Nach der umstrittenen ersten Obdachlosenzählung in Berlin hat der Frankfurter Professor Nikolaus Meyer die erhobenen Daten als Momentaufnahme "vom Stand einer Nacht im Januar" bezeichnet. "Das ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive nicht mehr und auch nicht weniger", sagte der Armutsexperte dem Evangelischen Pressedienst (epd). Man müsse die Erwartungen an die Zählaktion herunterschrauben. Wer eine ganz "sichere" Zahl erwartet habe, begreife das Phänomen der Obdachlosigkeit nicht: "Es ist durch Mobilität und dem Wunsch nach einem sicheren Rückzugsort geprägt."

Meyer sprach sich für weitere Datensammlungen aus. "Wir kennen die konstante Zahl von obdachlosen Menschen in Berlin über das gesamte Jahr nicht." Ähnlich schlecht sei der Wissensstand in den allermeisten deutschen Großstädten.

Zu der großen Diskrepanz zwischen den vermuteten und den ermittelten Zahlen obdachloser Menschen, sagte der Fachmann, mehrere Tausend Betroffene könnten sich zur Zählung nicht versteckt haben. "Sicher sind einzelne Obdachlose in angrenzende Kommunen gewechselt, auch waren Personen in den Parks, wo ja nicht gezählt wurde. Ebenso wurde nicht in Abrisshäusern oder auf Privatgrundstücken gezählt." Es gebe also gute Gründe davon auszugehen, dass die Zahl der Obdachlosen etwas höher als ermittelt ist.

Die vorliegenden Zahlen seien trotz aller Kritik eine wichtige Momentaufnahme. "Insgesamt bräuchten wir in der gesamten Bundesrepublik eine dauerhafte Beobachtung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit." Dazu sollte die Bundesregierung prüfen, ob nicht zusätzlich zur Stichtagsregelung auch eine Jahresgesamtzahl erhoben werden könne. Zur Frage, ob es gut war, die Zählung öffentlich breit anzukündigen, sagte Meyer: "Eine heimliche Zählung wäre völlig falsch gewesen und rechtlich sicher mehr als fragwürdig."

Die jetzt angewendete Methode sei deutschlandweit nutzbar. "Das Thema Obdachlosigkeit ist auf einmal im Diskurs der Gesellschaft präsent. Hier liegt aus meiner Sicht der Mehrwert der Befragung: Sie konfrontiert die Gesellschaft mit einem Phänomen, dass die Menschen sonst gerne ignorieren möchten."