Manchmal sieht Christiane Steinhauer (Name geändert) ihre Schützlinge jetzt schon morgens um sieben Uhr auf den Spielplätzen. "Sie wissen, das Ordnungsamt kontrolliert so früh noch nicht", erzählt die Schulsozialarbeiterin einer Brennpunktschule aus Baden-Württemberg. Manche der Kinder leben in Familien, in denen sich zehn Personen eine Drei-Zimmer-Wohnung teilen müssen. Viele haben weder Handy noch Laptop. Das sind keine guten Voraussetzungen, um bis zum Ende der Corona-Krise selbstständig zu Hause zu lernen. Auch Lehrkräfte schlagen Alarm: Eine nennenswerte Zahl der Schüler ist seit Wochen praktisch nicht mehr auffindbar.

Seit Mitte März befindet sich das gesamte Schulsystem bundesweit im Ausnahmezustand. Bis auf eine Notbetreuung bleiben alle Schulen geschlossen, stattdessen senden die Lehrer ihren Klassen Aufgaben nach Hause und bleiben über Schul-Portale im Internet in Kontakt. "Meine Bilanz sieht trotz der schwierigen Umstände sehr, sehr positiv aus", sagt Stefanie Hubig, rheinland-pfälzische Bildungsministerin und aktuelle Vorsitzende der Kultusministerkonferenz. Aber selbst sie räumt ein, dass sich ihr Ministerium Sorgen um Familien mache, die "digital nicht gut ausgestattet" sind oder die ihren Kindern nicht die nötige Unterstützung geben können.

Kind nicht erreichbar

Ein Schulleiter aus Rheinhessen wird deutlicher. Von manchen Schülern gebe es seit Schließung der Schule keinerlei Rückmeldung mehr. E-Mails gingen ins Leere, auch telefonisch seien einige Familien nicht zu erreichen. "Noten, Zeugnisse und Versetzungen - solche Dinge lassen sich irgendwie regeln", sagt er. "Aber das ist eine echte Katastrophe."

Rheinland-Pfalz hat als Sofortmaßnahme inzwischen beschlossen, dass rund 25.000 in den Schulen und kommunalen Medienkompetenz-Zentren eingelagerte Rechner an Schüler ausgeliehen werden können. Hubig ist auch offen für den Vorschlag, armen Familien die Anschaffung der nötigen Technik für ihre Kinder zu finanzieren. Derzeit sei das im Bildungs- und Teilhabepaket des Bundes ausdrücklich nicht vorgesehen.

Julia Netzer, Förderschullehrerin aus Hessen, macht in der Corona-Krise auch gegenteilige Erfahrungen. Sie unterrichtet gewöhnlich eine Klasse, in der es allein sechs Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gibt, und eigentlich hätte sie vor Ostern das Thema "Mittelalter" behandelt. Der geplante Bau einer Ritterburg aus Pappe sei nun zum Projekt für zu Hause geworden, die Ergebnisse könnten sich sehen lassen. Manche hätten in der Corona-Krise sogar mehr gearbeitet, als sonst in der Schule.

Aber auch bei ihr fallen Schüler durch das Raster. Bei fünf aus einer elfköpfigen Gruppe wisse sie nicht, ob die seit Mitte März überhaupt etwas gelernt hätten. Ein Kind, das gar nicht erreichbar sei, komme aus einer Familie, in der kaum jemand lesen und schreiben könne: "Da nützt es auch nichts, wenn ich Arbeitsblätter per Post schicke."

"Mutmacherbriefe" scheitern am Datenschutz

"Es trifft die Schicht, die schon immer benachteiligt war", sagt Christiane Steinhauer resigniert. Sie erlebt bei vielen Verantwortlichen den Wunsch, die Krise ohne viel Mühe auszusitzen und vielleicht noch etwas Geld zu sparen. So wurde ihre Arbeitszeit nach Schließung der Schulen sofort um 50 Prozent gekürzt, obwohl viele Schüler gerade in der häuslichen Enge einen Ansprechpartner bräuchten. Als sie den Kindern ihrer Schule "Mutmacherbriefe" schicken wollte, bekam sie keine Adressen - offiziell wegen Datenschutzbedenken. Kontakt zu den Schülern hält sie jetzt nur noch über WhatsApp, obwohl die Nutzung der problematischen App im Schuldienst verboten ist.

"Vielen Schülern geht es psychisch nicht gut", sagt die Sozialarbeiterin. Weil sie es zu Hause oft nicht aushielten und die Arbeitsaufträge der Lehrer nicht verstehen könnten, gebe es für viele nur einen Ausweg - den Erwachsenen so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen und so zu tun, als seien Ferien.