Stuttgart (epd). Deutschland, 1945. Die Städte liegen nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern, die braunen Parolen vom "Endsieg" sind verhallt. Wie soll die evangelische Kirche auf diesen Zusammenbruch reagieren - eine Kirche, die sich in großen Teilen mit der nationalsozialistischen Sache gemein gemacht hat? Am 19. Oktober 1945 unterzeichnen protestantische Bischöfe und Kirchenpräsidenten in Stuttgart ein Schuldbekenntnis, das einen Neuanfang signalisiert. Damit ernten sie vor 75 Jahren einen Sturm der Entrüstung.
"Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden", heißt es in dem Dokument. "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Zu den Unterzeichnern gehören amtierende und spätere Landesbischöfe sowie der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann. Verfasst wurde das Papier von Mitgliedern des Rats der neu gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): Christian Asmussen, Otto Dibelius und Martin Niemöller.
Der Kirchenhistoriker Gerhard Besier betrachtet das Papier als das Ergebnis einer Erpressung. Hochrangige Kirchenvertreter aus Ländern, gegen die kurz zuvor noch Krieg geführt worden war, hatten sich nach Stuttgart aufgemacht, um die Beziehungen zu den evangelischen Kirchen wieder aufzunehmen. Die weltweiten Ökumene-Partner hatten laut Besier vorher deutlich gemacht, dass es nur Auslandshilfe für die notleidenden Deutschen geben könne, wenn die Kirchen sich ihrer Mitverantwortung für die NS-Verbrechen stellen. "Die deutschen Kirchen hätten von sich aus keine Schulderklärung formuliert", sagt er.
Kein Wort über den Holocaust
Tatsächlich schrieb der niederländische Theologe Willem Adolf Visser ’t Hooft, der die ökumenische Delegation in Stuttgart leitete, später in seiner Autobiografie: "Wie sollten wir die Wiederaufnahme voller ökumenischer Beziehungen erreichen? Die Hindernisse für eine neue Gemeinschaft ließen sich nur beseitigen, wenn die deutsche Seite ein klares Wort fand."
Damit erklärt sich für Besier auch, warum das Papier wesentliche Punkte auslässt. So ist der Holocaust an den Juden mit keiner Silbe erwähnt. Die Formulierungen im Komparativ ("nicht mutiger", "nicht treuer", "nicht brennender") können so verstanden werden, dass durchaus viel Mut, Treue und Brennen vorhanden gewesen seien, aber eben nicht genug. Die Verstrickungen mit dem Regime und das unselige Wirken der Deutschen Christen, der gleichgeschalteten evangelischen Kirche, sowie der Antisemitismus in der Kirche finden keine Erwähnung.
Dabei waren einige der Unterzeichner auf riskanten Konfrontationskurs zum Regime gegangen. Der Berliner Generalsuperintendent Otto Dibelius etwa erhielt Predigtverbot und kam mehrfach ins Gefängnis. Der württembergische Landesbischof Wurm hatte die Eingliederung seiner Landeskirche in die Reichskirche verhindert und gegen das Euthanasieprogramm der Nazis protestiert, wofür er vorübergehend Hausarrest und später ebenfalls Schreib- und Predigtverbot erhielt.
Kartonweise Protestbriefe
Die Schulderklärung traf damals in Deutschland auf Ablehnung und Wut. Im hannoverschen Kirchenamt füllten die Protestbriefe ganze Kartons. Menschen sahen sich für Verbrechen in Mithaftung genommen, obwohl sie sich unschuldig fühlten. In ihrer Selbstwahrnehmung waren sie Opfer, nicht Täter.
Außerhalb Deutschlands zeigte das Bekenntnis den gewünschten Erfolg. Kirchengemeinden etwa in den USA schickten Hilfspakete an die ausgebombten Glaubensgeschwister. Auch einer Rehabilitierung deutscher Protestanten und einer Mitarbeit in weltweiten ökumenischen Gremien wurde der Weg gebahnt.
Kirchenhistoriker Besier wünscht sich ein milderes Urteil über die damals Verantwortlichen. Die führenden Kirchenmänner seien Kinder ihrer Zeit gewesen. Antisemitische Aussagen des württembergischen Bischofs Wurm und des führenden Vertreters der Bekennenden Kirche, Martin Niemöller, basierten auf Vorurteilen, die über Jahrhunderte in Mitteleuropa gepflegt worden und tief ins Bewusstsein gesunken seien. "Es ist falsch, die Maßstäbe von heute an das Jahr 1945 anzulegen", sagt der emeritierte Geschichtsprofessor.
Die EKD wird am Sonntag, 18. Oktober, bei einer zentralen Feier in Stuttgart an die vor 75 Jahren veröffentlichte Schulderklärung erinnern. Gefeiert wird in der Markuskirche - jenem Gotteshaus, in dem 1945 deutsche und internationale Kirchenvertreter erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenkamen.