Kirchen

Ökumenischer Kirchentag: "Wir halten uns an die Regeln"


Bettina Limperg und Thomas Sternberg (Archivbild)
epd-bild/Heike Lyding
In Deutschland steigen die Corona-Fallzahlen, doch die Veranstalter des 3. Ökumenischen Kirchentags (ÖKT) im Mai 2021 haben entschieden: Das christliche Laientreffen soll stattfinden. Wie und unter welchen Bedingungen, darüber sprach der Evangelische Pressedienst (epd) mit den beiden Präsidenten des ÖKT in Frankfurt am Main, Bettina Limperg und Thomas Sternberg.

epd: Ist es da nicht äußerst riskant, eine Großveranstaltung für 30.000 Menschen im kommenden Frühjahr zu planen?

Bettina Limperg: Wir haben es uns ganz gewiss nicht leicht gemacht. Alternativ hätten wir den 3. Ökumenischen Kirchentag absagen oder ein rein virtuelles oder "Kongress"-Format planen können. Aber nach allem, was wir heute wissen, auch nach Beratung mit Virologen und Medizinern, können wir die Veranstaltung so verantworten. Nach diesem Kenntnisstand und in engem Kontakt mit den beteiligten Behörden können wir ein Programm für 30.000 Personen in Frankfurt und der Region anbieten. Uns ist vollkommen klar, welche Verantwortung wir damit übernehmen. Wir werden den Kirchentag in Frankfurt am Main nur dann tatsächlich veranstalten, wenn wir dieser Verantwortung auch im Mai 2021 noch gerecht werden können.

Thomas Sternberg: Mir ist wichtig, dass wir den Ökumenischen Kirchentag unter Corona-Bedingungen neu denken. Ich sehe auch die Chance für neue Formate, die wir jetzt entwickeln. Die Abläufe für die in Frankfurt geplanten Gottesdienste werden wir in ganz Deutschland verbreiten. Dann können Gemeinden vor Ort wie auf den Kirchentag ökumenisch mitfeiern. Das Frankfurter Ereignis kann dann nicht nur privat und einsam in den eigenen vier Wänden, sondern auch in Gemeinschaft miterlebt werden.

epd: Von Kirchentagen sind wir volle Hallen mit Warteschlangen davor gewöhnt. Wie stellen Sie sicher, dass das nicht eintritt und sich niemand infiziert?

Sternberg: Wir werden nicht leichtfertig sein. Wir werden keine Regeln überschreiten. Wir wollen einen Kirchentag in öffentlicher und politischer Verantwortung. Auf die Impfung werden wir nicht vertrauen können. Aber verlässliche Schnelltests könnten für uns mitentscheidend sein.

Limperg: Die Experten sagen uns, dass Schnelltests Großveranstaltungen unterstützen könnten. Sie sind eines der vielen Mosaiksteine unseres Konzepts. Der Vorteil dieser Tests ist, dass das Ergebnis in weniger als einer Stunde verfügbar ist. Das könnte die Planungen wesentlich erleichtern, wenn wir an internationale Gäste, Podiumsteilnehmende oder auch die Gemeinschaftsquartiere denken.

epd: Gibt es Konzepte, wie man die Besucher besser lenken kann?

Limperg: Ja, wir arbeiten intensiv an diesen Themen, die ja auch Teil der Genehmigungsverfahren unseres Hygienekonzepts sind. Es wird Anmeldeverfahren zu Veranstaltungen geben, und wir werden Teilnehmerzahlen immer wieder begrenzen müssen. Natürlich werden niemals 30.000 Menschen an einem Platz sein, sondern sie verteilen sich auf das gesamte Stadtgebiet und die Region. Der Kirchentag wird dezentraler und hybrid. Das heißt, an einer Veranstaltung können Tausende Menschen teilnehmen, aber nur 500 von ihnen sind vor Ort, und viele andere sind digital zugeschaltet - und zwar nicht in digitaler Einsamkeit, sondern vielleicht aus einem Gemeinderaum in München, einem Krankenhaus oder einem Altenpflegeheim. Auf diese Weise könnten auch Menschen teilhaben, die sonst gar nicht kommen könnten.

epd: Kann unter diesen Bedingungen überhaupt die heimelige und teils mitreißende Atmosphäre von Kirchen- und Katholikentagen entstehen?

Sternberg: Natürlich bleibt ganz viel auf der Strecke. Wir geben uns ja nicht mal mehr die Hand - das einfachste Zeichen europäischer Kultiviertheit und gegenseitiger Höflichkeit.

Limperg: Es wird nicht die enggedrängten, singenden Massen geben. Aber: Hygienestationen, 1,50 Meter Abstand und Mund-Nasenschutz sind immer noch besser als eine Videokonferenz. Es wird eine neue Form von Gemeinschaft geben. Sich zu begegnen, tut uns einfach gut. Wir sehen, dass die Menschen das starke Bedürfnis nach Gemeinschaft haben. Und auch wenn gerade etwa Familienfeiern in der Kritik stehen: Sie zeigen genau dieses Moment. Für diese Gefühle und Bedürfnisse wollen wir Angebote schaffen - die wir zugleich mit Disziplin und Vorsorge begleiten werden.

epd: Egal, ob es um das Thema Sterbehilfe oder Schwangerschaftskonflikte geht, die evangelische und katholische Kirche tun sich momentan schwer, gemeinsame Positionen zu finden. Welches Zeichen für die Ökumene setzt dieser Kirchentag?

Limperg: Unser Leitwort lautet "schaut hin". In der Vergangenheit war ein Vorwurf an Kirchentage, dass es kaum Kontroverse gibt. Wir werden natürlich auch über strittige Dinge reden. Das ist beispielsweise die Sterbehilfe, und es ist auch das unterschiedliche theologische Verständnis der Mahlfeier. Wir wollen nicht nur dahin schauen, wo es schön ist, sondern auch dahin, wo es etwas zu besprechen gibt.

Sternberg: Es ist gut, wenn wir 2021 das Zeichen senden, wir diskutieren nicht nur über uns selbst, sondern wissen um unseren gemeinsamen christlichen Auftrag, die Welt mitzugestalten - angefangen beim Kampf gegen den Klimawandel, der Finanzordnung, Strukturen der Macht, beim Schutz der Demokratie und weltweiter Gerechtigkeit. Ich habe den Eindruck, dass wohl auch unsere ökumenischen Kirchentage dafür gesorgt haben, dass Katholikentage längst viel evangelischer und evangelische Kirchentage viel katholischer geworden sind.

epd: Bei der eucharistischen Gastfreundschaft hat die jüngste Intervention aus dem Vatikan zu einer Vertagung der Entscheidung in der Bischofskonferenz geführt. Wird es die eucharistische Gastfreundschaft auf dem Kirchentag wirklich geben?

Limperg: Wir gehen davon aus, dass wir die beschlossenen Konzepte umsetzen. Wir freuen uns sehr darauf. Das ist ein großer Schritt in der praktischen, gelebten Ökumene und in der Sichtbarkeit unserer Gemeinsamkeiten. Es war uns immer klar, dass das Themen sind, die vielleicht theologisch noch nicht zu Ende diskutiert sind. Wir sind aber auch nicht "die" Kirche, wir sind vor allem Laienbewegungen. Und: Wir stellen eine Gewissensprüfung in den Mittelpunkt, die für alle Christinnen und Christen immer eine wichtige Instanz sein sollte.

Sternberg: Der Vatikan hat gesagt, dass das Papier des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen "Gemeinsam am Tisch des Herrn" theologisch nicht ausreicht. Das heißt für mich, dass ich mich bei meiner Gewissensentscheidung beim 3. Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt nicht auf dieses Papier berufen werde. Wir werden aber natürlich für den ÖKT bei unserer Konzeption bleiben.

epd: Herr Sternberg, würden Sie unter den gegenwärtigen Bedingungen im Mai an einer evangelischen Abendmahlsfeier teilnehmen?

Sternberg: Ich möchte das im Moment nicht beantworten. Die Fragen, die da diskutiert werden, sind keine Petitessen. Aber jeden Sonntag müssen Tausende konfessionsverbundene Familien die Entscheidung treffen, welcher Gottesdienst besucht wird. Denen ist nur sehr schwer verständlich zu machen, wie die Feinheiten katholischen und evangelischen Amtsverständnisses aussehen.

epd: Kirchentag unter Corona-Bedingungen: Macht Ihnen Ihre Aufgabe unter den aktuellen Umständen eigentlich Spaß?

Limperg: Es ist ein hartes Stück Arbeit und macht nicht immer Spaß. Uns drückt beide die Verantwortung, und das wird in den nächsten Monaten auch so bleiben. Wir haben aber ein ganz starkes Team. Es ist auch wieder schön, wenn man gemeinsam auf dem Berg steht und den Horizont sieht, nachdem der Nebel sich aufgelöst hat. Es macht mir Freude, weil dieser Kirchentag gerade in dieser Zeit so unbedingt lebensrelevant ist.

Sternberg: Es macht auch deshalb nicht immer Spaß, weil hier zwei Apparate und zwei Traditionen aufeinandertreffen. Hinter den Kulissen ist auch unter Personen, die sich gut verstehen, viel Abstimmung nötig. Mir macht es vor allem wieder mehr Spaß, wenn wir uns endlich wieder physisch treffen können.

epd-Gespräch: Franziska Hein und Karsten Frerichs


Bischöfe haben Vorbehalte gegen eucharistische Gastfreundschaft


"Inoffizieller" Abendmahlsgottesdienst beim 2. Ökumenischen Kirchentag 2010 in München, mit dem katholischen Theologen Hasenhüttl.
epd-bild / Stefan Arend

Führende katholische und evangelische Bischöfe haben weiter Vorbehalte gegen die eucharistische Gastfreundschaft zum jetzigen Zeitpunkt. In dieser Hinsicht bedürfe es noch weiterer Klärung, hieß es in einem am 6. Oktober von der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) veröffentlichen Dokument zum Prinzip der wechselseitigen Öffnung von Eucharistie und Abendmahl für Christen anderer Konfessionen. Diese hatten evangelische und katholische Theologen im vergangenen Jahr vorgeschlagen.

Der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen hatte im September 2019 sein Votum mit dem Titel "Gemeinsam am Tisch des Herrn" veröffentlicht, das sich für eine mögliche Teilnahme von Protestanten an der katholischen Eucharistie und Katholiken am evangelischen Abendmahl ausspricht, ohne dass konfessionelle Unterschiede geleugnet würden. Das Prinzip der sogenannten eucharistischen Gastfreundschaft wird vor allem mit Blick auf den 3. Ökumenischen Kirchentag im Mai 2021 in Frankfurt am Main diskutiert.

Sichtbares Zeichen der Kirchentrennung

In Abendmahl und Eucharistie erinnern Christinnen und Christen aller Konfessionen an den Tod Jesu am Kreuz und seine in der Bibel beschriebene Auferstehung - und damit an die zentrale Botschaft der christlichen Religion. Dass Protestanten und Katholiken nicht gemeinsam Abendmahl feiern können, ist das sichtbare Zeichen für die Kirchentrennung seit der Reformation.

Die jetzt veröffentlichte Stellungnahme von Bischofskonferenz und EKD würdigt das Votum des Arbeitskreises als "theologisch kenntnisreichen und differenzierten Beitrag". Das Votum werfe aber auch theologische Fragen auf. Die Tragweite der Fragen werde von evangelischer und katholischer Seite unterschiedlich bewertet. Für die katholische Kirche seien die offenen Fragen so gewichtig, dass sie sich nicht in der Lage sehe, vor deren Klärung eine wechselseitige Teilnehme generell zu erlauben. Für die evangelische Seite sei das gemeinsame Taufverständnis die Grundlage für die Einladung zum Abendmahl.

Skepsis im Vatikan

Die Bischöfe schreiben aber in ihrer Stellungnahme, die auch vom Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, und vom Ratsvorsitzenden der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, verfasst wurde, dass das Votum eine Grundlage für die "individuelle Gewissensentscheidung einzelner Gläubiger" sein könne, wechselseitig zur Eucharistie und zum Abendmahl zu treten.

Die Stellungnahme von DBK und EKD wurde bereits im Mai verfasst, aber erst jetzt veröffentlicht. Die Herbstvollversammlung der Bischofskonferenz hatte Ende September in Fulda eine Entscheidung darüber vertagt, weil der Vatikan theologische Zweifel an dem Votum der Theologen geäußert hatte. Daraufhin hatte Bätzing angekündigt, die Stellungnahme von DBK und EKD zu veröffentlichen.



Friedenspreis an Marx und Bedford-Strohm verliehen


Augsburger Friedenspreis für Bedford-Strohm und Marx
epd-bild/Annette Zoepf
Landesbischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx haben den Augsburger Friedenspreis für ihr ökumenisches Wirken erhalten. Sie bedauern die Rom-Absage ans gemeinsame Abendmahl, geben sich aber kämpferisch. Ihr Preisgeld spenden sie für soziale Zwecke.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, hat zusammen mit Kardinal Reinhard Marx am 10. Oktober den Augsburger Friedenspreis erhalten. Alt-Bundespräsident Joachim Gauck würdigte beide als "Vorbilder ökumenischer Verständigung" und als "Vorbilder im Sinne von Haltung, im Sinne von Grundwerten, im Sinne von Orientierung". Die Bischöfe seien durch ihre christlichen Werte wie Solidarität, Gerechtigkeit und Hoffnung über konfessionelle Unterschiede hinweg miteinander verbunden.

