Timon wartet schon, als es an der Tür klingelt. Der 12-Jährige lacht und hält Evelyn Tegeler die offene Hand zum Abklatschen hin. Alle zwei Wochen ist die Bielefelderin einen Nachmittag auf dem Bauernhof der Familie Hagenlüke in Gütersloh zu Gast. Als ehrenamtliche Mitarbeiterin des Hospiz e.V. Bethel begleitet sie den schwerkranken Jungen, seine Eltern, die beiden jüngeren Schwestern und den kleinen Bruder.

Im Rollstuhl fährt Timon an den Tisch in der großen Wohnküche, Evelyn Tegeler setzt sich dazu und beide beginnen zu puzzeln. "Das macht er stundenlang, am liebsten mit anderen", erzählt Stephanie Hagenlüke, Timons Mutter. Tegeler hat - anders als oft die Eltern, die Zeit dafür. Der Junge hat Spaß und allmählich entsteht aus 150 Teilen das Bild eines Treckers.

In solchen Momenten rückt Timons lebensverkürzende Erkrankung in den Hintergrund. Er leidet an einer seltenen Form der Leukodystrophie. Bei der durch einen Gendefekt oft im Kindesalter ausgelösten, unheilbaren Krankheit wird das zentrale Nervensystem geschädigt. Die Betroffenen verlieren nach und nach ihre bereits erlernten Fähigkeiten; viele dieser Kinder sterben früh. Bei Timon würden die Ärzte von einem "eher milden" Verlauf sprechen, doch eine Prognose könne keiner stellen, sagt Vater Jörg Hagenlüke.

Held ist "Spiderman"

"Als ich Timon vor bald zwei Jahren kennenlernte, konnte er noch mit Unterstützung laufen oder mit dem Kettcar fahren", berichtet die Hospizbegleiterin. Mittlerweile sitzt der Junge im Rollstuhl. Auch spricht er nicht mehr so artikuliert und sieht schlechter. Schon lange leidet Timon unter spastischen Krämpfen. Tegeler zeigt sich beeindruckt, wie "positiv und freundlich" er dennoch ist und "wie offen er auf Menschen zugeht". Timon guckt nach der Förderschule gerne den Kinderkanal, mag Comicfiguren - welche am liebsten? "Spiderman", ruft er laut.

Vor 25 Jahren begann der aus einer Initiative von Mitarbeitern der v. Bodelschwinghschen Stiftungen entstandene Hospiz e.V. Bethel mit der Begleitung von schwerstkranken und sterbenden Menschen in ihrem Zuhause. Inzwischen übernehmen 132 Freiwillige nach einer Ausbildung solche Dienste, gehen auch in Pflegeheime, stationäre Hospize und Kliniken. Sie haben Zeit, suchen das Gespräch oder schweigen. Sie erfüllen auch kleine Wünsche im Alltag und geben durch ihre Unterstützung den Angehörigen Freiräume. Bundesweit engagieren sich nach Schätzungen über 100.000 Ehrenamtliche in der ambulanten oder stationären Hospizarbeit, allein 9.400 in Nordrhein-Westfalen.

"Und so fröhlich?"

Evelyn Tegeler ist eine von zwölf ehrenamtlichen Familienbegleiterinnen des Ambulanten Kinderhospizdienstes, den der Hospizverein 2015 neu gegründet hat. Mit dieser Arbeit kam sie eher durch Zufall in Kontakt. Als sie in Berlin ein buntes Plakat für den "Tag der offenen Tür" in einem Kinderhospiz sah, wunderte sie sich: "Ein Hospiz - und so fröhlich?" Tegeler ging hin und stellte fest, dass dort mindestens so viel gelacht wie geweint wurde.

Sie ließ sich ausbilden und begleitete in Berlin fünf schwerkranke Kinder. Vier davon seien inzwischen gestorben, erzählt die 53-jährige Erziehungswissenschaftlerin: "Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, sich mit dem Tod auseinander zu setzen, um den Wert des Lebens zu schätzen." Im stationären Hospiz "Zuversicht" in Bethel hat Tegeler auch Erwachsene begleitet. Wenn Kinder sterben, sei dies besonders schwer auszuhalten, sagt die Hospizhelferin: "Ein Lebenszyklus kann sich nicht schließen. Wenn Menschen im hohen Alter sterben, wird das Leben oft rund."

Im Rolli zum Pferdestall

Auf dem Hof der Hagenlükes tobt auch an diesem Nachmittag das Leben. Die vier Geschwister wachsen miteinander auf, spielen, streiten und vertragen sich wieder - oft kommen weitere Kinder zu Besuch. Timon zieht es nach draußen und Evelyn Tegeler schiebt ihn im "Rolli" zum Pferdestall. Stute Bärbel und Pony Paula fressen ihm aus der Hand. Der 12-jährige mag Pferde, einmal in der Woche bringt seine Mutter ihn zum therapeutischen Reiten. Auch Logopädie steht auf dem Wochenprogramm, damit Timon noch möglichst lange kommunizieren kann. Irgendwann wird er durch die Krankheit gar nicht mehr sprechen und hören können.

Einen festen Ablauf haben die Besuche der Begleiterin bei der Familie nicht. "Ich bin da und gucke, was gerade anliegt", sagt Tegeler. Mal puzzelt sie mit Timon, mal backt sie mit den Kindern Waffeln, oft aber geht es mit der "Kinderbande" hinaus in die Umgebung samt Rollstuhl, Kettcar, Fahrrad oder Roller. Wichtig ist ihr, dass sie, wenn nötig, allen Kindern ihre Aufmerksamkeit widmet, Zwischendurch ist immer mal Zeit für Gespräche mit den Eltern, "über das, was uns gerade bewegt", sagt Jörg Hagenlüke.

Selbsthilfeverein

Die Familie hat gelernt, mit der schweren Erkrankung Timons zu leben, getragen auch durch den Selbsthilfeverein ELA, der zu Treffen betroffener Familien einlädt und die Forschung zu Leukodystrophie unterstützt. Als Stephanie Hagenlüke von dem stationären Kinder- und Jugendhospiz in Bethel erfuhr, dachte sie erst: "Hospiz - das klingt so sehr nach Ende." Inzwischen ist die Skepsis überwunden und die Hagenlükes fahren zwei-, dreimal im Jahr für eine Woche nach Bethel. Hier wird Timon im Kinderhospiz pflegerisch betreut, Eltern und Geschwister können entspannen.

Die ehrenamtlichen Begleiter des Hospizvereins tauschen sich regelmäßig über ihre Erfahrungen aus. Über eventuelle Belastungen könne sie auch mit ihrem Mann sprechen, sagt Tegeler. Doch sie empfindet sich selbst nach eigenen Worten eher als Beschenkte: "Ich gebe ja nur meine Zeit", erzählt sie. Oft fahre sie nach dem Dienst mit einem Gefühl der Dankbarkeit nach Hause: "Dass sich eine Familie mir so öffnet und mir ihre Kinder anvertraut, berührt mich sehr".