die Künstler, wenn das Geld am Ende des Monats knapp ist.

Trommelrhythmen klingen aus einem der vielen kleinen Kirchenräume, als ein Mini-Van sich seinen Weg durch das geschäftige Treiben bahnt. Aus dem Auto steigt eine französische Familie, die gerade in Kenia Urlaub macht und die Patrick Othieno in Empfang nimmt. Die erste Station machen sie bei dem Glaskünstler, der gerade bunte Glasperlen in seinem mit Gas betriebenen Ofen anfertigt. Dann geht es zu den Schweißern, bei denen es noch immer keinen Strom gibt, dafür spielen die Kinder der Familie eine Runde mit bei dem Brettspiel, mit dem sich die Künstler ihre Zeit vertreiben.

Weiter geht es zum Studio des „Arts Sun Valley Collective“. Die Tür ist bunt bemalt, in einem ähnlichen Mosaikstil wie auch die Kunst im Innenraum. Saviour Juma ist 22 Jahre alt und hat schon als Grundschulkind angefangen, sich in Kunst auszudrücken. Nach der Gewalt, die nach den Wahlen 2008 durch das Land und auch durch den Slum Kibera ging, fand er in seinen Collagen und Gemälden Wege, seine Gefühle und Erfahrungen zu verarbeiten, wie er berichtet.

Recycelte Materialien

Auch weil Materialien teuer sind, improvisieren und experimentieren Saviour Juma und seine Künstlerkollektivkollegen mit recycelten Materialien. Vor mit allem Bierdosen: Durch das Erhitzen über Feuer bekommen sie innen eine goldene Farbe, die Juma besonders schätzt. Eine seiner neuesten Collagen heißt „Golden Opportunities“, goldene Chancen. Aber dazwischen sind auch rostbraune Metallteile zu sehen. Sie stehen für die verrosteten Bleche von Kibera und die Herausforderungen, die das Leben hier mit sich bringt.

Für viele Jugendliche in Kibera gibt es nach dem Ende der Schulzeit wenig Möglichkeiten. Viele versuchen, sich mit Tagelöhnerjobs über Wasser zu halten. Doch nicht alle schaffen es. Künstler wie Juma, die sich einen Ruf gemacht haben und von der Kunst leben können, sind Vorbild. Der Kibera Arts District gibt ihnen eine Bühne - und Verbindungen in die ganze Welt.

epd video: Kunst aus den Slums

Von Birte Mensing (epd)


Lernen im Exil: 65 Jahre tibetische Kinderdörfer in Indien




Lernen im Exil: 65 Jahre tibetische Kinderdoerfer in Indien
epd-bild/Natalie Mayroth
Bis heute sind Kinderdörfer und Schulen in Indien ein zentrales Rückgrat der tibetischen Exilgemeinschaft. Doch auch sie müssen sich anpassen, die Schülerzahlen schrumpfen. Immer mehr Tibeter zieht es weg aus der Himalaja-Region.

Dharamsala (epd). In der bergigen Landschaft des nordindischen Dharamsala betten sich eine Reihe von Ziegelbauten mit grünen Dächern in die Landschaft ein. Auf einem Platz spielen Kinder in blauen Schuluniformen, Jungen und Mädchen des „Tibetan Children's Village“. Orte wie diese sind seit Jahrzehnten ein Rückgrat der tibetischen Exilgemeinschaft. Doch die Zeit steht nicht still und zwingt die Gemeinschaft zu neuen Wegen.

Schuldirektor Tsultrim Dorjee nennt seine Schülerinnen und Schüler liebevoll „Sprösslinge Tibets”, seiner Heimat, die seit der Annektierung durch China 1950 unter Kontrolle Pekings steht. Seit vielen Jahren arbeitet Dorjee nun schon im “Tibetan Children’s Village„, kurz TCV, in Dharamsala, nachdem er selbst als junger Mann aus China geflüchtet war. “Ich wollte meiner Gemeinschaft etwas zurückgeben", sagt er.

Fluchtrouten geschlossen

Für viele Tibeterinnen und Tibeter, die in Indien aufgewachsen sind, war der Besuch einer Schule unter der tibetischen Exilregierung prägend. Die gebührenfreien TCVs gelten dabei als wichtigste Institution. Ursprünglich für Waisen, Halbwaisen und Kinder geflüchteter Familien gegründet, bieten sie Bildung von der Krippe bis zur höheren Schule.

Doch über die Jahrzehnte hat Dorjee einen Wandel erlebt. „Heute kommen kaum noch geflüchtete Kinder nach Indien“, sagt er. Chinas Behörden hätten die Überwachung verschärft, Fluchtrouten seien praktisch geschlossen. Zugleich verlassen viele Exiltibeter Indien, jenes Land, in dem der 14. Dalai Lama seit seiner Flucht aus Tibet im Jahr 1959 eine Exilregierung sowie ein dichtes Netz an Bildungs- und Sozialstrukturen aufgebaut hat.

Bereits 1960 nahm das erste Kinderdorf rund 50 Kinder aus Straßenbaulagern im indischen Jammu auf. Ihre Eltern konnten sie weder versorgen noch für eine Schulbildung sorgen. Bildung wurde schnell zum zentralen Pfeiler der Exilgemeinschaft. „Ob unsere Zukunft friedlich oder gewalttätig sein wird, das hängt davon ab, wie wir die junge Generation formen“, sagt Dorjee.

Kultur und Sprache bewahren

Der tibetische Entwicklungsberater Tenzin Paljor sieht das ähnlich: „Unsere Exilgemeinschaft ist erfolgreich, da sie kompakt ist.“ Die Schulen stärken den Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl. Neben dem regulären Unterricht nach indischem Lehrplan vermitteln sie tibetische Sprache und Kultur. „Im Exil drohen kulturelles Wissen und Sprache verloren zu gehen“, warnt Paljor. Die Schulen wirkten dem entgegen.

Allerdings sind die Herausforderungen ganz andere geworden. Heute lebt fast die Hälfte der tibetischen Exilgemeinschaft außerhalb Südasiens - ein tiefgreifender Wandel. Bald gehört auch Sonam dazu, die im TCV zur Schule ging. Als Kind floh sie nach Indien, studierte später dort und bereitet sich nun auf ein Studium in Kanada vor. Sie gehört zu einer Generation, die neue Perspektiven im Westen sucht.

Sonam ist dankbar für ihre Zeit in dem tibetanischen Kinderdorf. Aber die Abwanderung und die niedrige Geburtenrate zwingen Einrichtungen wie das TCV, sich neu zu justieren und ihre Angebote anzupassen.

Sommerschule für Kinder aus der westlichen Diaspora

Direktor Dorjee sieht Chancen in neuen Formaten - etwa in einer Sommerschule für Kinder aus der westlichen Diaspora, die er aufgebaut hat. Die Programme richten sich an 10- bis 17-Jährige, die meist aus Europa und Nordamerika anreisen. Ziel ist es, Sprache, Kultur und Gemeinschaft erlebbar zu machen. Es geht um Identität und Kontinuität als Versuch, ein Gemeinschaftsgefühl im Exil zu bewahren.

„Es wird schwieriger, unsere Kultur weiterzugeben“, sagt Tenzin Paljor. Die Sommerschule sei ein wichtiger Schritt, aber nur ein Anfang. Er sieht die TCVs jedoch weiterhin als soziale Knotenpunkte, die neben Tradition auch ethische Werte vermitteln.

Inzwischen sitzen immer mehr Kinder aus buddhistischen Familien der Himalaja-Regionen Indiens in den Klassen. Das sichert den Schulen zumindest das Überleben.

Von Natalie Mayroth (epd)


Kabinett bringt Abschwächung des Lieferkettengesetzes auf den Weg




Gerberei in Addis Abeba (Archivbild)
epd-bild/Mey Dudin
Die Bundesregierung will die Berichtspflichten für Unternehmen abschaffen und künftig nur noch schwere Verstöße gegen Menschenrechts- und Umweltstandards sanktionieren. Entwicklungsorganisationen kritisieren den Schritt scharf.

Berlin (epd). Das vor mehr als zwei Jahren in Kraft getretene Lieferkettengesetz soll abgeschwächt werden. Das Bundeskabinett billigte am 3. September in Berlin einen Gesetzentwurf aus dem Bundesarbeitsministerium, der vorsieht, dass die Berichtspflicht über die Einhaltung der Sorgfaltspflichten für Unternehmen entfällt. Demnach sollen zwar die Sorgfaltspflichten selbst weiter gelten, jedoch nur noch schwere Verstöße sanktioniert werden. Entwicklungsorganisationen üben scharfe Kritik an der Neuregelung.

Laut einem Sprecher des Arbeitsministeriums wird derzeit an einer Verordnung gearbeitet, die Details zu den künftig geltenden Sanktionen festlegen soll. Das deutsche Lieferkettengesetz gilt seit Anfang 2023 und soll sicherstellen, dass Unternehmen die Beachtung von Menschenrechts- und Umweltstandards einhalten. Mit der Abschaffung der Berichtspflichten setzt die Bundesregierung ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um.

Soll durch EU-Recht ersetzt werden

Schon der ehemalige Bundeswirtschaftsminister der Ampel-Regierung, Robert Habeck (Grüne), hatte versprochen, die Berichtspflichten des deutschen Lieferkettengesetzes abzuschaffen. Das Gesetz verpflichtet alle Unternehmen mit über 1.000 Beschäftigten dazu, ihre Lieferketten weltweit zu überwachen und sicherzustellen, dass ihre Partner grundlegende Standards einhalten - dazu gehören angemessene Entlohnung, Umweltschutz und das Verbot von Kinderarbeit.

Langfristig soll das deutsche Lieferkettengesetz durch EU-Recht ersetzt werden. Die EU-Lieferkettenrichtlinie muss bis zum 26. Juli 2027 in nationales Recht umgesetzt werden. Plan der Bundesregierung ist es, dass dieses neue Gesetz bürokratiearm und vollzugsfreundlich umgesetzt wird und das derzeit geltende Lieferkettengesetz „nahtlos“ ersetzt. Bürokratieabbau ist erklärtes Ziel der schwarz-roten Koalition.

Anders als das deutsche Gesetz soll das künftige EU-Lieferkettengesetz neben der Mitarbeiterzahl von 1.000 auch eine Umsatzgrenze von 450 Millionen Euro weltweit vorsehen.

„Rechtsunsicherheit und Verwirrung für Unternehmen“

Parallel dazu hat das Kabinett einen Gesetzesentwurf des Bundesjustizministeriums beschlossen: die Umsetzung der EU-Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen. Die Regelung sieht vor, dass zunächst etwa 240 große deutsche Unternehmen mit über 1.000 Mitarbeitern ab 2025 zusätzlich zum Jahresabschluss über die ökologischen und sozialen Auswirkungen ihres Geschäfts berichten müssen. Betroffen sind kapitalmarktorientierte Unternehmen sowie Banken und Versicherungen.

Die Organisation Germanwatch kritisiert beide Gesetzesregelungen. „Die Bundesregierung spricht von Bürokratieabbau. Was sie schafft, ist Rechtsunsicherheit und Verwirrung für Unternehmen“, sagte die Bereichsleiterin für Unternehmensverantwortung, Cornelia Heydenreich. Die Bundesregierung bestrafe nicht nur diejenigen, die als besonders verantwortungsbewusste Unternehmen bei Menschenrechten und Nachhaltigkeit vorangegangen seien, sondern vor allem auch Betroffene von Menschenrechtsverletzungen in globalen Lieferketten.

Auch der entwicklungspolitische Dachverband Venro kritisierte die Abschwächung des Lieferkettengesetzes. „Ohne eine Berichtspflicht wird die Nachverfolgung von Verstößen deutlich komplizierter. Und ohne scharfe Sanktionsmöglichkeiten ist der Staat kaum in der Lage, Standards durchzusetzen“, sagte Vorstandsmitglied Carsten Montag.



EU-Kommission macht Weg frei für Mercosur-Abkommen



Brüssel (epd). Seit über zwei Jahrzehnten verhandeln die EU und der südamerikanische Staatenbund Mercosur über ein umfassendes Freihandelsabkommen. Nun hat die EU-Kommission den Ratifizierungsprozess gestartet. Ein Überblick über Inhalte, Kritikpunkte und den weiteren Weg.

Was ist das Mercosur-Abkommen?

Das Freihandelsabkommen soll eine der größten Wirtschaftspartnerschaften der Welt schaffen - zwischen der EU und dem 1991 gegründeten Mercosur (Mercado Común del Sur - Gemeinsamer Markt des Südens). Dem Bund gehört neben den vier Gründungsstaaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay inzwischen auch Bolivien an. Das Abkommen umfasst sowohl den Abbau von Zöllen auf Industriegüter und Agrarprodukte als auch Regelungen zu geistigem Eigentum, Nachhaltigkeit, öffentlichen Ausschreibungen und politischer Zusammenarbeit.

Was sieht das Abkommen konkret vor?

Rund 91 Prozent der Zölle auf Waren, die zwischen der EU und den Mercosur-Staaten gehandelt werden, sollen entfallen. Die EU-Kommission schätzt, dass das Abkommen die jährlichen EU-Exporte nach Südamerika um bis zu 39 Prozent (49 Milliarden Euro) steigern kann und damit mehr als 440.000 Arbeitsplätze in ganz Europa unterstützt.

Wie läuft die Ratifizierung ab?

Am 3. September nahm die EU-Kommission den Vertragstext offiziell an und leitete ihn an den Rat der Europäischen Union weiter. Dort entscheiden die Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit: Mindestens 15 von 27 Ländern, die zugleich mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, müssen zustimmen. Einstimmigkeit ist nicht erforderlich.

Im Anschluss muss auch das Europäische Parlament dem Abkommen zustimmen. Da es sich jedoch um ein sogenanntes „gemischtes Abkommen“ handelt, das neben Handelsfragen auch politische Aspekte wie Menschenrechte und Umweltstandards enthält, ist grundsätzlich auch die Ratifizierung durch alle nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten notwendig.

Um den Prozess zu beschleunigen, hat die Kommission das Abkommen aufgeteilt: Ein reines Zwischenhandelsabkommen, das nur die Bereiche der ausschließlichen EU-Zuständigkeit umfasst, könnte bereits in Kraft treten, wenn Rat und Parlament zugestimmt haben. Es würde allerdings auslaufen, sobald das vollständige Partnerschaftsabkommen in Kraft tritt. Der politische Teil bleibt dagegen auf die Zustimmung aller Mitgliedstaaten angewiesen - was den Prozess erheblich verzögern könnte.

Was sind die Hauptkritikpunkte?

Kritiker aus Politik und Zivilgesellschaft befürchten negative Folgen für Umwelt und Menschenrechte. Sie warnen davor, dass das Abkommen Entwaldung in Südamerika begünstigen und europäische Standards untergraben könnte. Besonders Frankreich, Österreich, Belgien und die Niederlande äußerten wiederholt Bedenken.

Auch europäische Bauernverbände fürchten Wettbewerbsnachteile durch zusätzliche Importe etwa von Rindfleisch, Geflügel oder Zucker. Befürworter hingegen argumentieren, dass die EU mit dem Abkommen ihre Standards im Handel mit den Mercosur-Staaten durchsetzen könne - und zugleich neue Marktchancen für Schlüsselbranchen wie Maschinenbau, Automobilindustrie und Pharmaindustrie entstünden.

Von Marlene Brey (epd)


Burkina Faso stellt Homosexualität unter Strafe



Frankfurt a.M., Ouagadougou (epd). In Burkina Faso ist Homosexualität künftig illegal. Das nicht demokratisch gewählte Parlament beschloss am 1. September die Kriminalisierung sogenannter „homosexueller Handlungen“, wie der französische Auslandssender RFI am 2. September berichtete. Demnach drohen Personen, die der Homosexualität schuldig gesprochen werden, Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren und Bußgeldzahlungen.

Homosexualität beziehungsweise einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen zwei Menschen des gleichen Geschlechts sind in etwa 30 afrikanischen Ländern verboten. In Burkina Faso, das nach zwei aufeinanderfolgenden Putschen seit 2022 vom Militär regiert wird, war dies bislang nicht der Fall. Die Kriminalisierung geschah im Rahmen einer Reform des Familien- und Staatsbürgerschaftsrechts.

Mehrere afrikanische Länder verschärfen Gesetzgebung

Junta-Chef Ibrahim Traoré muss RFI zufolge das Verbot noch in Kraft setzen. Es sieht zudem vor, Ausländer, die wegen Homosexualität verurteilt wurden, bei einem weiteren Verstoß gegen das Gesetz des Landes zu verweisen, wie Justizminister Edasso Rodrigue laut dem Bericht erklärte.

In jüngster Zeit haben einige afrikanische Länder ihre Gesetzgebung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans-Personen verschärft. In Mali, das ebenfalls seit 2020 vom Militär regiert wird, ist Homosexualität seit November 2024 illegal. In Ghana gab es in den vergangenen Monaten mehrere Versuche des Parlaments, ein harsches Anti-LGBT-Gesetz einzuführen, und in Uganda wurde das Verbot 2023 derart verschärft, dass in manchen Fällen die Todesstrafe droht.




Termine

22.9. Evangelische Akademie Frankfurt

Corona-Effekt - Fokus Kirche. Gott, die Kirche und das Virus Die Corona-Pandemie hat nicht nur intensive politische und gesellschaftliche Debatten ausgelöst, sondern auch tiefe persönliche, spirituelle und theologische Fragen aufgeworfen. Welchen Beitrag haben kirchliche Arbeitsfelder zur Krisenbewältigung geleistet? Welche Leerstellen gab es und was können Kirche und Theologie aus den Erfahrungen der Pandemie lernen?

17.-18.10. Institut für Kirche und Gesellschaft

„Stillstand ist der Tod ...“. Neuer Anlauf für die deutsche Afghanistan-Politik Afghanistan vier Jahre nach der Machtergreifung der Taliban: Die wirtschaftlichen, klimatischen und humanitären Notlagen, dazu die wachsende Menschenrechtskrise (vor allem für Mädchen und Frauen) - das alles findet kaum noch Aufmerksamkeit in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit. Im Juni hat Bundesentwicklungshilfeministerin Alabali Radovan im Rahmen der UN-Konferenz für Entwicklungsfinanzierung betont: „Wir bleiben verlässlicher Partner…“. Wie soll dies angesichts der vorgenommenen Haushaltskürzungen und dem steigenden weltweiten Hilfebedarf umgesetzt werden?

24.-26.10. Evangelische Akademie Tutzing

Geschichte und Erfolge sozialer Bewegungen Viele Fortschritte in der Geschichte wurden durch soziale Bewegungen errungen - von Menschenrechten, Demokratie, Gerechtigkeit, Ökologie bis hin zu Frieden und Dekolonisierung. Was sind ihre Wurzeln, Strukturen und Dynamiken? Wer waren die Menschen, die sich in der Geschichte erfolgreich engagiert haben? Wie haben sie zusammengewirkt? Unter welchen historischen Bedingungen - politisch, ökonomisch oder auch gesellschaftlich - hatte Engagement eine nachhaltige Wirkung? Was waren Hindernisse und Herausforderungen, auch in der Organisation? Wo sind soziale Bewegungen kritisch zu sehen?