Oberbürgermeisterin Eva Weber (CSU) sagte, die Preisträger zeigten in ihrem "Aufeinander zugehen" etwas, von dem man auch außerhalb des kirchlichen Kontextes lernen könne. Sie konzentrierten sich "auf das, was verbindet und nicht auf das, was trennt". Damit setzten sie nicht nur für das Miteinander der Konfessionen ein Zeichen, "sondern auch für unsere Demokratie", sagte Weber.

"Einheit höher stellen als Zerrissenheit"

Bedford-Strohm sagte, die Auszeichnung sei für ihn eine "große Freude, große Ehre". Er sei überzeugt, dass "die Religionen, dass die christliche Religion in der ersten Reihe stehen müssen, wenn es um das Engagement für den Frieden geht - innen wie nach außen". Die Kirchen könnten nur glaubwürdig nach außen wirken, wenn sie eigene traditionelle Abgrenzungen überwänden. Spätestens seit den Vorbereitungen auf die Feierlichkeiten zu 500 Jahre Reformation im Jahr 2017 sei ihm klargeworden, dass Kirche - wenn sie ihren Auftrag ernst nehme - "nur einen ökumenischen Weg" gehen könne, sagte der Theologe, der auch bayerischer Landesbischof ist.

Marx sagte, es falle ihm als gebürtigen Westfalen grundsätzlich eher schwer, ein Lob anzunehmen - auch wenn man es trotzdem gerne höre: "So ein Lob trifft einen Nerv, dass man unsicher wird." Er habe die lobenden Worte Gaucks "eher als Ermutigung verstanden", weiter so zu machen wie bislang. Der Münchner Erzbischof betonte, zur Ökumene brauche es den Willen, "die Einheit höher zu stellen als die Zerrissenheit". Man dürfe "nicht die Fehler des anderen und die Haare in der Suppe der Vergangenheit" suchen, sondern vielmehr das Verbindende.

"Werden nicht locker lassen"

Marx sagte dem Sender Bayern2 zur Absage des Vatikans an das gemeinsame Abendmahl von Katholiken und Evangelischen, es sei mühsam - er sei aber guter Hoffnung, das gemeinsame Abendmahl noch zu erleben. Bedford-Strohm zeigte sich in dem gemeinsamen Interview enttäuscht über die römische Absage. Man sei hier aber noch nicht am Ende: "Wir werden nicht locker lassen, das kann ich versprechen."

Gauck sagte in seiner Laudatio, die Preisträger machten in ihrem ökumenischen Bemühen immer wieder deutlich, dass unterschiedliche Ansichten und Glaubensüberzeugungen einem vernünftigen Dialog, einem friedlichen Miteinander niemals im Wege stehen müssen. Zwischen Bedford-Strohm und Marx sei dabei etwas ganz Beglückendes geschehen: eine persönliche Freundschaft, die auf Vertrauen und theologischer Wertschätzung basiere. Das zeige, dass die Ökumene zwischen den Kirchen lebt.

Bedford-Strohm und Marx sind langjährige Weggefährten: Seit 2008 ist Marx Erzbischof von München und Freising, 2011 wurde Bedford-Strohm bayerischer evangelischer Landesbischof. Und auch auf Bundesebene bildeten die zwei Kirchenmänner jahrelang ein enges ökumenisches Duo: Von 2014 bis 2020 war Marx Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Bedford-Strohm ist seit 2014 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Preisgeld an Sant'Egidio

Der mit je 12.500 Euro pro Preisträger dotierte Friedenspreis wird seit 1985 alle drei Jahre von der Stadt Augsburg und der Landeskirche für Verdienste um ein tolerantes und friedvolles Miteinander von Kulturen und Religionen vergeben. Marx und Bedford-Strohm kündigten an, ihr Preisgeld der "ökumenisch offenen" Laienbewegung Sant'Egidio für deren Alten- und Obdachlosenarbeit in Bayern zu spenden.

Unter den Trägern des Augsburger Friedenspreises waren der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker und der Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow. Der Preis wird im Rahmen des Augsburger Friedensfestes verliehen. Es wurde von den Augsburger Protestanten 1650 erstmals zum Dank an den Westfälischen Frieden von 1648 begangen.

Von Daniel Staffen-Quandt (epd)


Ulmer Münster will im Advent keinen "schwarzen" König zeigen


Die umstrittene Melchior-Figur der Krippe im Ulmer Münster.
epd-bild/Evang. Dekanatamt Ulm

Im Ulmer Münster wird dieses Jahr vor Weihnachten nicht wie üblich die Krippe mit den "Heiligen Drei Königen" aufgestellt. Damit sollte eine der Figuren, der schwarzhäutige König Melchior, aus einer möglichen Rassismusdebatte genommen werden, sagte der Ulmer evangelische Dekan Ernst-Wilhelm Gohl dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 5. Oktober. Einen entsprechenden Beschluss, die Krippe in einer anderen Variante zu zeigen, habe der Kirchengemeinderat in seiner jüngsten Sitzung getroffen.

Gohl erläuterte, der von einem Künstler vor rund 100 Jahren gestaltete Ulmer Melchior sei eine Besonderheit in mehrfacher Hinsicht. Er sei vermutlich der einzige heilige König mit Brezel in der Hand. Gleichzeitig sei er so geschaffen, dass er rassistisch geprägte Stereotype anspricht mit seinen wulstigen Lippen, seiner Körperfülle und seinem Goldreifen an den nackten Fußknöcheln.

Öffentliche Diskussion

Die historische Krippe wurde vor rund 30 Jahren gestiftet mit der Auflage, sie jährlich ab 1. Advent im Münster auszustellen. Gohl unterstrich, dass es bei der Krippenaufstellung nicht darum gehe, den schwarzen König zu unterschlagen. Infrage stehe die Art der Darstellung. Wie mit dem Ulmer Melchior künftig umgegangen wird, soll trotz des vorzeitigen Aufsehens erst nach Weihnachten und in Ruhe öffentlich diskutiert werden, kündigte der Dekan an.



Dramaturg erzählt Bibel mit Playmobil-Figuren auf Youtube


Michael Sommer mit Playmobil-Figuren.
epd-bild/Klaus Wankmiller

Der Literaturwissenschaftler Michael Sommer will binnen eines Jahres die Geschichten der Bibel auf Youtube nacherzählen. Die Darsteller sind dabei Playmobilfiguren. 66 Videos sollen entstehen, teilte das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) am 6. Oktober in Frankfurt am Main mit. Sommer ist für seinen Youtube-Kanal "Sommers Weltliteratur to go" bekannt, auf dem er Klassiker der Literatur mit Playmobilfiguren als Kurzversion nachspielt. Beliebt sind die Videos vor allem bei Schülern. Der Dramaturg erhielt 2018 für seinen Kanal den Grimme Online Award.

Das evangelische Contentnetzwerk "yeet" hat Sommer nun als neuen Sinnfluencer gewonnen. Das erste Video wurde binnen zwei Tagen bereits fast 7.000 Mal abgerufen. Es erzählt das 1. Buch der Bibel, das 1. Buch Mose, angefangen bei der Schöpfungsgeschichte, Adam und Eva, Abraham und Jakob bis hin zu Josef in Ägypten. Kuratiert werden die Videos durch die Redaktion des Internetportals "evangelisch.de", das zum GEP gehört. Die Videos sollen montags auf dem Youtube-Kanal "Sommers Weltliteratur to go" online gehen.

Das GEP mit Sitz in Frankfurt am Main ist das zentrale Medienunternehmen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ihrer Gliedkirchen, Werke und Einrichtungen. Neben "evangelisch.de" und "yeet" trägt es unter anderem die Zentralredaktion des Evangelischen Pressedienstes (epd) sowie die Redaktion des evangelischen Magazins "chrismon" und organisiert die Rundfunkarbeit der EKD.



Echte Reue oder Ergebnis einer Erpressung?


Die Stuttgarter Schulderklärung im "Verordnungs- und Nachrichtenblatt" der EKD vom Januar 1946.
epd-bild
Die Stuttgarter Schulderklärung ebnete vor 75 Jahren dem deutschen Protestantismus den Weg zurück in die Weltgemeinschaft, obwohl sie den Holocaust nicht erwähnt. Ein Kirchenhistoriker betrachtet die Erklärung sogar als Resultat einer Erpressung.

Deutschland, 1945. Die Städte liegen nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern, die braunen Parolen vom "Endsieg" sind verhallt. Wie soll die evangelische Kirche auf diesen Zusammenbruch reagieren - eine Kirche, die sich in großen Teilen mit der nationalsozialistischen Sache gemein gemacht hat? Am 19. Oktober 1945 unterzeichnen protestantische Bischöfe und Kirchenpräsidenten in Stuttgart ein Schuldbekenntnis, das einen Neuanfang signalisiert. Damit ernten sie vor 75 Jahren einen Sturm der Entrüstung.

"Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden", heißt es in dem Dokument. "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Zu den Unterzeichnern gehören amtierende und spätere Landesbischöfe sowie der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann. Verfasst wurde das Papier von Mitgliedern des Rats der neu gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): Christian Asmussen, Otto Dibelius und Martin Niemöller.

Der Kirchenhistoriker Gerhard Besier betrachtet das Papier als das Ergebnis einer Erpressung. Hochrangige Kirchenvertreter aus Ländern, gegen die kurz zuvor noch Krieg geführt worden war, hatten sich nach Stuttgart aufgemacht, um die Beziehungen zu den evangelischen Kirchen wieder aufzunehmen. Die weltweiten Ökumene-Partner hatten laut Besier vorher deutlich gemacht, dass es nur Auslandshilfe für die notleidenden Deutschen geben könne, wenn die Kirchen sich ihrer Mitverantwortung für die NS-Verbrechen stellen. "Die deutschen Kirchen hätten von sich aus keine Schulderklärung formuliert", sagt er.

Kein Wort über den Holocaust

Tatsächlich schrieb der niederländische Theologe Willem Adolf Visser ’t Hooft, der die ökumenische Delegation in Stuttgart leitete, später in seiner Autobiografie: "Wie sollten wir die Wiederaufnahme voller ökumenischer Beziehungen erreichen? Die Hindernisse für eine neue Gemeinschaft ließen sich nur beseitigen, wenn die deutsche Seite ein klares Wort fand."

Damit erklärt sich für Besier auch, warum das Papier wesentliche Punkte auslässt. So ist der Holocaust an den Juden mit keiner Silbe erwähnt. Die Formulierungen im Komparativ ("nicht mutiger", "nicht treuer", "nicht brennender") können so verstanden werden, dass durchaus viel Mut, Treue und Brennen vorhanden gewesen seien, aber eben nicht genug. Die Verstrickungen mit dem Regime und das unselige Wirken der Deutschen Christen, der gleichgeschalteten evangelischen Kirche, sowie der Antisemitismus in der Kirche finden keine Erwähnung.

Dabei waren einige der Unterzeichner auf riskanten Konfrontationskurs zum Regime gegangen. Der Berliner Generalsuperintendent Otto Dibelius etwa erhielt Predigtverbot und kam mehrfach ins Gefängnis. Der württembergische Landesbischof Wurm hatte die Eingliederung seiner Landeskirche in die Reichskirche verhindert und gegen das Euthanasieprogramm der Nazis protestiert, wofür er vorübergehend Hausarrest und später ebenfalls Schreib- und Predigtverbot erhielt.

Kartonweise Protestbriefe

Die Schulderklärung traf damals in Deutschland auf Ablehnung und Wut. Im hannoverschen Kirchenamt füllten die Protestbriefe ganze Kartons. Menschen sahen sich für Verbrechen in Mithaftung genommen, obwohl sie sich unschuldig fühlten. In ihrer Selbstwahrnehmung waren sie Opfer, nicht Täter.

Außerhalb Deutschlands zeigte das Bekenntnis den gewünschten Erfolg. Kirchengemeinden etwa in den USA schickten Hilfspakete an die ausgebombten Glaubensgeschwister. Auch einer Rehabilitierung deutscher Protestanten und einer Mitarbeit in weltweiten ökumenischen Gremien wurde der Weg gebahnt.

Kirchenhistoriker Besier wünscht sich ein milderes Urteil über die damals Verantwortlichen. Die führenden Kirchenmänner seien Kinder ihrer Zeit gewesen. Antisemitische Aussagen des württembergischen Bischofs Wurm und des führenden Vertreters der Bekennenden Kirche, Martin Niemöller, basierten auf Vorurteilen, die über Jahrhunderte in Mitteleuropa gepflegt worden und tief ins Bewusstsein gesunken seien. "Es ist falsch, die Maßstäbe von heute an das Jahr 1945 anzulegen", sagt der emeritierte Geschichtsprofessor.

Die EKD wird am Sonntag, 18. Oktober, bei einer zentralen Feier in Stuttgart an die vor 75 Jahren veröffentlichte Schulderklärung erinnern. Gefeiert wird in der Markuskirche - jenem Gotteshaus, in dem 1945 deutsche und internationale Kirchenvertreter erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenkamen.

Von Marcus Mockler (epd)



Gesellschaft

Halle gedenkt des Synagogen-Anschlags vor einem Jahr


Bundespräsident Steinmeier bei der zentralen Gedenkveranstaltung in Halle.
epd-bild/Jens Schulze
In Halle ist am 9. Oktober an den antisemitischen Anschlag erinnert worden. "Wir sind empfindlicher geworden als früher", sagte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde bei einer Gedenkfeier mit dem Bundespräsidenten.

Mit einem Spaziergang evangelischer und katholischer Christen zur Synagoge der Stadt endete am Abend des 9. Oktober in Halle das ganztägige Gedenken an die Opfer des antisemitischen Anschlags vor einem Jahr. Nach einem Friedensgebet in der Marktkirche machte sich trotz strömenden Regens eine große Gruppe Menschen, darunter der mitteldeutsche Bischof Friedrich Kramer und der Bischof des Bistums Magdeburg, Gerhard Feige, auf den Weg zum etwa eine halbe Stunde entfernten jüdischen Gotteshaus. Dabei wurde ein Zwischenstopp für Gebete und Gesang bei dem Döner-Imbiss eingelegt, der am 9. Oktober 2019 ebenfalls zum Ziel des Attentäters geworden war.

Dabei wurde der beiden Todesopfer gedacht. Aus rechtsextremistischer Gesinnung heraus hatte der Täter vor einem Jahr versucht, am wichtigen jüdischen Feiertag Jom Kippur in die Synagoge in Halle einzudringen. Er scheiterte an der Tür und ermordete danach eine 40-jährige Passantin und einen 20-jährigen Gast in dem Döner-Imbiss.

Steinmeier: Zusammenstehen

Bei der zentralen Gedenkveranstaltung in der Ulrichskirche rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Zusammenstehen der gesamten Gesellschaft gegen Antisemitismus, Rassismus und andere Formen der Ausgrenzung auf. Menschenfeindlichkeit sei ein Angriff gegen die offene Gesellschaft und die Demokratie, sagte Steinmeier.

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, sagte, ein normales Leben werde für die Gemeinde so bald nicht wieder möglich sein. "Wir sind empfindlicher geworden als früher", sagte er - auch mit Verweis auf Äußerungen von Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) über entstehende Personalengpässe bei der Polizei aufgrund der Schutzmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen.

Unter den Gästen der Gedenkfeier befanden sich neben Betroffenen und ihren Angehörigen auch der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime, Aiman Mazyek, Landesbischof Kramer und der israelische Botschafter Jeremy Issacharoff.

Mahnmal eingeweiht

Sachsen-Anhalt Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sagte, noch vor einem Jahr sei für ihn eine solche schreckliche Tat undenkbar gewesen. Er sicherte der jüdischen Gemeinschaft im Land die Unterstützung von Politik und Gesellschaft zu. So entstünden im Land derzeit zwei Synagogen-Neubauten, etwa in Dessau, aus deren jüdischer Gemeinde einst der Philosoph Moses Mendelsohn (1729-1786) hervorgegangenen sei.

Vor der Gedenkfeier war im Innenhof der Synagoge ein Mahnmal mit der beim Anschlag beschädigten Tür als Kernstück eingeweiht worden. Dabei hatte Zentralrats-Präsident Schuster zu Respekt und Toleranz aufgerufen. Zudem war an dem Döner-Imbiss eine Gedenkplatte enthüllt worden.

Den ganzen Tag über wurde in Halle auf vielfältige Art den Opfern des Anschlags gedacht. So läuteten punkt 12.01 Uhr, dem Zeitpunkt, als vor einem Jahr die ersten Schüsse auf die Eingangstür der Synagoge abgefeuert wurden, die Glocken aller Kirchen der Stadt. Mehrere hundert Menschen hielte zugleich auf dem Marktplatz für mehrere Minuten inne. Auf dem Gelände des Steintor-Campus der Luther-Universität wurde zudem eine Ausstellung eröffnet, die den Opfern des Anschlags eine Stimme geben soll.



Hamburgs Bürgermeister will jüdisches Leben "sichtbarer" machen

Das jüdische Leben in Hamburg soll nach den Worten von Bürgermeister Peter Tschentscher sichtbarer und erfahrbarer gemacht werden. Vor allem der jüngeren Generation müsse der Zugang erleichtert werden, sagte der SPD-Politiker nach einem Spitzengespräch mit der Jüdischen Gemeinde am 6. Oktober im Rathaus. So wolle die Stadt den Jugendaustausch mit Israel fördern. Wer jüdische Menschen persönlich kenne, sei gegen antisemitische Vorurteile eher gewappnet. Am 4. Oktober hatte ein Mann einen jüdischen Studenten vor der Synagoge in Hamburg attackiert und schwer verletzt.

Der Angreifer ist inzwischen in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen worden. Es gebe Hinweise auf eine psychische Krankheit, die zu einer Einschränkung der Schuldfähigkeit geführt haben könnte, sagte die Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft, Nana Frombach, am 6. Oktober dem epd.

Antisemitismusbeauftragten einsetzen

Tschentscher sagte, die Stadt wolle dem entgegenwirken, dass sich die Jüdische Gemeinde aus der Öffentlichkeit zurückziehe. Ein sichtbares Zeichen für das jüdische Leben in Hamburg solle der geplante Wiederaufbau der Synagoge am Bornplatz im Grindelviertel sein, die in der NS-Zeit zerstört wurde. Zudem werde die Hansestadt in nächster Zeit einen Antisemitismusbeauftragten bestellen, bekräftigte der Bürgermeister. Mit der Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit sei bereits vor dem Anschlag begonnen worden.

Landesrabbiner Shlomo Bistritzky sprach sich für mehr Schulprojekte zum Judentum aus. Jeder junge Mensch in Hamburg sollte eine Synagoge oder eine jüdische Einrichtung besucht haben, forderte er.

Sicherheit verbessern

Die Jüdische Gemeinde will trotz des Anschlags ihre regulären Aktivitäten fortsetzen. Es werde nicht die geringsten Änderungen im Programm geben, sagte Philipp Stricharz, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, dem epd. Die Sicherheit für die Gemeinde müsse verbessert werden. Dazu zählten auch bauliche Veränderungen. Die Jüdische Gemeinde sei dafür im Gespräch mit der Polizei und anderen Sicherheitsstellen.

Die Stimmung unter den Gemeindemitgliedern ist nach den Worten Stricharz' "gefasst", aber auch "ernüchtert". Man sei bisher davon ausgegangen, dass die Schutzmaßnahmen in Hamburg greifen müssten. "Es hätte nicht so weit kommen dürfen." Es könne nicht sein, dass jüdische Gemeindemitglieder nicht einmal mehr vor der Synagoge eine Kippa tragen dürften.

Vor der Synagoge in Hamburg-Eimsbüttel war am 4. Oktober ein 26-jähriger jüdischer Student mit einem Klappspaten angegriffen und schwer verletzt worden. Er war unmittelbar nach der Tat mit Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden, hat nach Polizeiangaben das Krankenhaus am Dienstag aber wieder verlassen. Der 29-jährige Angreifer, ein Deutscher mit kasachischen Wurzeln, wurde in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen. Es gibt nach Angaben der Staatsanwaltschaft Hinweise auf eine psychische Krankheit, die zu einer Einschränkung der Schuldfähigkeit geführt haben könnte.

"Jüdisches Leben bekannter machen"

Der Zentralrat der Juden in Deutschland bekräftigte unterdessen, "dass jüdische Einrichtungen einen hohen Schutz brauchen". Die Attacke von Hamburg zeige, dass es derzeit keine andere Möglichkeit gebe, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Der Vorfall sollte genau analysiert werden, um gegebenenfalls Schwachstellen aufzudecken und zu beseitigen.

Zugleich forderte Schuster - wie auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) - mehr öffentliche Information über jüdisches Leben, um antisemitische Gewalttaten besser zu verhindern. "Wir brauchen eine bessere Aufklärung und Bildung der Bevölkerung", Es geht darum, das Judentum, jüdisches Leben bekannter zu machen - nicht immer im Zusammenhang mit der Schoah, nicht nur aus der Opferperspektive" , sagte er. Jüdisches Leben sollte etwas Selbstverständliches sein. Auch Lambrecht dringt auf demokratische Bildung, um Antisemitismus vorzubeugen. "Wir müssen mehr für die Prävention tun, an Schulen, Bildungseinrichtungen und überall sonst, wo sich Menschen begegnen", sagte sie in der "Passauer Neuen Presse".



Rechtsextreme in Uniform: Seehofer sieht kein strukturelles Problem


Horst Seehofer (Archivbild)
epd-bild/Christian Ditsch
Der Verfassungsschutz hat seinen Bericht über Rechtsextreme in Sicherheitsbehörden vorgelegt. Einen Verdacht gab es in 377 Fällen, einen Beweis nur in weit weniger. Innenminister Seehofer sieht sich bestätigt: Es gebe kein strukturelles Problem.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sieht sich nach einem Lagebericht des Verfassungsschutzes in seinem Vertrauen in die Polizei bestätigt. Es gebe kein strukturelles Problem mit Rechtsextremen in den eigenen Reihen, sagte Seehofer am 6. Oktober in Berlin: "Wir haben es mit einer geringen Fallzahl zu tun."

Gemeinsam mit den Präsidenten von Verfassungsschutz, Bundespolizei und Bundeskriminalamt (BKA) stellte er den vom Verfassungsschutz erstellten Lagebericht "Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden" vor. Demzufolge haben die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern von Anfang 2017 bis Ende März dieses Jahres 377 rechtsextreme Verdachtsfälle in den eigenen Reihen registriert. 319 Fälle davon entfallen auf den Bereich der Bundesländer. 58 Verdachtsfälle betrafen Behörden des Bundes, 44 davon die Bundespolizei. Hinzu kommen dem Bericht zufolge 1.064 Verdachtsfälle beim Militärischen Abschirmdienst für den Bereich der Bundeswehr.

"99 Prozent auf dem Boden des Grundgesetzes"

In 100 Fällen endete ein Verfahren bei den Sicherheitsbehörden der Länder mit Konsequenzen für den Betroffenen, bei den Sicherheitsbehörden des Bundes in 24 Fällen. In 34 aller von Bund und Ländern gemeldeten Fälle sieht der Bericht "verdichtete Anhaltspunkte für Rechtsextremismus", 22 davon betrafen Polizisten, 11 die Bundeswehr und ein Fall den Zoll.

Diese Zahl sogenannter erwiesener Rechtsextremisten zog Seehofer für seine politische Bewertung des Berichts heran. Jeder Fall sei eine Schande. Die Zahl zeige aber, dass mehr als 99 Prozent der Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden fest auf dem Boden des Grundgesetzes stünden, sagte er.

Vorausgegangen war der Vorstellung des Berichts eine wochenlange Debatte über Rechtsextremismus und Rassismus in der deutschen Polizei, befeuert durch die Proteste gegen Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA und mehrere von Medien hierzulande aufgedeckte Fälle von Chatgruppen, in denen Polizisten rassistische und islamfeindliche Inhalte austauschten. SPD und Teile der Opposition fordern eine Studie über Rassismus in der Polizei.

Lambrecht für Studie

Seehofer lehnt dies ab. Am 6. Oktober kündigte er an, dem Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus eine umfassende Untersuchung der Erscheinungsformen von Rassismus vorzuschlagen, der alle Bereiche der Gesellschaft beleuchten soll - nicht nur eine Berufsgruppe. Zudem hat er den Verfassungsschutz beauftragt, nach dem Bericht über die Zahl rechtsextremer Fälle eine Analyse nachzuliefern. Der Lagebericht soll zudem fortgeschrieben und auf den gesamten öffentlichen Dienst ausgeweitet werden.

Auch der brandenburgische Innenminister Michael Stübgen (CDU) sprach sich gegen eine Studie über Rechtsextremismus in der Polizei aus. Konkrete Veränderungen seien ihm wichtiger, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd) und verwies unter anderem auf seine Forderung, bei Einstellungen und unter Umständen Beförderung von Beamten eine Abfrage beim Verfassungsschutz zu machen.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD), die sich für die Polizei-Studie stark gemacht hatte, sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, wissenschaftliche Untersuchungen seien für eine klare Faktenlage dringend erforderlich. Zudem forderte sie, "deutlich früher und konsequenter jedem Rechtsextremismus-Verdacht in Polizei- und Sicherheitsbehörden nachzugehen".

Vorwurf der Verharmlosung

Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt kritisierte, der Lagebericht des Verfassungsschutzes bleibe an der Oberfläche. Die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke warf Seehofer vor, das Rechtsextremismusproblem zu verharmlosen, wenn er nur auf die Zahl der Disziplinarverfahren und Ermittlungen schaue. Vielen Polizisten und Soldaten fehle das Problembewusstsein, oder sie schwiegen sich aus falsch verstandenem Korpsgeist aus, sagte sie.

Bundespolizeipräsident Dieter Romann und BKA-Chef Holger Münch widersprachen dem Korpsgeist-Argument. In der Mehrheit der Fälle sei ein Verdacht aus der Organisation heraus gemeldet worden, hieß es.



Weniger geflüchtete Menschen in Deutschland

Erstmals seit Jahren sinkt die Zahl der Schutzsuchenden in Deutschland wieder. Die Linken-Politikerin Jelpke sieht die Bundesregierung dadurch in der Pflicht, an anderer Stelle zu helfen.

Die Zahl der in Deutschland lebenden Flüchtlinge und anderen Schutzsuchenden ist gesunken. Das geht aus der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, über die zuerst die "Neue Osnabrücker Zeitung" (5. Oktober) berichtet hatte. Demnach hatten die Behörden zur Jahresmitte 1,77 Millionen geflüchtete Menschen mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus registriert - gut 60.000 weniger als noch Ende 2019.

Das Ministerium erklärte auf Anfrage der Zeitung, der aktuelle Rückgang sei hauptsächlich dadurch zu erklären, dass der Schutzstatus der Personen widerrufen oder zurückgenommen wurde oder erloschen ist. Ein "erheblicher Anteil" der Menschen halte sich nicht mehr im Bundesgebiet auf, sei also ausgereist. Einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben den Zahlen zufolge zurzeit mehr als 1,3 Millionen Flüchtlinge. Gut 450.000 hätten einen ungesicherten Status als Asylsuchende oder Geduldete.

"Wir haben Platz"

Die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke kritisierte die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung scharf. "Wir haben Platz, die Zahlen zeigen es", erklärte sie und verwies darauf, dass Zehntausende Schutzsuchende unter unwürdigen Bedingungen in den europäischen Erstaufnahmestaaten ausharrten. Deutschland müsse seine humanitären Aufnahmekapazitäten nutzen, um Länder wie Griechenland oder Italien wirksam zu entlasten.

Das deutsche Recht sieht verschiedene Kategorien für den Schutz von Flüchtlingen vor. Am seltensten wird der umfassende Asylschutz nach Artikel 16 des Grundgesetzes gewährt, da er durch die Drittstaatenregelung nur auf wenige Menschen zutrifft, die unmittelbar nach Deutschland gelangen. Am häufigsten werden Asylsuchende in Deutschland nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt. Diesen Schutzstatus erhält, wer aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Heimatstaat verfolgt wird.

Trifft dies auf einen Schutzsuchenden nicht zu, gibt es noch die Möglichkeit des subsidiären Schutzes. Er wird in der Regel gewährt, wenn nicht wegen der Diskriminierung einer ganzen Gruppe, im konkreten Fall aber dennoch Gefahr für Leib und Leben droht. Dies kann etwa im Fall von Krieg, einer verhängten Todesstrafe oder Folter der Fall sein. Die meisten Menschen, denen Flüchtlingsschutz gewährt wurde, stammen aus Syrien.



Italien schafft Millionenstrafen für Flüchtlingsretter ab

Italien hat die unter Ex-Innenminister Matteo Salvini eingeführten Strafen in Millionenhöhe für private Seenotretter im Mittelmeer abgeschafft. Ein vom Ministerrat verabschiedetes Dekret sieht nach Regierungsangaben vom 6. Oktober überdies einen Ausbau der unter Salvini stark eingeschränkten Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge vor. Das Kabinett von Ministerpräsident Giuseppe Conte betonte in dem Dekret ferner das Verbot, Flüchtlinge in seeuntauglichen Booten zurückzuweisen.

Salvini von der rechtspopulistischen Lega hatte als Innenminister sogenannte Sicherheitsdekrete durchgesetzt. Diese schlossen einen Großteil der Migranten von Aufnahme- und Integrationsmaßnahmen aus. Private Flüchtlingsretter wurden mit Strafen von bis zu einer Million Euro belegt, ihre Schiffe beschlagnahmt. Im August vergangenen Jahres verließ der damalige Innenminister die Regierung. Seine Nachfolgerin Luciana Lamorgese gilt als gemäßigt, verzögert jedoch nach wie vor die Genehmigungen für Schiffe mit geretteten Flüchtlingen, italienische Häfen anzulaufen.

Auch "Sea-Watch 4" festgehalten

Die Schiffe werden nach ihrer Ankunft wegen technischer Kontrollen am Auslaufen gehindert. Das geschah auch mit dem kirchlichen Rettungsschiff "Sea-Watch 4", das in der Nacht zum 20. September in der sizilianischen Hafenstadt Palermo festgesetzt wurde. Die Crew hatte mehr als 350 Menschen aus Seenot gerettet. Die "Sea-Watch 4" wird von dem Bündnis "United4Rescue" betrieben, das die Evangelische Kirche in Deutschland initiiert hatte.

Salvini steht mittlerweile wegen der Blockade der "Gregoretti" mit 131 Flüchtlingen an Bord vor Gericht. Im Zusammenhang mit der Weigerung, das Schiff der italienischen Küstenwache in einen Hafen einlaufen zu lassen, wird ihm in Catania Amtsmissbrauch und Freiheitsberaubung vorgeworfen. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft. Das zuständige Untersuchungsgericht in dem Fall will Ministerpräsident Conte und Innenministerin Lamorgese anhören. Die Staatsanwaltschaft forderte eine Einstellung des Verfahrens.

Im Juli 2019 mussten die vor der libyschen Küste geretteten Flüchtlinge unter katastrophalen hygienischen Bedingungen mehrere Tage auf der "Gregoretti" ausharren. Erst unter internationalem Druck erteilte Salvini dem Schiff die Genehmigung, einen italienischen Hafen anzufahren.



Bis die Bagger rollen


Waldbesetzer im Dannenröder Forst.
epd-bild/Heike Lyding
Sie leben in Baumhäusern, Zelten und Hütten: Seit gut einem Jahr halten Aktivistinnen und Aktivisten ein Waldstück in Hessen besetzt. Sie wollen den Weiterbau einer Autobahn verhindern. Aber es geht ihnen um mehr.

Die Bäume knarzen im Wind. Hoch oben in den Kronen, in 20 oder 25 Metern Höhe, schwanken die Baumhäuser, hin und her. Carl (Name geändert) lebt seit einem Monat in einem der Baumhäuser im Dannenröder Forst in Mittelhessen. "Ich habe von der Aktion gehört und Widerstandspflicht gespürt", sagt er. Der Wald soll bald gerodet werden für den Weiterbau der Autobahn 49 zwischen Kassel und Gießen.

Viele Wege im Wald sind mit Barrikaden aus Ästen und Stämmen versperrt. Überall hängen Banner: "Wir sind stark, weil DU da bist" steht auf einem mit bunten Händen bedruckten Stück Stoff. Junge Leute sind auf den Wegen unterwegs, dick eingepackt in Regenklamotten, einige tragen Schalen mit Müsli und Apfelstücken vorbei.

Sie lebten "freegan", erklärt Carl: vegan und von dem Essen, was irgendwo übrig bleibt. Auch die Klamotten sind oft gespendet. "Die Leute misten ihre Keller aus." Er lebe hier wie in einer Blase: Herrschafts- und eigentumsfrei, gegenseitiger Respekt, gendergerechte Sprache, "hohes ökologisches Bewusstsein". Fähigkeiten würden geteilt: "Man fragt rum, irgendjemand weiß, wie man etwas repariert."

"Räumungen verzögern"

Die Baumhäuser, Hütten und Zelte sind über den ganzen Wald verteilt. An einem Ort hat sich eine Art kleines Dorf gebildet: Ein Baumhaus dient zum Schlafen, eines als Küche, eines als Ruheraum und eines ist die Toilette. Die Häuser sind durch ein Seilsystem verbunden. Pello hat im Hambacher Wald, wo Umweltschützer gegen den Braunkohletagebau kämpfen, das Klettern gelernt. Er lebte dort zwei Monate lang, baute an Baumhäusern mit und machte sie winterfest. "Seitdem bin ich klimapolitisch aktiv." Pello ist sein Aktivisten-Name. "Die Situation fühlt sich gerade stärkend an. Aus Aktivisten-Sicht läuft viel gut. Wir schaffen es, die Räumungen zu verzögern."

Seit den 1960er Jahren gibt es Pläne, die A 49 zu bauen. Trassen wurden entworfen, diskutiert, vor Gerichten verhandelt, verworfen. Seit 1994 ist das erste Teilstück hinter Kassel fertig, seit Jahren endet die Autobahn im Nirgendwo zwischen Kassel und Gießen. Im Juni wies das Bundesverwaltungsgericht eine Klage des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) ab. Am 1. Oktober begann die Rodungssaison im Wald. Jetzt wird gebaut.

In den benachbarten Wäldern, im Herrenwald und im Maulbacher Wald, hat eine Baufirma schon mit den Rodungen begonnen, unter massivem Polizeischutz. Auch dort lebten einige Aktivistinnen und Aktivisten in Baumhäusern, die Polizei brachte sie aus dem Wald heraus. "Wir reden viel darüber, bereiten uns emotional darauf vor und tauschen uns mit den Leuten aus, die schon Räumungen erlebt haben", sagt Carl.

Mischwald mit alten Bäumen

Sie sei in einer Industriestadt aufgewachsen, berichtet Katharina Jacob. Sie wisse, was es heißt, chronisch krank zu sein. "Deshalb setze ich mich für den Naturschutz ein." Zu Hause päppelt die 54-Jährige Fledermäuse auf, jetzt verbringt sie ihre Herbstferien im Dannenröder Wald. Es breche ihr das Herz, wenn sie an die Tiere denke, die den Rodungen zum Opfer fallen: die Fledermäuse, die ihre Höhlen suchen, die Füchse, die in ihren Bauten erdrückt werden.

Befürworter der Autobahn verweisen unter anderem auf die 750 Hektar Ausgleichsflächen, die als Ersatz für die 85 Hektar gerodeten Wald entstehen. Aber der Dannenröder Forst ist ein Mischwald mit teilweise uralten Buchen, Eichen, Fichten und Birken und nicht so einfach zu ersetzen. "Der Dannenröder Wald wird seit Jahrzehnten nachhaltig bewirtschaftet", sagt Linda vom Bündnis "Wald statt Asphalt". "Er wird gerodet für ein Projekt, das dem Individual- und dem Warenverkehr dient." Den Waldbesetzern geht es um mehr als um einen Wald: um eine Verkehrswende in Zeiten von Klimakrise und Artensterben.

Am Ortsrand von Dannenrod hat die evangelische Kirche in einer Gaststätte einen Ruheraum für die Aktivistinnen und Aktivisten eingerichtet. Demnächst soll dort auch eine Ärztin gelegentliche Sprechstunden abhalten, berichtet der Referent für Bildung und Ökumene, Ralf Müller. Vor der kleinen Kirche finden Friedensandachten statt. Wann im Dannenröder Wald gerodet wird, ist unklar. "Ich will später sagen können, dass ich alles versucht habe", sagt Carl. Er wird bleiben, bis die Bagger rollen.

Von Stefanie Walter (epd)


"Sehr gesunde Reaktion"


Klima-Demonstranten am 25. September in Hannover.
epd-bild/Nancy Heusel
Bilder von lodernden Waldbränden in Kalifornien, Rekordtemperaturen in der Arktis: Viele Menschen haben große Sorgen angesichts der Folgen des Klimawandels. Das Schlagwort "Klimaangst" führt aber in die Irre.

"Hattest du schon einmal richtig Panik wegen des Klimawandels?", "Fühlst du dich beim Thema Klimawandel unverstanden?", "Wird dir wegen der Klimakrise manchmal alles zu viel?". Wer diese Fragen mit "Ja" beantworte, leide vielleicht unter "Klimaangst", so heißt es in einem Selbsttest im Internet. Zugegeben, Fachpersonen haben ihn nicht erstellt. Das Phänomen wird aber unter Experten durchaus ernst genommen.

"Der Klimawandel ist eine große Bedrohung und das macht vielen Menschen zu Recht Angst", sagt Peter Zwanzger, erster Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft für Angstforschung. Aus medizinischer Sicht sei "Klimaangst", wie diese Sorge in sozialen Medien und Blogs oft genannt wird, aber kein Fachausdruck.

"Dass sich dieser Terminus umgangssprachlich entwickelt hat, zeigt, wie sehr Menschen dieses Thema bewegt", sagt der Psychiater, der in Wasserburg am Inn praktiziert. Erstmals beschrieben wurde das Phänomen schon vor rund zehn Jahren. Die American Psychological Association (Apa) definiert es als "eine chronische Angst vor dem ökologischen Untergang".

Warnung vor "Pathologisierung"

Psychiater und Klimaaktivist Felix Peter aus Stuttgart warnt: Durch den "undifferenziert verwendeten" Begriff der "Klimaangst" könne es zu einer "Pathologisierung der Klimabewegung" kommen. "Die Menschen, die sich engagieren, zeigen im Gegenteil eine sehr gesunde und angemessene Reaktion auf die Bedrohung durch den Klimawandel", betont er. Denn er bedeute eine dauerhafte Veränderung der Lebensbedingungen.

Dass Bedenken um die Folgen des Klimawandels viele Menschen umtreiben, zeigen jüngste Studien. Das amerikanische Pew Research Centre befragte im Sommer Menschen in 14 Ländern zu ihren aktuell größten Sorgen. In Deutschland wurde der Klimawandel am häufigsten genannt, noch vor Cyberattacken, Atomwaffen, Terrorismus und der Ausbreitung von Infektionskrankheiten.

Mediziner Zwanzger betont den Unterschied zu einer wirklichen Angsterkrankung. Eine solche belaste das Leben der Betroffenen stark. Bei Panikerkrankungen überfalle die Angst Menschen "auf heimtückische Art und Weise", meist mit starken körperlichen Begleiterscheinungen wie Herzklopfen. Haben Patientinnen und Patienten eine generalisierte Angststörung, machten sie sich den ganzen Tag Sorgen. "Im Unterschied zu gesunden Menschen können sie aber nicht mehr abschalten, was sich dann massiv auf ihr Alltagsleben und ihre Arbeit auswirkt." Dass sich infolge der Sorge um den Klimawandel solche Erkrankungen entwickelten, sei aber "äußerst selten".

Angst kann auch Energie liefern

Neurologe Felix Peter ist auch Mitglied der "Psychologists for Future", die die Ziele der Klimabewegung "Fridays for Future" unterstützen. Mit wissenschaftlich-psychologischen Erkenntnissen will die Gruppe dazu beitragen, dass die Politik mit "angemessenen Konsequenzen" auf die Klimakrise reagiert. Peter schätzt die Zahl der Menschen, die in Deutschland durch den Klimawandel derzeit psychisch besonders stark belastet sind, "auf einen niedrigen einstelligen Prozentsatz".

Dazu gehörten Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen oder Personen mit psychischen Vorerkrankungen. Auch Forschende oder Aktivistinnen und Aktivisten, die sich besonders stark mit der Bedrohung auseinandersetzen, sowie Menschen, die etwa in der Landwirtschaft von einer funktionierenden Umwelt abhängig seien, seien stärker betroffen.

Angst muss nicht lähmen, sie kann auch Energie liefern, für Veränderungen zu kämpfen. "Die Menschen könnten zu Demonstrationen gehen oder sich anderweitig politisch engagieren", sagt Peter. Generell helfe, mit der Familie und Freunden darüber zu sprechen, welche Sorgen man habe und was sich ändern lasse. Auf der individuellen Ebene könne man überlegen, wie man sich klimafreundlicher verhalten könne. "Das kann aber nicht das Ende sein", betont Peter. "Wir warnen davor, den gesamten Druck auf Individuen zu verteilen, die das Problem gar nicht allein lösen können."

Auch Angstforscher Zwanzger fordert, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen. Angst werde durch Unvorhersehbarkeit gestärkt. Es sei daher eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, so viel wie möglich über den Klimawandel herauszufinden "und den Menschen Sicherheit zu geben".

Von Jana-Sophie Brüntjen (epd)



Soziales

Sterben soll seine Zeit bekommen


Die krebskranke Gudrun Hoppe im Hospiz.
epd-bild/Jens Schulze
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar wird in Deutschland wieder vehement und kontrovers über die Suizidbeihilfe diskutiert - auch in den Kirchen. In Hospizen und bei Palliativmedizinern stößt die Debatte allerdings auf Skepsis.

Auf der Kommode vor dem Bett funkeln Ohrringe mit bunten Steinen und Halsketten. "Jeden Tag trage ich meinen Schmuck", sagt Gudrun Hoppe. Die zierliche Frau mit kahlem Kopf und blauen Glitzerohrringen setzt sich mit etwas Mühe auf einen Stuhl neben der gläsernen Terrassentür und blickt in den herbstlichen Garten. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich es jemals wieder schaffe, mich auch nur aufrecht zu halten." Die 61-Jährige aus Hannover ist ins evangelische Uhlhorn-Hospiz gebracht worden, um zu sterben.

Doch es kam anders. Im Hospiz ging es Hoppe, die an Bauchspeicheldrüsenkrebs leidet, plötzlich besser. Das ist zwei Monate her. Sie hofft nun, entlassen zu werden. "Für Menschen, die schwer krank sind, kommt es oft anders als gedacht", sagt Hospizleiterin Gabriele Kahl. Zwar seien die Krankheitsverläufe nicht immer so außergewöhnlich wie bei Gudrun Hoppe. "Aber je nach dem, wie sie sich fühlen, entscheiden sich unsere Patienten mehrmals um, was ihr Leben und ihre Therapie angeht." Mal sagten sie, sie möchten nicht mehr leben und sich auch nicht weiter behandeln lassen. Dann, wenn die Schmerzmittel wirkten, kämpften sie wieder um jeden Tag. "Das ist vollkommen normal", sagt Kahl. "Nur: Würden wir Sterbehilfe leisten, auf welchen dieser widersprüchlichen Wünsche sollten wir hören?"

Skepsis bei Palliativmedizinern

Das Thema Sterbehilfe wird seit Monaten wieder kontrovers diskutiert. Ausgangspunkt ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Vor rund acht Monaten hat das oberste deutsche Gericht das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe aufgehoben. Selbst in den Kirchen ist das Für und Wider der Sterbehilfe seitdem Gegenstand intensiver Debatten. So hat sich unter anderem der evangelische Landesbischof Ralf Meister aus Hannover dafür ausgesprochen, bei der anstehenden gesetzlichen Neuregelung den Sterbewunsch von Schwerkranken ernst zu nehmen und den assistierten Suizid unter bestimmten Bedingungen zu ermöglichen - auch in kirchlichen Einrichtungen.

Die Mehrheit der Deutschen stimmt Umfragen zufolge dem Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben zu. Viele Palliativmediziner und Pflegende, die unheilbar erkrankte Menschen begleiten und behandeln, sehen diese Haltung indes kritisch.

Zu den Kritikern gehört auch Anke Reichwald, Geschäftsführerin des Uhlhorn-Hospizes. Sie bemängelt, das Bundesverfassungsgericht habe aus rein theoretischer Sicht geurteilt. Dass jemand sich bewusst für den Tod entscheide, um seinem Leid ein Ende zu setzen, komme selten vor: "Wir erleben in der Praxis eher das Gegenteil." Schwerstkranke, sogar Hochbetagte, bettelten regelrecht um noch eine Chemotherapie oder Antibiotika-Behandlung. Dass sie angesichts ihrer Diagnose so reagierten, überrasche viele selbst. "Das sind Entscheidungen, die wir uns schlicht nicht vorstellen können, solange wir gesund sind", sagt Reichwald.

"Leid lindern"

Auch der hannoversche Palliativmediziner Christian Seifert steht der Sterbehilfe ablehnend gegenüber. Seine Aufgabe sieht der 48-Jährige darin, seine Patienten so zu therapieren, dass sie nicht an den Punkt kommen, sich einen assistierten Suizid zu wünschen. Nur in sehr wenigen Einzelfällen sei eine ausreichende schmerz- und symptomlindernde Versorgung nicht möglich. In diesen Ausnahmefällen komme eine palliative Sedierung als letzte Möglichkeit in Betracht. Und auch wenn infolge dieser medizinisch herbeigeführten Bewusstlosigkeit die Patienten früher sterben, so sieht Seifert doch einen erheblichen Unterschied zu bewusster Sterbehilfe. "Unsere Intention als Palliativmediziner ist ausschließlich, Leid zu lindern."

Diese Überzeugung teilt Marion Pelzer. Die Palliativkrankenschwester beschreibt ihre Tätigkeit mit drei Worten: einlassen, aushalten, da sein. Seit mehr als drei Jahrzehnten pflegt sie Schwerstkranke und Sterbende, und seit acht Jahren arbeitet sie beim ambulanten Palliativdienst im evangelischen Friederikenstift in Hannover. Über die Sterbehilfe-Debatte sagt die 59-Jährige: "Ich bin erschrocken." Menschen, die unheilbar krank sind und am Ende ihres Lebens stehen, seien in existenzieller Not. "Sie sind verzweifelt, und es kann dazu kommen, dass sie den Wunsch äußern, sterben zu wollen." Das aber bedeute meist nicht, dass sie wirklich sterben wollten, sondern sei Ausdruck einer extremen Überforderung.

Noch einmal ans Meer

Diese Menschen bräuchten jemanden, der für sie da sei und sich nicht mit in den Strudel der Verzweiflung ziehen lasse. Pelzer befürchtet, dass sich Sterbende nicht trauen, ihrem Umfeld ihr Leid zuzumuten, wenn die Möglichkeit im Raum stehe, vorzeitig aus dem Leben scheiden zu können. "Dann müssten sie sich entscheiden, ob sie anstrengend sein dürfen", sagt sie. Den Sterbeprozess abzukürzen, sieht Pelzer auch deshalb kritisch, weil in dieser Phase oft Wichtiges geklärt werde. "Da kommt viel in Bewegung", sagt sie. Betroffene wollten sich verabschieden, aussprechen, versöhnen. "Das braucht Zeit."

Auch Gudrun Hoppe hat noch Pläne. Sie möchte unbedingt noch einmal mit ihrem Mann ans Meer, die Füße ins Wasser tauchen. Zum Urteil aus Karlsruhe sagt die gelernte Hauswirtschaftsleiterin flapsig: "Was, wenn einer in desolater Lage ist, und die anderen wollen ihn von der Platte putzen?" Sie selbst möchte auf keinen Fall Sterbehilfe. "Ich bitte den lieben Gott darum, dass er meine Aufenthaltsgenehmigung weiter verlängert."

Von Cristina Marina und Julia Pennigsdorf (epd)


Ohne Augenlicht mit der Digitalisierung Schritt halten

Für Menschen ohne Sehvermögen ist das Tempo der Digitalisierung eine Herausforderung: Jedes neue Konferenz-System und jede neue App erfordern ein Umlernen. Und: Viele Angebote sind nicht barrierefrei.

Über die nächsten Monate im Schatten der Corona-Pandemie macht sich Leonore Dreves keine Illusionen. "In einer Zeit wie dieser kümmert sich niemand um Randgruppen", sagt sie: "Da müssen wir sehr laut schreien, damit wir gehört werden." Dreves ist von Geburt an blind. Die Softwareentwicklerin arbeitet teils im Homeoffice, teils im Büro. Doch beides hat etliche Tücken, wie sie berichtet.

Trotz voll ausgestattetem Arbeitsplatz zu Hause hatte sie mit dem wachsenden Angebot an digitalen Anwendungen zu kämpfen, vor allem im Austausch mit anderen: "Wie kann ich eine Selbsthilfegruppe moderieren, wenn ich nichts sehe?"

Der derzeitige Digitalisierungsschub droht blinde und sehbehinderte Menschen abzuhängen, warnen Experten. Das fängt im Homeoffice an: Ohne Arbeitsplatz mit Hilfsmitteln, Vorlesesoftware und einer guten Ausleuchtung können die Betroffenen nur bedingt zu Hause arbeiten. Viele Videokonferenzen und Team-Tools sind nur in Teilen oder gar nicht barrierefrei.

Online-Handel soll barrierefrei werden

Dazu kommen die privaten Lebensumstände: "Viele von uns leben allein, die sozialen Kontakte laufen über die Arbeit. Wenn das dauerhaft wegbricht, ist das tragisch", sagt Dreves.

Dabei hatte die EU die Grundlage für eine barrierefreie Digitalisierung bereits im vergangenen Jahr gelegt - mit der Barrierefreiheitsrichtlinie, dem European Accessibility Act (EAA), der bis 28. Juni 2022 in deutsches Recht gegossen sein muss. Die EU regelt darin die Anforderungen an barrierefreie Produkte und Dienstleistungen. Wie viel die Betroffenen damit gewinnen, ist jedoch offen. Für die Praxis sei in erster Linie die nationale Gesetzgebung maßgebend, nicht die EU-Richtlinie, erklärt die Bundesfachstelle Barrierefreiheit.

Unter anderem soll der Online-Handel großer Anbieter barrierefrei werden, außerdem Bankendienstleistungen, Geldautomaten und Zahlungssysteme zum Beispiel im Supermarkt, der öffentlich Nachverkehr und E-Books sowie PCs, Smartphones, Laptops und Tablets.

"Es wird darauf ankommen, wie Deutschland die Vorgaben interpretiert", sagt die Rechtsreferentin des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV), Christiane Möller. "Auf europäischer Ebene hat die Wirtschaft bereits einige Lobbyarbeit geleistet, so dass leider nicht für alle Produkte und Dienstleistungen Barrierefreiheit zur Pflicht wird", bemängelt sie. Nicht einbezogen seien etwa Haushaltsgeräte.

Selbsthilfe-Organisationen unzufrieden

Unterstützung erhält der DBSV vom Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Schule und Beruf (DVBS). Beide Verbände fordern die Regierung auf, über die EU-Richtlinie hinauszugehen und Unternehmen zu verpflichten, beispielsweise beruflich genutzte Computer oder Geschäftskonten ebenfalls barrierefrei anzubieten. Außerdem müsse geklärt werden, was der Begriff Barrierefreiheit konkret bedeutet, erklärt die DVBS-Vorsitzende Ursula Weber.

Von der Bundesregierung sei bislang zu dem Thema nichts zu hören, kritisiert der inklusionspolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Sören Pellmann. Die Umsetzung der vorherigen EU-Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit bei öffentlichen Stellen sei so spät erfolgt, dass jetzt "nichts Gutes zu erwarten ist". "Inakzeptabel" sei im Rückblick die Beteiligung der Selbsthilfe-Organisationen. Diese hätten nur knapp eine Woche Zeit erhalten, um auf den Referentenentwurf zu reagieren. Zudem müsse Barrierefreiheit unter anderem für den ganzen öffentlichen Verkehr gelten, auch im Tourismus, forderte er.

Die Grünen halten der Bundesregierung vor, sie verkenne das Innovationspotenzial von barrierefreien Angeboten. Die behindertenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Corinna Rüffer, verlangt, dass das nationale Gesetz über die Mindestanforderungen der EU-Richtlinie hinausgehen und die Privatwirtschaft umfassend zu Barrierefreiheit verpflichten müsse.

Grundsätzlich bewertet Christiane Möller vom DBSV die Digitalisierung als Chance für blinde und sehbehinderte Menschen. Durch Vergrößerungssoftware, Apps, die Texte in Braille-Blindenschrift übersetzen, oder eine automatisierte Sprachausgabe sei für die Betroffenen schon jetzt mehr Teilhabe möglich. "Diese Vorteile können wir aber nur nutzen, wenn Webseiten, Apps und Bedienoberflächen barrierefrei programmiert sind."

Von Christina Denz (epd)


Studie: In Deutschland fehlen 342.000 Kita-Plätze für Kleinkinder

In Deutschland fehlen einer Untersuchung zufolge derzeit etwa 342.000 Kita-Plätze für Kinder unter drei Jahren. Das geht aus einer unveröffentlichten Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) hervor, über die zuerst die "Welt am Sonntag" berichtete und die dem epd vorliegt. Die Betreuungslücke habe damit trotz Milliardeninvestitionen seit 2015 um mehr als 127.000 Plätze zugenommen. Grund dafür seien sowohl veränderte Betreuungswünsche der Eltern als auch die gestiegenen Kinderzahlen, die ihren Höchststand jedoch überschritten haben dürften, hieß es in der Studie.

Bezogen auf alle Kinder unter drei Jahren gab es laut IW für jedes siebte (14,4 Prozent) keinen Platz in Kindertagesstätten und bei Tagespflegepersonen. Im Jahr 2015 waren es 10,2 Prozent. Allerdings dürfte der Studie zufolge die Betreuungsquote in den kommenden Jahren in den meisten Regionen Deutschlands auch ohne die Einrichtung einer größeren Zahl neuer Plätze steigen, da die Geburtenzahlen seit 2016 gesunken sind.

Auch Bedarf sei gestiegen

Das Bundesfamilienministerium verwies in Bezug auf die Betreuungslücke laut "Welt am Sonntag" auf den Ausbau von 135.000 Plätzen seit 2015. "Es stimmt aber, dass weiterhin Plätze fehlen und auch, dass die Differenz zwischen Betreuungsbedarf und Betreuungsquote zwischen 2015 und 2020 gestiegen ist", sagte eine Sprecherin der Zeitung. Der von den Eltern geäußerte Bedarf sei über die Jahre hinweg ebenfalls gestiegen - und zwar um 6,2 Prozentpunkte auf 49,4 Prozent im Jahr 2019. Das entspricht laut IW-Berechnungen rund 1,17 Millionen benötigten Plätzen für unter Dreijährige.

Im März besuchten laut Statistischem Bundesamt 829.200 Kinder in diesem Alter eine Tagesstätte oder eine öffentlich geförderte Tagespflege, die Betreuungsquote betrug 35 Prozent. "Immer mehr Eltern wünschen sich immer früher einen Betreuungsplatz für ihr Kind", hieß es laut "Welt am Sonntag" im Familienministerium. Gleichzeitig seien auch die Kinderzahlen in der Bevölkerung seit Jahren gestiegen, "so dass allein um die Inanspruchnahmequote konstant zu halten, ein Ausbau stattfinden musste".

Lage in Ostdeutschland besser

In den Bundesländern ist die Entwicklung der IW-Berechnung zufolge zum Teil sehr unterschiedlich. Besonders große Lücken weisen das Saarland, wo für 19,8 Prozent der unter Dreijährigen Betreuungsplätze fehlen, Bremen mit 19,1 Prozent und Nordrhein-Westfalen mit 18,9 Prozent auf. In Bayern (13,5 Prozent) und Baden-Württemberg (12,7) fehlen noch weniger öffentliche Betreuungsplätze als im Bundesdurchschnitt. Das liegt der Studie zufolge jedoch an besonders niedrigen Bedarfsquoten. Es sei jedoch zu erwarten, dass sich dies in den nächsten Jahren ändern werde.

Deutlich besser ist die Lage der Studie zufolge in den ostdeutschen Bundesländern. Davon ausgehend, dass vor allem Zwei- und Dreijährige in Einrichtungen betreut werden sollen, kommen sie mit Betreuungsquoten von 52,8 Prozent in Sachsen und 58,3 Prozent in Sachsen-Anhalt nahe an den Bedarf. Zudem werde in der Region ein Rückgang der Geburtenzahlen erwartet. Allerdings sei die Personalausstattung dort mit durchschnittlich 5,7 Kindern pro Betreuungsperson kaum ausreichend (Westen 3,6 Kinder). Ein Wert von 3,0 wäre pädagogisch sinnvoll.



Ein Haus für Geschwister in Not


Gemeinsam Schaukeln im Garten des Geschwisterhauses in Darmstadt.
epd-bild/Thomas Lohnes
Bei Inobhutnahmen werden Kinder häufig nicht nur aus der Familie geholt, sondern auch von ihren Geschwistern getrennt. Zwei Häuser in Deutschland zeigen seit diesem Jahr, dass es auch anders geht.

Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung: Werden Kinder in einer akuten Notsituation vom Jugendamt aus der Familie geholt, haben sie meist Schlimmes hinter sich. Hinzu kommt: Sehr häufig werden sie dabei nicht nur von ihren Eltern getrennt, sondern auch von ihren Geschwistern. Viel zu oft habe er miterlebt, wie Kinder mitten in der Nacht regelrecht auseinandergerissen worden seien, sagt Peter Büttner, Psychotherapeut und Geschäftsführer des Kinder- und Jugendhilfeprojekts "Petra": "Es bricht einem das Herz."

Deshalb hat das Projekt "Petra" in Darmstadt Anfang des Jahres das nach eigenen Angaben erste Geschwisterhaus in Deutschland eröffnet - ein bundesweites Pilotprojekt, das wissenschaftlich begleitet wird. Im Juni folgte das SOS-Kinderdorf in Bremen mit einem Geschwisterhaus.

In der Jugendhilfe würden Kinder leider viel zu häufig als Einzelfälle betrachtet, berichtet auch der Leiter des Bremer Geschwisterhauses, Lars Becker. "Wir machen von Anfang an klar: Ihr seid eine Familie, ihr bleibt zusammen."

Großer Bruder schafft Vertrautheit

Warum das so wichtig ist? "Man muss sich nur die erste Nacht vorstellen", sagt der Sonderpädagoge. Ein zwei, drei Jahre altes Kind übernachte in der Regel zum ersten Mal in seinem Leben nicht zu Hause, ohne Mutter oder Vater, noch dazu in einer Krisensituation. "Was bietet ihm Sicherheit? Alles, was vertraut ist." Der Bruder, die Schwester. Sie vermittelten das Gefühl, nicht alleine zu sein, die Situation gemeinsam durchzustehen.

Becker ist überzeugt: "Geschwister sind eine wichtige Ressource, gerade in so einer schwierigen Zeit." Tagsüber flitze der Vierjährige vielleicht mit gleichaltrigen Kindern durchs Haus, veranstalte mit ihnen Wettrennen mit den Bobbycars. Doch wenn er abends ins Bett gehe, habe er seinen großen Bruder an seiner Seite, der zudem die Einschlafrituale der Familie kenne. "Diese Sicherheit kann man gar nicht überschätzen."

Als Schutz vor einer akuten Kindeswohlgefährdung werden in Deutschland jedes Jahr etwa 50.000 Kinder in Obhut genommen, darunter viele Geschwister. "Jedes einzelne Schicksal ist extrem schwierig und belastend", sagt Büttner. Eigentlich sage einem der gesunde Menschenverstand, dass Brüder oder Schwestern für die Krisenbewältigung ganz entscheidend sein könnten.

"Zur Ruhe kommen"

Doch die Praxis sieht oft anders aus. Bisher hänge es vor allem vom Zufall ab, ob Geschwister gemeinsam untergebracht würden, sagt Angelo Barba, Leiter des Darmstädter Geschwisterhauses. Eine zentrale Rolle spielten dabei das Alter der Kinder sowie die Kapazitäten in den Einrichtungen: Kleinkinder bis sechs Jahre kämen in der Regel vorübergehend in einer Bereitschaftspflegefamilie unter, ältere Geschwister in einer Einrichtung.

Das Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz begrüßt ausdrücklich den Aufbau von Geschwisterhäusern. Eine wissenschaftliche Untersuchung zeige, dass bei einer Herausnahme von Kindern aus der Familie auf die Geschwisterbindungen oft nicht hinreichend Rücksicht genommen werde, "die jungen Menschen sich dies aber deutlich wünschen", sagt die stellvertretende Institutsdirektorin Monika Feist-Ortmanns. Grund seien fehlende Strukturen für eine gemeinsame Unterbringung. Der Aufbau von Geschwisterhäusern sei daher "sinnvoll und notwendig".

Die Einrichtungen in Darmstadt und Bremen bieten jeweils zehn Plätze. Zum Haus in Darmstadt gehört ein großer Garten mit Schaukel und Planschbecken, drinnen gibt es einen Ruheraum mit Matratzen und Kuscheltieren, ein Spielzimmer mit Puppenküche und unterm Dach ein Klassenzimmer. Alles ist hell und freundlich. Die Kinder sollen sich wohlfühlen, betont Barba. "Sie sollen zur Ruhe kommen." Aber gleichzeitig nicht heimisch werden.

"Das hier ist kein Zuhause", stellt der Geschäftsführer des Projekts "Petra" klar. "Wir sind eine Notfallambulanz." Wichtig sei, dass die Kinder schnellstmöglich eine dauerhafte Perspektive bekommen. Das Ziel: "Sie sollten nicht länger als acht Wochen hierbleiben."

Bedarf auf 20 Häuse geschätzt

Darauf wird auch im Geschwisterhaus in Bremen großer Wert gelegt: "Die Kinder sollen so schnell wie möglich an einen Ort kommen, an dem sie dauerhafte Bindungen und Sicherheit aufbauen können", betont Lars Becker.

Allerdings kann es Ausnahmen von dem Prinzip geben, Geschwister möglichst gemeinsam unterzubringen: In Einzelfällen könnten Fachkräfte zu der Entscheidung kommen, dass dies kontraproduktiv sei, erklärt Peter Büttner. Wenn die Schwester zum Beispiel für ihre kleinen Geschwister immer die Mutterrolle übernehmen musste und damit völlig überfordert war. Deshalb sei eine gute Diagnostik wichtig. Zum Haus gehört ein Expertenteam, das gemeinsam die Krisensituation analysiert und Perspektiven für die Geschwisterkinder entwickelt.

Psychotherapeut Büttner schätzt, dass es etwa 20 Häuser in Deutschland für eine flächendeckende Versorgung bräuchte. Die Häuser in Darmstadt und Bremen sind ein erster Schritt. Sein Ziel: "Wir wollen aufklären und beweisen, dass es den Kindern so besser geht."

Von Kathrin Hedtke (epd)



Medien & Kultur

Die Kunst der großen Gefühle


Kirchners "Farbentanz" (1932) in der Ausstellung "Passion Leidenschaft".
epd-bild/Angelika Osthues
Neid, Wut, Liebe, Hass, Begehren, Verzweiflung und Ekstase: Die neue Ausstellung im LWL-Museum für Kunst und Kultur versammelt all die großen Gefühle. Unter dem Titel "Passion Leidenschaft" werden in Münster rund 200 Werke präsentiert.

Der Kontrast könnte nicht größer sein. Leicht und spielerisch mutet Ernst Ludwig Kirchners "Farbentanz" von 1932 an. Drei bunte Figuren strecken die Arme einer nicht weniger farbenfrohen Sonne entgegen. Gegenüber hängt Edvard Munchs "Weinendes Mädchen" von 1909. Nackt steht es an der Seite ihres Bettes, den Kopf in tiefer Traurigkeit gesenkt. Die beiden so gegensätzlich wirkenden Bilder sind Teil der Ausstellung "Passion Leidenschaft. Die Kunst der großen Gefühle", die bis zum 14. Februar 2021 im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster zu sehen ist.

"Gefühle prägen unsere Gesellschaft und unser Miteinander", betont Matthias Löb, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). Die Ausstellung solle die Besucherinnen und Besucher emotional berühren und ihnen vor Augen führen, "dass große Gefühle zeitlos sind".

Leihgaben trotz Corona

Die Schmerzen des antiken Laokoon, der Rausch von Bacchus-Jüngerinnen, die Leiden Christi und die Euphorie, die Liebende befällt, all das wird in der Ausstellung anschaulich und bildmächtig präsentiert. Dazu hat Kuratorin Petra Marx rund 200 Werke thematisch zusammengestellt, die einen Zeitraum von 2000 Jahren umfassen. "Ich bin glücklich, dass wir die Ausstellung trotz Corona realisieren konnten", sagt sie. "Wir haben lange gezittert, dann aber doch alle Leihgaben bekommen, auch die Werke aus Frankreich, Italien und Großbritannien." Zu den Objekten zählen Gemälde und Skulpturen von namhaften Künstlern wie Rembrandt, Camille Claudel und Auguste Rodin, Egon Schiele, Edvard Munch oder Käthe Kollwitz bis hin zu Videoinstallationen des US-Amerikaners Bill Viola.

Die Ausstellung deckt sechs Themenbereiche ab. Der erste Raum beschäftigt sich mit Körpersprache, während im zweiten mit Kunstwerken von der Antike bis zur Gegenwart eine Art Theorie der Leidenschaft geliefert wird. Dort sticht "Der Bethlehemitische Kindsmord" von Peter Paul Rubens (1637) mit seinem dramatischen Bildaufbau ins Auge. Auch Nachbauten antiker Theatermasken sind zu sehen sowie ein 1682 entstandenes Gemälde von Jean Boinard, bei dem mit Hilfe eines Schiebemechanismus der Mund so verändert werden kann, dass der Porträtierte einmal fröhlich, einmal traurig wirkt.

Liebe und christliche Passion

Der dritte Raum ist ganz der Liebe gewidmet: Großformatig präsentiert Pauwels Franck beispielsweise eine Liebesszene mit sieben Paaren in unterschiedlichen Stadien der Annäherung, voll Begierde und Leidenschaft. Die dunklen Seiten der Liebe thematisiert dagegen das Selbstporträt von Nan Goldin aus dem Jahr 1984. Die Fotografie zeigt sie, nachdem ihr Freund sie verprügelt hat. "Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit" nennt Goldin in Anspielung auf Bertolt Brecht ihr Werk über Eifersucht und Gewalt.

Die christliche Passion ist ein Schwerpunkt der Themenschau. Aus dem Jahr 2007 stammt etwa eine lebensgroße Pietà-Skulptur der Belgierin Berlinde De Bruyckere, die allein den geschundenen Leib Christi zeigt. Ein sechsminütiger Videoausschnitt aus dem "Orgien Mysterien Theater" des Österreichers Hermann Nitsch lässt den Betrachter verstört zurück, während diverse Märtyrer-Darstellungen das Wechselspiel zwischen Schmerz und religiöser Ekstase in den Minen der dargestellten Personen wiedergeben.

Auch Martha Roslers Digitaldruck "Point & Shoot" von 2016 im fünften Themenraum über Gefühle im politischen Kontext rüttelt auf. Es ist ein Bild des US-Präsidenten Donald Trump, blutrot überschrieben mit dem Satz "Ich könnte mitten auf der Fifth Avenue stehen und jemanden erschießen und würde keine Wähler verlieren", den er 2016 in einem christlichen College in Iowa gesagt hatte.

"Sehnsucht nach tiefen Empfindungen"

Den Abschluss des Rundgangs bilden Selbstporträts von Künstlern und Künstlerinnen, in denen sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen. "Heute gibt es eine Sehnsucht nach tiefen Empfindungen, und die Kunst ist das Medium, das diese Leidenschaften am tiefsten zum Ausdruck bringt", erklärt Museumsdirektor Hermann Arnold und lädt die Besucher ein, mit mitzufühlen mit dem, was sie in der Ausstellung zu sehen bekommen.

Und wer sich selbst nicht ganz sicher seiner Gefühle ist, kann die sogenannte Leidenschaftskurve testen. Die Station im letzten Raum analysiert die Mimik des jeweiligen Betrachters und verrät, ob sie oder er gerade Liebe, Hass, Gelassenheit oder Wut empfinden.

Von Helmut Jasny (epd)


Kunstkritiker küren Museum Folkwang zum Museum des Jahres


Das Museum Folkwang in Essen.
epd-bild / epd West / Museum Folkwang Essen

Das Museum Folkwang in Essen ist nach dem Urteil deutscher Kunstkritiker "Museum des Jahres 2019". Zwei weitere Auszeichnungen für wichtige Ausstellungen des vergangenen Jahres gingen am 5. Oktober nach Berlin und Rostock, wie die deutsche Sektion des Internationalen Kunstkritikerverbandes Aica mitteilte. Die Kritiker hatten über die Auszeichnungen bereits im Frühjahr entschieden. Wegen der Corona-Pandemie konnten die Preise erst jetzt in Essen vergeben werden.

Dem traditionsreichen und besucherfreundlichen Essener Museum Folkwang sei es immer wieder gelungen, seine bedeutende Sammlung mit thematisch aktuellen Sonderausstellungen zu verbinden, begründeten die Aica-Kunstkritiker ihre Wahl. Besonders durch den 2010 eröffneten Neubau von David Chipperfield Architects sei ein "sich nicht allein architektonisch für die Stadt öffnendes Haus entstanden". Dem Direktor des Museums, Peter Gorschlüter, sei es gelungen, den Vertrag mit der Krupp-Stiftung um eineinhalb Jahre zu verlängern und damit die Stadt Essen dafür zu gewinnen, den freien Eintritt in die ständige Sammlung dauerhaft zu ermöglichen. Zu erwähnen sei auch die erfolgreiche Kooperation des Museums mit der Essener Folkwang Universität der Künste als wichtiger Ausbildungsstätte, hieß es.

Beste Ausstellung in Rostock

Zur "Ausstellung des Jahres" kürten die Kritiker die Schau "Palast der Republik" in der Kunsthalle Rostock. Hier sei leicht verständlich und wissenschaftlich sachlich anhand von Design, Architektur und Fotografie sowie aktueller Kunst die Geschichte des gleichnamigen Gebäudes im Herzen Berlins dargestellt worden, erklärte der Kritikerverband. Ein besonderer Schwerpunkt der Ausstellung habe auf der Auseinandersetzung der zeitgenössischen Künstler mit dem umstrittenen und mittlerweile abgerissenen SED-Prachtbau gelegen. Die Ausstellung habe Maßstäbe gesetzt - über das mit Kunsthäusern spärlich besetzte Mecklenburg-Vorpommern hinaus.

Den Titel "Besondere Ausstellung" erhielt "The Making of Husbands: Christina Ramberg in Dialogue" in den Kunst-Werken Berlin. Auf beispielhafte Weise unterlaufe die Gruppenausstellung den "Trend zur kritiklosen Verstärkung von Einzelpositionen oder eindeutigen Statements". Gezeigt wurde nicht nur das wenig untersuchte Werk der Chicagoer Malerin Christina Ramberg (1946-1995), sondern auch Arbeiten von Alexandra Birckens, Senga Nengudis, Ghislaine Leung oder die für die Ausstellung entwickelten Papiertapeten Gaylen Gerbers.

Die rund 200 in der deutschen Aica-Sektion zusammengeschlossenen Autoren, Kritiker, Journalisten und Publizisten vergeben jedes Jahr ihre drei undotierten Auszeichnungen an Museen und für einzelne besonders gelungene Kunstausstellungen. In der internationalen Aica sind weltweit in 95 Ländern knapp 5.000 Mitglieder organisiert. Der Verband wurde 1948/1949 gegründet und von der Unesco als Nichtregierungsorganisation anerkannt.



Springer eröffnet neues Verlagsgebäude


Axel-Springer-Neubau
epd-bild/Rolf Zöllner
Der Axel-Springer-Verlag hat in Berlin ein neues Verlagsgebäude des niederländischen Stararchitekten Rem Koolhaas eingeweiht. Der Bundespräsident spricht von einer "Kathedrale" und nutzt die Gelegenheit zu einer medienpolitischen Grundsatzrede.

Im Beisein von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Axel-Springer-Verlag am 6. Oktober in Berlin-Mitte ein neues Verlagsgebäude eröffnet. Der etwa 300 Millionen Euro teure futuristische Neubau des niederländischen Architekten Rem Koolhaas steht gegenüber dem alten Springer-Gebäude und erstmals auf östlicher Seite der einstmals geteilten Stadt. Auf mehr als 52.000 Quadratmetern und zehn Geschossen verteilen sich Büro- und Redaktionsflächen für mehr als 3.000 Mitarbeiter. Das Zentrum des Gebäudes bildet ein 45 Meter hohes Atrium mit terrassenförmigen Arbeitsbereichen.

In seiner Rede appellierte der Bundespräsident an die Medien, ihrer Verantwortung in der Demokratie gerecht zu werden. Im digitalen Zeitalter treibe größtmögliche Erregung die "Logik der Plattformökonomie" an, sagte Steinmeier. Dagegen müsse sich Qualitätsjournalismus behaupten.

"Existenzielle Auseinandersetzung"

"Wenn ich mit meinen Mutmaßungen richtig liege, wird sich der Qualitätsjournalismus, auf den die Demokratie zählen muss, auf unbekannte Zeit gegen die digitale Enteignung von Urheberrechten, gegen die Verflachung und Verzerrung, ja gegen den vollständigen Glaubwürdigkeitsverlust der Inhalte behaupten müssen", sagte der Bundespräsident. Das sei für den Journalismus eine "existenzielle Auseinandersetzung". "Entgehen wird ihr niemand", sagte Steinmeier. Die digitale Transformation zu verweigern, sei keine Option. Einer Revolution weiche man nicht aus.

Journalismus müsse sich vornehmen, "vor allem unterscheidbar zu bleiben von den schillernden Produkten der Empörungsökonomie, die in dichter Frequenz Feindbilder, Ressentiments und Vorurteile bedient", warnte der Bundespräsident. Die Verantwortung der Medien sei heute größer denn je.

Konkret warnte Steinmeier vor Falschinformationen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. "In einer Pandemie wirken falsche Informationen wie ein Superspreader. Und spätestens wenn der gläubige Maskenverweigerer oder Impfgegner sich infiziert hat, schlägt die Realität zurück", sagte Steinmeier und fügte hinzu. "Die Realität, sie ist das, was bleibt, auch wenn man nicht daran glaubt."

Für Interaktion konzipiert

Der Bundespräsident bezeichnete das neue Verlagsgebäude als Symbol für den radikalen Umbau eines Verlages in ein Medienunternehmen, "eine Antwort auf die Anforderungen und die Herausforderungen der Digitalisierung". Steinmeier erinnert daran, dass vor 54 Jahren, am 6. Oktober 1966, Verlagsgründer Axel Springer das gegenüberliegende alte Verlagsgebäude im Beisein des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke eröffnet hatte.

Springer-Chef Mathias Döpfner nannte das Gebäude eine "Antwort auf die aktuellen Herausforderungen". "Wir wollten mit dem Neubau ein Symbol und einen Beschleuniger unseres eigenen Wandels schaffen. Der Auftrag sei lange vor Corona gewesen, die Frage neu zu beantworten, warum man im digitalen Zeitalter überhaupt noch Büroräume brauche. Das sei Architekt Rem Koolhaas "spektakulär gelungen".

Koolhaas sagte, die Corona-Pandemie und die gleichzeitige digitale Beschleunigung zeige die Notwendigkeit von Räumen, die für die Interaktion von Menschen konzipiert sind. Der Neubau biete seinen Nutzern verschiedenste räumliche Gegebenheiten, "von intim bis monumental".



Louise Glück und die strenge Form

Für Louise Glück erscheint Poesie fast als Therapie. Mit ihren Gedichten und dem zauberhaften Garten aus "Wilde Iris" schrieb die neue Nobelpreisträgerin über die Heilkraft von Literatur und Natur. Der Band könnte in der Pandemie hochaktuell werden.

Louise Glück gilt als eine sehr gebildete Autorin. Ihre Kenntnisse der griechischen Mythologien sind ausgezeichnet, wie sie vielfach unter Beweis gestellt hat. Als am 11. September 2001 das World Trade Center zusammenbrach, reagierte die Lyrikerin mit dem Gedichtband "Oktober", der voller Bezüge zur Antike ist. Der Titel sollte auf die Zeit nach dem September hinweisen, wenn der Staub sich gelegt hat und das Gedenken an die Opfer beginnt. Am 8. Oktober wurde der 77-Jährigen US-Amerikanerin in Stockholm der diesjährigen Nobelpreis für Literatur zuerkannt - für viele hierzulande überraschend.

In dem Band "Oktober" beschwor Glück die antike Mythologie mit ihren Ritualen von Trauer und Leid herauf, in der Hoffnung, durch diesen historischen Rückgriff das nationale Trauma fühlbar und damit weniger kriegerisch und destruktiv zu machen. Der Kritiker Mark Strand schrieb damals: "In der Jahreszeit des Herbstes, der dunklen Zeit, geschrieben, ist Louise Glücks Stimme stärker, direkter, noch emotionaler aufgeladen als je zuvor. Dieses Poem ist ein Meisterwerk, gerade weil es voller Schönheit steckt, aber diese nie mit Erlösung verwechselt."

Als Jugendliche am Scheideweg

Diese fast therapeutische Funktion von Poesie begleitet den Lebensweg der 1943 in New York geborenen Louise Glück. Bereits als Jugendliche hatte sie mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Sie litt an starker Anorexie und begab sich in psychologische Behandlung, jedoch ohne großen Erfolg. Sie zweifelte sogar daran, ob ihr unter diesen Bedingungen ein Studium möglich sein würde. Die gesundheitliche Krise wurde existenziell und sie bekannte: "Ich verstand auf einmal, dass ich dabei war zu sterben. Aber ich war mir sicher, auf intensive körperliche Art, dass ich nicht sterben wollte."

Noch Jahre später dachte sie über diesen Scheideweg ihres Lebens nach: "Meine ganze emotionale Grundausstattung, die extreme Starrheit und Festigkeit, mit der ich mein alltägliches Verhalten regelte, auch meine seltsame, verrückte Abhängigkeit von Ritualen, machten alle anderen Formen der Erziehung nahezu unmöglich." Sie brach ihr Studium ohne Abschluss ab und arbeitete Ende der sechziger Jahre als Sekretärin, um Geld zu verdienen. Aber die Literatur hatte sie in den Bann gezogen, vor allem die Verbindung von griechischer Kultur und Lyrik - denn in beidem fand sie wieder, was sie unbedingt brauchte: Eine strenge Form, Rituale, eine therapeutische Arbeit an sich selbst. Wer gedacht hatte, die alte griechische Kultur könne den Heutigen nicht mehr viel sagen, wurde von Louise Glück eines anderen belehrt.

"Der Triumph des Achilles" etwa hieß ein Gedichtband von 1985. Dort schaffte sie es tatsächlich, Fragen des Alterns, von Religion und Mythologie, Freundschaft und Verlust, anhand der alten griechischen Geschichten neu und poetisch zu fassen, in einer Sprache, die der amerikanische Poet Craig Teicher einmal so beschrieb: "Bei Louise Glück sind die Wörter immer spärlich. Sie sind hart dem Leben abgerungen und dürfen auf keinen Fall wieder verloren gehen."

Überraschende Aktualität

Bis heute hat Louise Glück 14 Gedichtbände veröffentlicht. Sie hat unzählige Ehrungen bekommen, für einzelne Bücher, für ihr Werk, und teilt doch das Schicksal vieler Kollegen und Kolleginnen, die als Lyriker wenig Beachtung finden. Zwei ihrer Bücher wurden ins Deutsche übersetzt, "Averno" (engl. 2006) und "Wilde Iris (engl. 1992)", der in der deutschen Kritik als "einer der vielstimmigsten und am straffsten komponierten amerikanischen Gedichtbände des Jahrzehnts" gelobt wurde, für den sie völlig verdient den Pulitzerpreis bekommen habe.

Vielleicht wird nicht nur die überraschende Zuerkennung des Nobelpreises für Literatur die Wertschätzung einer großen Lyrikerin verbessern, auch ihre Themen sind von verblüffender Aktualität. In "Wilde Iris" führt sie uns in einen zauberhaften Garten, in dem die Blumen Stimmen haben und mit Intelligenz und großem Gefühl zu allen sprechen, die diesen Garten betreten. "Nature Writing" würde man das heute nennen, doch über die Heilkraft von Literatur und Natur hat Louise Glück bereits Gedichte geschrieben, als dieses heute sehr erfolgreiche Genre noch kaum bekannt war. "Bei ihr bekommen Blumen eine Sprache des Trauerns", schrieb der Kritiker Morris Daniel.

Vielleicht ist es kein Zufall, das Louise Glück den Nobelpreis in einem Jahr bekommt, in dem eine schwere Pandemie herrscht, und ihr Land, die Vereinigten Staaten, der therapeutischen Funktion von Literatur dringend bedarf.

Von Mario Scalla (epd)


Bücher ohne Bühne


Lisa Stöhr im Laden der Büchergilde in Frankfurt am Main.
epd-bild/Tim Wegner
Ohne den Trubel in den Hallen der Frankfurter Buchmesse fehlt der Branche ihr traditionelles Glanzlicht. Das Literaturspektakel hat das Geschäft mit dem Lesen stets angekurbelt. Buchhändler bangen nun um ihre Weihnachtsumsätze - und gehen neue Wege.

Normalerweise würde Lisa Stöhr in ihrer Buchhandlung jetzt einen Tisch mit Neuerscheinungen kanadischer Autorinnen und Autoren aufbauen, von Margaret Atwood über Douglas Coupland bis Joy Fielding. Stattdessen stapeln sich dort nun Kalender fürs kommende Jahr. Die weitgehende Absage der Frankfurter Buchmesse mit dem Ehrengast Kanada macht sich sichtlich bemerkbar. "Das Thema ist jetzt ziemlich in den Hintergrund gerutscht", sagt die Inhaberin der Buchhandlung und Galerie Büchergilde Frankfurt am Main. Was die Auswirkungen auf ihr Geschäft angeht, schwankt Stöhr zwischen Hoffen und Bangen.

"Die Buchmesse war für uns immer ein wichtiger Vorläufer des Weihnachtsgeschäfts", sagt die 35-Jährige. "Viele Besucherinnen und Besucher sind durch die Hallen gegangen und hatten Gedanken wie: 'Oh, das Buch ist was für meine Tante'. Da ist ganz viel Inspiration passiert." Auch der Branchenverband Börsenverein des Deutschen Buchhandels betont die Bedeutung der Messe, um die Aufmerksamkeit auf das Lesen zu lenken. Welcher Anteil des stets starken Buchhandels-Umsatzes im vierten Quartal tatsächlich auf die Frankfurter Schau zurückzuführen sei, lasse sich aber natürlich nicht beziffern.

Sorge um Kleinverlage

Da diesmal trotz der Absage der Messestände Lesefeste und ein großes digitales Programm stattfinden, hofft Buchhändlerin Stöhr, "dass Lesen und Bücher in dieser Zeit trotzdem sehr präsent sein werden" und ihr größere Absatzeinbußen erspart bleiben. Ihr Buchladen nahe der Konstablerwache ist mit drei kleineren Lesungen am Kulturfestival Bookfest beteiligt.

Mehr Sorgen als um den Handel macht sich Stöhr um kleinere Verlage, denen nun nach dem Ausfall der Leipziger Buchmesse im Frühjahr schon die zweite Gelegenheit wegbricht, sich persönlich vorzustellen. "Indie-Verlage mit wenig Finanzkraft sind darauf angewiesen, ihr Programm sowohl dem Buchhandel als auch dem Publikum präsentieren zu können", erklärt sie zu den unabhängigen Verlagen. "Insolvenzen würden große Verluste für die Branche bedeuten, denn kleine Verlage sind wichtige Treiber von Innovationen und Experimenten, oft bringen sie die spannendsten Bücher heraus."

Ein Chance haben aus ihrer Sicht vor allem Verlage und Buchhändler, die schnell und kreativ auf digitale Angebote umsteigen: "Wer sich gute neue Sachen einfallen lässt, kann vielleicht sogar profitieren." Aufgrund von Corona seien zunächst zwangsweise viele neue Formate entstanden, die aber auch in Zukunft von Wert seien. "In der Schließzeit war bei uns erst einmal große Panik", erinnert sich Stöhr. Aber durch neue Social-Media-Angebote, Online-Veranstaltungen, Lieferdienste und eine Abholstation sei ihr Geschäft "wie viele andere kleine Buchhandlungen glimpflich davongekommen".

Nachfrage zog wieder an

Das gilt für die gesamte Branche, wie der Börsenverein bestätigt. Zwar sei während der Ladenschließungen im März und April der Umsatz erheblich zurückgegangen, erklärt Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs. Seit Juni sei die Nachfrage nach Büchern aber groß gewesen, und die Umsätze lägen jeweils über denen der Vorjahresmonate.

Daher demonstriert der Branchenverband als Veranstalter der Buchmesse trotz des Wegfalls des "physischen Auftritts" Optimismus. Man sei überzeugt, dass die Messe mit ihren digitalen und dezentralen Veranstaltungen große Aufmerksamkeit für Bücher und das Lesen erzeugen werde, sagt Schmidt-Friderichs. Da sich auch Buchhandlungen und Verlage mit ihrem Kundenservice und Marketing intensiv bemühten, selbst unter Pandemie-Bedingungen ein erfolgreiches Weihnachtsgeschäft zu erzielen, rechne der Börsenverein mit einem "starken Bücherherbst und einem guten Verlauf des Geschäfts im restlichen Jahr".

Die Münchner Buchhandelskette Hugendubel zeigt sich ebenfalls "zuversichtlich, was den Umsatz im Herbst betrifft", wie die geschäftsführende Gesellschafterin Nina Hugendubel sagt. Die Augsburger Weltbild-Gruppe dagegen äußert "Bauchschmerzen mit Blick auf den Schwund an Leserinnen und Lesern, der aufgrund des Vorgehens der Frankfurter Buchmesse zu befürchten" sei. "Wenn Lesen, Autorinnen und Autoren, neue Bücher im Oktober kein großes Lesefest feiern können, kann das bedeuten, dass wieder eine erhebliche Anzahl von Menschen ihre Mediennutzung ändert und wir Leserinnen und Leser verlieren", sagt CEO Christian Sailer. Thalia und Amazon äußerten sich nicht auf Anfrage.

Auch Lisa Stöhr bedauert, dass die persönlichen Begegnungen auf der Messe dieses Jahr ausfallen, ist aber insgesamt trotzdem erleichtert über die Absage der großen Hallenausstellung. "Uns als kleinem Team wäre bei einer solchen Großveranstaltung sehr mulmig gewesen", sagt sie. "Denn im Fall der Fälle hätten wir komplett schließen müssen." Ins Weihnachtsgeschäft geht ihr Laden in der Pandemie-Zeit nun unter dem Motto "Sicher Buchgeschenke kaufen!": Angeboten werden unter anderen private Stöbertermine nach Ladenschluss und Videoberatungen via Whatsapp oder Zoom.

Von Michaela Hütig (epd)


Vatikanischer "Kulturminister" würdigt verstorbenen Eddie Van Halen

Der Präsident des päpstlichen Kulturrats, Kardinal Francesco Ravasi, hat den verstorbenen Gitarristen Eddie Van Halen gewürdigt. Der vatikanische "Kulturminister" verglich die Rock-Legende am 7. Oktober auf Twitter mit dem Barock-Komponisten Johann Sebastian Bach (1685-1750). Ravasi zitierte den Rockmusik-Produzenten Ted Templeton mit den Worten: "Eddie kann 30 Sekunden lange Phrasen mit einer Komplexität spielen, die es mit Bach aufnehmen kann." Der gebürtige Niederländer Van Halen war am 6. Oktober nach einer Krebserkrankung gestorben.

Der vatikanische Kulturminister plädiert seit jeher für eine Öffnung des Kulturbegriffs in der katholischen Kirche. Der spätere Literaturnobelpreisträger Bob Dylan trat bereits 1997 mit seiner Gitarre vor dem damaligen Papst Johannes Paul II. auf.



Filme der Woche

Der geheime Garten

Die 10-jährige Mary (Dixie Egerickx) kommt nach dem Tod ihrer Eltern auf das Landgut ihres Onkels Archibald (Colin Firth). Wirklich interessieren tut sich dort keiner für sie. Dann entdeckt sie einen geheimen Garten, den seit zehn Jahren niemand betreten hat. Gemeinsam mit ihrem kränklichen Cousin Colin (Edan Hayhurst) und ihrem neugewonnen Freund Dickon (Amir Wilson) beginnt sie eine Welt zu erkunden, die nicht nur ihr eigenes Leben von Grund auf verändert. Verfilmung des Kinder- und Jugendromans von Frances Hodgson Burnett, die sehr auf die visuellen Effekte setzt.

Der geheime Garten (Großbritannien/Frankreich 2020). R: Marc Munden. B: Jack Thorne (nach einem Roman von Frances Hodgson Burnett). Da: Dixie Egerickx, Colin Firth, Julie Walters, Edan Hayhurst. 100 Min.

Rojo

Argentinien im Jahr 1975, einige Monate vor der Machtergreifung der Militärjunta: Der Anwalt Claudio Mora (Darío Grandinetti) gerät bei einem Restaurantbesuch in eine Auseinandersetzung mit dramatischen Folgen. Im Anschluss scheint ihn die Tat zu verfolgen. Gleichzeitig bemerkt er immer mehr Machenschaften in seinem Umfeld, die sein bisheriges Prinzip des Wegschauens nach und nach in Frage stellen. Meisterhaft inszenierter Paranoiathriller, der in wenigen Skizzen die damalige Gesellschaft heraufbeschwört.

Rojo (Argentinien/Brasilien/Frankreich/Niederlande/Deutschland 2018). R u. B: Benjamín Naishtat. Da: Darío Grandinetti, