81 Jahre nach der Reichspogromnacht haben Vertreter des Judentums am Wochenende vor einem erstarkenden Antisemitismus in Deutschland gewarnt. Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, bezeichnete den Judenhass als «wachsende Gefahr für die ganze Gesellschaft». «Er bedroht die Freiheit jedes Einzelnen in unserem Land - und er kann nur von der Gesamtgesellschaft überwunden werden», sagte Knobloch am 9. November in München bei einer Gedenkveranstaltung zum 9. November 1938.

Der aktuelle Zentralratspräsident Josef Schuster mahnte angesichts zunehmender antisemitischer Vorfälle, einen kühlen Kopf zu bewahren. "Es ist nicht so, dass man sich als Jude in Deutschland verstecken muss", sagte er der Oldenburger "Nordwest-Zeitung". Jedoch gebe es Brennpunkte, insbesondere in den Metropolen. "Ich denke hier zum Beispiel an Berlin oder Dortmund, wo wir Schwerpunkte haben, die man mit Intensität bekämpfen muss."

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, fühlt sich durch Anschlag auf die Synagoge in Halle vor einem Monat an die Zeit vor acht Jahrzehnten erinnert. «Ich sehe Parallelen zwischen dem 9. November 1938 und dem 9. Oktober 2019, dem Tag des Anschlags in Halle auf unsere Synagoge», sagte Privorozki der «Süddeutschen Zeitung».

Denkt an Auswandern

«Wenn wir jetzt keine Maßnahmen ergreifen gegen Antisemitismus und Judenhass, weiß ich nicht, ob die jüdische Gemeinschaft in Deutschland überhaupt noch eine Zukunft hat», erklärte Privorozki. Er selbst denke darüber nach, nach Israel auszuwandern, und das nicht erst seit dem Anschlag. «Ich fühle mich schon seit ein paar Jahren nicht mehr so wohl in meiner Stadt, in meinem Land», sagte er.

Bei dem Anschlag von Halle am 9. Oktober hatte ein schwer bewaffneter Mann zwei Menschen erschossen und auf der Flucht zwei weitere schwer verletzt. Der Täter hatte zuvor erfolglos versucht, in die Synagoge einzudringen. Der 27-Jährige handelte nach eigener Aussage aus antisemitischen und rechtsextremistischen Motiven.

Mit der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 gingen die Nationalsozialisten zur offenen Gewalt gegen die jüdische Minderheit in Deutschland über. Es brannten Synagogen und jüdische Geschäfte, Wohnungen wurden verwüstet und jüdische Bürger misshandelt. Drei Jahre vor Beginn der systematischen Massendeportationen und nach zahlreichen rechtlichen Diskriminierungen erhielt die Verfolgung der Juden mit den Ausschreitungen einen neuen Charakter.

Der Zentralratspräsident Schuster sagte, er könne nachvollziehen, dass in diesem Jahr am 9. November der 30. Jahrestag des Mauerfalls einen besonderen Stellenwert einnehme. Deshalb dürfe man aber nicht die Geschehnisse des 9. November 1938 vergessen, erklärte er. Die Pogromnacht habe jedem deutlich gemacht, in welche Richtung sich der Nationalsozialismus entwickelt.

Düsseldorfer Landtag gedenkt der Opfer der Novemberpogrome

Auch in Nordrhein-Westfalen fanden zum Jahrestag der Reichpogromnacht am 9. November Mahnveranstaltungen statt. Politiker und Gewerkschafter in NRW riefen zu mehr Einsatz gegen Rechtsextremismus auf. "Wir allem müssen dem Antisemitismus die Stirn bieten, ganz gleich, wo er uns begegnet", sagte der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) bei der gemeinsamen Gedenkfeier von Landtag und Landeshauptstadt im Düsseldorfer Rathaus. Er warnte, vom Rechtspopulismus und vom Hass auf alles scheinbar Fremde seien es nur wenige Schritte zum Angriff auf Synagogen.

Landtagsvizepräsidentin Carina Gödecke (SPD) erinnerte an die Opfer der Reichspogromnacht vor 81 Jahren. Die Ausschreitungen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 seien zum "Auftakt der dann folgenden beispiellosen Vernichtung von jüdischem Leben unvorstellbaren Ausmaßes" geworden. Die Vergangenheit könne nicht verändert werden. "Aber wir können und müssen aus ihr lernen", mahnte Gödecke. Vor der Gedenkveranstaltung hatten Vertreter von Land, Stadt und jüdischer Gemeinde am ehemaligen Standort der Düsseldorfer Synagoge einen Kranz niedergelegt.

SPD-Fraktionschef fordert Lagebild Antisemitismus

Der Schatten der Reichspogromnacht reiche bis heute, sagte der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, Thomas Kutschaty, und verwies auf den Anschlag auf eine Synagoge in Halle vor einem Monat. "Seit Jahren steigt die Anzahl der Gewaltdelikte durch rechtsradikale Tatverdächtige kontinuierlich an", erklärte der SPD-Politiker. Auch die Zahl antisemitischer Straftaten nehme stetig zu. "Wir müssen uns endlich bewusstwerden, dass unsere offene und freie Gesellschaft von Rechts bedroht wird." Kutschaty forderte ein Lagebild Antisemitismus und Diskriminierung.

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in NRW rief zu einer "klaren Haltung der ganzen Gesellschaft gegen Antisemitismus" auf. "Wir alle sind gefragt, wenn etwa 'Jude' als Schimpfwort verwendet wird", erklärte der VBE-Landesvorsitzende Stefan Behlau am Freitag in Dortmund. Er forderte eine Stärkung der Bildungsarbeit an den Schulen zu diesem Thema.