Lothar de Maizière war der erste demokratisch gewählte und zugleich letzte Ministerpräsident der DDR. Am 2. März wird der Rechtsanwalt und ehemalige CDU-Politiker 80 Jahre alt. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) schaut er zurück auf 30 Jahre Wiedervereinigung und wagt einen Blick in die Zukunft.

epd: Herr de Maizière, Sie werden am 2. März 80 Jahre alt, die Wiedervereinigung jährt sich in diesem Jahr zum 30. Mal - wie wollen Sie, dass man sich an Sie als ersten demokratisch gewählten und zugleich letzten Ministerpräsidenten der DDR in der Geschichtsschreibung erinnert?

de Maizière: Helmut Kohl hat bei jeder Handlung daran gedacht, wie sie sich im Geschichtsbuch niederschlägt. Das war für uns nicht möglich. Wir mussten am Ende der DDR sehen, wie wir den täglichen Verlauf noch halbwegs vernünftig strukturieren und dass das Land nicht gleich zusammenbricht. Wir bekamen jeden Tag neue Hiobsmeldungen: ...da geht der Betrieb nicht mehr, das funktioniert nicht mehr, die brauchen wieder Geld … und, und, und. Ich habe versucht, diesem Prozess der Vereinigung Struktur zu geben. Mein Ziel war es, dass die Ostdeutschen nicht unter die Räder kommen.

epd: Und ist Ihnen das gelungen?

de Maizière: Ich denke weitgehend schon. Da wo ich erkennen konnte, dass es problematisch wird, habe ich versucht hart zu bleiben. Etwa bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen, Ausbildungsabschlüssen, akademischen Graden. Der Westen war zunächst nicht bereit diese anzuerkennen. Die alten Länder fürchteten um ihre Hoheit in Bildungsfragen und wollten nicht, dass wir diese Fragen in den Einigungsvertrag mit aufnehmen. Mein Gegenargument war: Ich habe keine Länder in der DDR. Und ich komme nicht mit einem Volk von Analphabeten, sondern mit ausgebildeten Menschen und unzähligen Erwerbsbiografien. Das war schwierig durchzusetzen. Dies ist mir gelungen im Einigungsprozess, anderes weniger. Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte als Verhandlungsführer mehr als andere Westpolitiker begriffen, dass der Einigungsvertrag weder ein Kaufvertrag, noch ein Pachtvertrag ist, sondern ein "Contrat social", also ein Vertrag, der die Bedingungen regelt, nach denen wir danach ein gemeinsames Volk sein wollen.

epd: Ihre aktive Zeit als Politiker dauerte gut ein Jahr. Sie haben einmal geschrieben, dass Sie es bereuen, erst im September 1991 und nicht schon am 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, aus der Politik ausgeschieden zu sein. Warum?

de Maizière: Im Prinzip war das, wozu ich Ende 1989 in die Politik gegangen bin, getan. Ich habe versucht, als oberster Repräsentant der DDR Einfluss auf die Entwicklung zu nehmen. Es wäre mir schwergefallen, ein gesamtdeutscher Politiker zu werden. Man hat auf uns Ostdeutsche im westdeutschen Politikbetrieb auch nicht unbedingt gewartet. Sie müssen bedenken, ich war 50 als ich mit der Politik begann; im Gegensatz zu Angela Merkel, die war 1990 eine junge Frau. Der größte Teil meines bewussten Lebens hatte sich also bereits in der DDR abgespielt. Ich hätte auch nicht gewusst, welcher Posten für mich angemessen gewesen wäre. Wir hatten damals überlegt, ob es einen ostdeutschen Wiedervereinigungsminister oder Aufbauminister Ost geben sollte. Der hätte aber bei jedem Kabinettskollegen erst einmal betteln müssen, um etwas von dessen Etat und Kompetenzen abzubekommen. Es gab ja kein Vorbild, nach dem man sich richten konnte.

epd: Wären Sie in der Politik geblieben, wenn Ihnen ein Posten angeboten worden wäre?

de Maizière: Wenn es ein Posten gewesen wäre, von dem ich gesagt hätte, das kann kein anderer. Dann hätte ich gesagt: Dann musst Du wohl! Ich habe mein In-der-Politik-sein immer als Pflicht angesehen. Wir haben in der Kirche und in der Bundessynode der evangelischen Kirchen der DDR immer wieder betont, dass wir einen Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe hätten. Als es 1989 dann soweit war, waren aber nur wenige bereit, sich auch in die Pflicht nehmen zu lassen. Noch am Abend des 18. März 1990 - dem Wahlsieg der "Allianz für Deutschland" bei den ersten freien Volkskammerwahlen - hatte ich mir überlegt, ob ich mich wirklich zum Ministerpräsidenten wählen lassen soll. Ich wusste, dass ich vor allem Konkursverwalter sein werde.

epd: Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls im vergangenen Herbst ist viel über Unzufriedenheit, Benachteiligung und fehlende Wertschätzung der Ostdeutschen diskutiert worden. Wie lautet Ihre Analyse?

de Maizière: Die Debatte wäre viel früher notwendig gewesen. Tatsächlich fehlen aber Ostdeutsche in Führungspositionen, sei es bei Gerichten, in Hochschulen oder großen Unternehmen. Bislang gibt es nur wenige Bundesbehörden in ostdeutschen Ländern, etwa das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig oder das Umweltbundesamt in Dessau-Roßlau.

epd: Was sagen Sie zu dem gesamtdeutschen Phänomen AfD, die aber bedeutend höhere Wahlergebnisse in ostdeutschen Landtagen eingefahren hat als im Westen?

de Maizière: Die Stichwortgeber kommen alle aus dem Westen - Alexander Gauland, Björn Höcke, Alice Weidel, Jörg Meuthen, alles Wessis! Sie holen mit ihren Reden die Ostdeutschen ab, wo sie stehen. Mit ihrer Unzufriedenheit haben sie sich nach der Wiedervereinigung zunächst an die PDS gewandt. Die ist aber jetzt im System angekommen, besetzt Ministerposten und regiert in manchen Ländern mit. Jetzt tummeln sich die Unzufriedenen bei der AfD.

epd: Die Unzufriedenheit erscheint aber sehr diffus - wie würde unsere Gesellschaft denn aussehen, wenn mehr Ostdeutsche an den Schalthebeln sitzen würden?

de Maizière: Schwierig zu sagen; Geschichte denkt in Generationen. Sicherlich sind es die biografischen Brüche, die den Leuten bis heute zu schaffen machen. Viele mussten in den 1990er Jahren die Betriebe, in denen sie vielleicht Jahrzehnte lang gearbeitet haben, selbst abwickeln oder gar buchstäblich abreißen. Oder denken Sie an den Mittelbau in den Hochschulen. Diejenigen, die zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen immer nur in der zweiten Reihe standen, kamen auch nach der Wiedervereinigung nicht zum Zuge. Da wurden ihnen Leute aus dem Westen vor die Nase gesetzt. Auch beim Aufbau kommunaler Infrastrukturen, denken Sie an die Abwasserverbände, sind in den 1990er Jahren im Osten Fehler gemacht worden. So sind etwa in Brandenburg einfach die Konzepte aus Nordrhein-Westfalen kopiert worden.

epd: Haben Sie eine Empfehlung für den Umgang mit den Rechtspopulisten?

de Maizière: Wenn ich das hätte, würde ich jeden Tag auf der Straße stehen und Reklame machen. Dass die AfD so stark ist, macht mich traurig.

epd: Befürchten Sie, dass sie noch stärker wird?

de Maizière: Ich habe eher die Hoffnung, dass die Leute merken, dass da viel Schwindel dabei ist. Noch wird die AfD gewählt, weil die Menschen es "denen da oben" mal zeigen wollen, aus Trotz; so wie sie früher die PDS gewählt haben.

epd: ...von wegen ostdeutsche Führungspersonen: Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist in der DDR aufgewachsen...

de Maizière: Frau Merkel ist ein Phänomen für sich. Im Bewusstsein der Menschen ist sie keine CDU-Politikerin, sondern die Leute denken, "die ist da oben und macht das schon". Sie ist in ihrem Denken so formallogisch und naturwissenschaftlich.

epd: Wer wird ihr nachfolgen?

de Maizière: Sie werden sehen, wenn Frau Merkel nicht mehr Kanzlerin ist, werden die Leute ihr sehr bald nachjammern und sagen: "Ach hätten wir die doch behalten." Ich sehe niemanden in der Union, der eine Vorstellung entwickelt, wie unsere Gesellschaft in zehn Jahren aussehen soll. Wir haben heute noch keine Vorstellung davon, welche Werte unser Land tragen sollen, wie beispielsweise künftig Solidarität definiert wird.

epd: Sie selbst haben einmal in einem Buch über die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und die Energiewende eine "konsequente Transformation zu einer ökosozialen Marktwirtschaft" und zu einer "Kultur der Mäßigung" angemahnt. Wie weit sind wir damit?

de Maizière: ...noch nicht weit. Schuld daran ist auch eine bestimmte Fortschrittsfeindlichkeit in der Gesellschaft. Die nächsten Regierungen werden ohne grüne Beteiligung nicht auskommen. Das finde ich problematisch. Denn ich erlebe gerade die Grünen überwiegend als Verhinderer technischer Innovationen. Jüngstes Beispiel: die Proteste gegen die Waldrodungen im Zusammenhang mit der geplanten Ansiedelung eines Tesla-Werkes in Brandenburg.

epd: Zugleich haben Sie aber auch einmal sinngemäß geschrieben, dass sich das volle Innovationspotenzial einer Gesellschaft nur in einer freiheitlichen Demokratie entwickeln kann. Wie kommen Sie zu so einer Schlussfolgerung?

de Maizière: Das Potenzial ist letztendlich da. Wenn ich an den 4. November 1989 und die Demonstration auf dem Alexanderplatz denke, an die ganzen Reden und Transparente. Da wehte ein Witz und Geist über den Platz. Die friedliche Revolution von 1989 ist der beste Beweis, dass Freiheits- und Verantwortungsstreben der Menschen die wirksamste Verdrängungsmacht einer Gesellschaft ist.