Venedig (epd). Was hat man nicht alles gesehen auf diesem Festival! Emma Stone als Alien im Grobstrickanzug in „Bugonia“ von Yorgos Lanthimos. Ein Frankenstein-Schloss, in dem aus einem Leichenberg ein Monster mit Sexappeal entsteht bei Guillermo del Toro. Eine Vision vom nuklearen Ende der Welt in Kathryn Bigelows „A House of Dynamite“ ...
Und dann gewinnt in diesem Jahr Jim Jarmusch den Goldenen Löwen des Filmfestivals Venedig. Mit einem Beitrag, der trotz glanzvoller Besetzung - Tom Waits, Adam Driver, Charlotte Rampling, Cate Blanchett - vom Aufwand her ein, nun ja, lässiger Familienfilm ist. „Father Mother Sister Brother“ besteht aus drei Episoden, dreieinhalb Schauplätzen und bewusst minimalistischen, verzahnten Dialogen, die darum kreisen, was Kinder von Eltern nicht bekommen - aber vielleicht von ihren Geschwistern. Kunst, sagte Jarmusch bei der Preisverleihung, müsse Politik nicht direkt behandeln, um politisch zu sein: „Sie kann Mitgefühl erzeugen und eine Verbindung zwischen uns, die der erste Schritt ist, um unsere Probleme zu lösen.“
Jury-Preis an Film über Tod eines palästinensischen Mädchens
Dass der zweitwichtigste, der Große Preis der Jury, an Kaouther Ben Hanias „The Voice of Hind Rajab“ ging, das Dokudrama über ein palästinensisches Mädchen, das im letzten Jahr im nördlichen Gaza auf der Flucht mit seiner Familie in einem Auto starb, war dagegen nicht überraschend. Der Aktualität des Films, seiner immersiven Technik konnten sich weder Publikum noch Kritik entziehen. Die Regisseurin nutzte ihre Dankrede für ein aktivistisches Statement gegen das „kriminelle israelische Regime“, für ein freies Palästina, das offenbar keine größere Reaktion auslöste. „The Voice of Hind Rajab“ ist inzwischen auch als Tunesiens Oscar-Einreichung nominiert.
Im Übrigen aber reagierte die Jury unter dem Regisseur Alexander Payne auf eine aufgeheizte Stimmung - so viele Stars, vor und hinter der Kamera, so viel Politik, im geopolitischen Maßstab sogar - geradezu trotzig. Die Auszeichnungen gingen mit frappierender Konsequenz an die stillen, gemäßigten Arthouse-Filme, gern mit sozialrealistischer Note.
Darstellerpreise bekamen Toni Servillo als skrupulöser, nachdenklicher Präsident in „La Grazia“ und Xin Zhilei, die im chinesischen Beitrag „The Sun Rises on Us All“, einer Mischung aus Melodram und Milieustudie, eine von Schicksalsschlägen und Schuld gequälte Frau spielt. Der Drehbuchpreis ging an Valérie Donzelli und Gilles Marchand für „À pied d’oeuvre“ („At Work“), die Geschichte eines Fotografen, der seinen Job aufgibt, um einen Roman zu schreiben, und verarmt. Der Dokumentarfilm „Sotto le nuvole“ („Under the Clouds“) von Gianfranco Rosi (Spezialpreis der Jury) verbindet die Beobachtung des Lebens in der neapolitanischen Küstenregion mit Reflexionen über ihre antike Geschichte.
Jungdarstellerinnen-Preis an Luna Wedler
Selbst der Regie-Löwe für Benni Safdi fügte sich ins Bild: „The Smashing Machine“ mit Dwayne Johnson ist kein heroischer Kracher im „Rocky“-Stil, sondern zeigt den Extremkampfsport-Zirkus in einer Ära, in der es so etwas wie einen proletarischen Gemeinsinn unter den Kombattanten gab.
Deutschland ging übrigens nicht leer aus: Luna Wedler bekam den Marcello-Mastroianni-Preis als beste Jungschauspielerin in Ildikó Enyedis großartigem „Silent Friend“ (auch Preis der Interfilm-Jury), der auf eigene Art Verbindungen stiftet: zwischen drei Generationen von Wissenschaftlern und den Pflanzen im Alten Botanischen Garten in Marburg. Meditative Szenen unter einem riesigen Ginkgo-Baum wechseln sich ab mit Zeitrafferaufnahmen von Keimlingen, Wurzeln und Blättern. Ein sanfter Öko-Thriller, eine Reflexion über die biologische Produktivkraft, von der alles Leben auf der Erde abhängt - und die wir im Begriff sind zu zerstören. Zu sehen gibt es hier ganz wunderliche Dinge. Eine Geranie, die Tore öffnet, zum Beispiel.
