Simon Jakobi (42) wählt vor den rund 20 Drittklässlern der Widey-Grundschule in Dortmund klare Worte. Der Schauspieler will wissen, was die Schülerinnen und Schüler tun würden, wenn ein Mann ihnen im Bus seinen Penis zeigen würde. "Da muss man Stopp sagen", ruft ein Junge. Ein anderer meint: "Da hätte ich ein Nein-Gefühl." Jakobi bringt es auf den Punkt: "Wenn jemand dich zwingt, seinen Penis anzuschauen oder dir sagt, du sollst seinen Penis anfassen, ist das sexueller Missbrauch." Er und seine Kollegin Cordula Hein (48) sind mit dem interaktiven Theaterstück "Mein Körper gehört mir" das erste Mal seit dem Corona-Lockdown wieder in einer Schulklasse zu Gast.

Seit mehr als 20 Jahren schickt die Theaterpädagogische Werkstatt mit Sitz in Osnabrück speziell ausgebildete Schauspielpaare wie Jakobi und Hein mit "Mein Körper gehört mir" bundesweit in die Schulen. Sie spielen und schildern Szenen, in denen die körperlichen Grenzen von Kindern überschritten und verletzt werden und thematisieren sexuelle Gewalt. Die Schauspieler arbeiten an drei Tagen jeweils eine Stunde mit den Schülern einer Klasse. "Nur aufgeklärte Kinder haben überhaupt die Chance, sich vor sexuellem Missbrauch schützen", sagt Hein, die schon seit 20 Jahren dabei ist.

Gemeinsam mit ihrem Partner stimmt sie den "Körper-Song" an: "Nein zu sagen, stark zu bleiben, ist oft sehr schwer." Die Kinder kennen ihn schon vom letzten Treffen und stimmen beim Refrain gleich mit ein: "Mein Körper, der gehört mir allein." Simon Jakobi bremst: "Wegen Corona dürft ihr leider nicht mitsingen", sagt er und macht ein trauriges Gesicht. "Aber Summen geht", ergänzt er grinsend und schlägt in die Saiten seiner Gitarre.

Stärkung des Körpergefühls

Die Stärkung des Körpergefühls ist ein zentraler Aspekt des Stückes. Es ermutigt die Kinder, ihrem "Nein-Gefühl" zu vertrauen, sagt Anna Pallas, Gründerin und Chefin der Theaterpädagogischen Werkstatt. "Wir sagen ihnen: Dein Gefühl ist echt. Dein Gefühl hat immer recht." Das ist der erste Schritt für Kinder, dem sexuellen Missbrauch durch einen Erwachsenen vorzubeugen oder ihm zu entkommen.

Kinder bekämen schwere Fälle, die durch die Medien gingen, wie jüngst in Münster, durchaus mit, sagt Hein. "Aber niemand spricht mit ihnen darüber in kindgerechter Form." Auch die Eltern seien häufig verklemmt, wenn es um sexuelle Themen gehe. Ein Kind könne sich aber im Ernstfall nur Hilfe holen, wenn es weiß, dass das, was ein Erwachsener mit ihm macht, falsch und sogar verboten ist. "Dazu wollen wir sie ermutigen und ihnen Wege aufzeigen."

Die Schauspielerin verschwindet hinter der roten Stoffwand und kommt kurz darauf mit Zopfspangen in den Haaren wieder hervor. Stockend beginnt sie vom Kindertreff zu erzählen, in dem ein "sehr netter" Betreuer sie eines Tages gebeten habe, sich nackt auszuziehen. "Er hat dann Fotos von mir gemacht. Das wollte ich eigentlich gar nicht. Und er hat gesagt, ich darf es niemandem erzählen", sagt sie leise.

"Gesellschaft insgesamt nicht ausreichend sensibilisiert2

Dann wendet Cordula Hein sich direkt an die Kinder: "Was hättet ihr an meiner Stelle gemacht?" - "Den Eltern erzählen", schallt es aus dem Publikum. "Genau das hab ich auch gemacht", sagt Hein. "Und es hat funktioniert. Die haben sich sofort um alles gekümmert. Das war toll."

Dass es nicht immer so glatt läuft, weiß Theaterchefin Anna Pallas. Das liege auch daran, dass die Gesellschaft insgesamt nicht ausreichend aufgeklärt und sensibilisiert sei für sexuellen Missbrauch an Kindern. "Und wenn es für mich unvorstellbar ist, dass in meiner Nachbarschaft so etwas stattfindet, dann sehe ich das natürlich auch nicht." Sie fordert Missbrauchsbeauftragte für jede Kommune, die eine Diskussion in Gang bringen könnten.

Schulleiterin Katrin Multmeier ist froh, dass die Stadt Dortmund und der Förderverein der Widey-Grundschule "Mein Körper gehört mir" seit mehr als zehn Jahren finanzieren. Eltern, Lehrer und Kinder seien immer wieder begeistert. Sie wisse von Kollegen in Nachbarschulen, dass Kinder nachher von Missbrauchsfällen berichtet hätten. "Es ist bedrückend zu wissen, dass es rein prozentual auch an unserer Schule betroffene Kinder geben muss."

Mitgefühl und Hilfe zeigen

Im Klassenraum wird es ganz still, als Simon Jakobi in die Rolle eines Jungen schlüpft, der erzählt, dass er von seinem 16-jährigen Bruder missbraucht wird. "Der macht immer so blöde Spiele mit mir. Er fasst mich überall an, auch da, wo ich es nicht mag", stammelt er. "Er sagt, ich muss das mitmachen. Das ist nur ein Spiel. Und wenn das rauskommt, darf ich nicht mehr bei Mama und Papa bleiben."

Der Junge will sich Hilfe holen. Aber weder die Mutter, noch der Fußballtrainer oder der Vater eines Freundes glauben ihm. Schließlich wendet er sich an seine Lehrerin. Die Pädagogin, gespielt von Hein, reagiert besonnen, zeigt Mitgefühl und bietet ihm Hilfe an: "Ich bin stolz auf Dich, dass Du so mutig warst, mir das zu sagen."

Jakobi beendet die Szene. "Ihr habt gesehen, das war nicht einfach für den jüngeren Bruder", sagt er und ergänzt: "Denkt daran: Nicht jeder Erwachsene kann euch helfen. Aber gebt nicht auf. Sucht so lange, bis ihr jemanden gefunden habt." Zum Abschluss verteilen die beiden Schauspieler kleine Kärtchen mit der bundesweiten "Nummer gegen Kummer": "Die könnt ihr immer anrufen, bei allen Problemen. Da sitzen immer Menschen, die euch helfen können."