Erfurt (epd). In Thüringen droht sich die Pflegesituation zu verschärfen. Etwa 6.000 der 80.000 Männer und Frauen im Land, die gegenwärtig Angehörige betreuen, stehen nach einer Schätzung der Barmer kurz davor oder haben sich bereits dazu entschieden, die Pflege aufzugeben. Eine Ursache dafür sei der höhere Krankenstand der Pflegenden, sagte die Landesgeschäftsführerin der Krankenkasse, Birgit Dziuk, am 24. Januar in Erfurt. Laut Barmer-Pflegereport leiden pflegende Angehörige insbesondere unter Rückenbeschwerden, psychischen Belastungsstörungen und Schlafmangel.
Dabei seien die pflegenden Angehörigen ein unverzichtbarer Pfeiler des gesamten Betreuungssystems. Mehr als drei Viertel (75,3 Prozent) der Pflegebedürftigen würden im Freistaat zu Hause und 24,7 Prozent in Heimen betreut. Angehörige machten in Thüringen damit den größten Pflegedienst aus, so Dziuk. Mit ihrer Motivation aus Liebe und Pflichtbewusstsein leisteten sie zwar einen unschätzbaren Dienst an der Gesellschaft, "oftmals kommen die eigenen Bedürfnisse dabei aber zu kurz und sie werden selbst krank", sagte Dziuk.
Laut Barmer pflegt etwa die Hälfte der Betroffenen in Deutschland einen Partner; bei 28 Prozent seien es Vater, Mutter oder sogar beide Eltern. Dabei hätten mit 40 Prozent der Helfenden viele schon ein Alter von 60 Jahren oder mehr erreicht. Wegen ihres Alters oder der Belastung durch die Pflege gingen zwei Drittel keiner Erwerbstätigkeit nach. Etwa jeder vierte pflegende Angehörige habe seine Arbeit zudem wegen der zusätzlichen Belastung verkürzt oder ganz aufgegeben, ermittelte die Krankenkasse.
Weil es ohne Angehörige nicht gehe, müssten sie bei der Pflege und darüber hinaus frühzeitig unterstützt, umfassend beraten und von überflüssiger Bürokratie entlastet werden, forderte die Thüringer Chefin der Barmer. Dafür brauche es vor allem mehr Transparenz über die bestehenden Angebote. Der Pflegereport mache deutlich, dass sich rund 40 Prozent der pflegenden Angehörigen bessere Informationen darüber verlangten, wo sie Hilfe bekommen könnten. Etwa die Hälfte wünsche sich eine bessere Aufklärung über die gewährten Leistungen und Hilfsmöglichkeiten.
In den vergangenen Jahren habe sich auf diesem Gebiet viel bewegt, versicherte Dziuk. Sie verwies dabei unter anderem auf die Beauftragung einer Kurzzeitpflege nach einem Krankenhausaufenthalt oder Zuschüsse bis zu 4.000 Euro für Arbeiten, die das Lebensumfeld der Pflegebedürftigen verbesserten. Das erleichtere auch den Angehörigen das Leben. Wenig bekannt sei die sogenannte Verhinderungspflege. Sie erlaube, für eine Zeit der Erholung - sei es nun ein Kinobesuch oder eine Urlaubsreise - die Dienste eines professionellen Pflegedienstes in Anspruch zu nehmen.
Damit der Spagat zwischen Pflege und Beruf besser gelingen kann, bietet die Thüringer Agentur für Fachkräftegewinnung inzwischen Unternehmen die Möglichkeit, Mitarbeiter zu qualifizieren. Mehr als 100 solcher "Betrieblicher Pflegelotsen" verteilt auf derzeit 74 Unternehmen gibt es nach ihren Angaben mittlerweile in Thüringen.
Die Zahl der Pflegebedürftigen ist im Zuge gesetzlicher Veränderungen in Thüringen im vergangen Jahr deutlich angestiegen. Zum Stichtag 15. Dezember 2017 zählten laut Landesamt für Statistik 115.620 Männer und Frauen im Freistaat zu dieser Gruppe - 21.340 oder 22,6 Prozent mehr als Ende 2015. Hintergrund des Anstiegs sei das Inkrafttreten des zweiten Pflegestärkungsgesetzes: Menschen mit körperlicher, kognitiver oder psychischer Beeinträchtigung erhielten nun gestaffelt nach fünf Schweregraden Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung, hieß es.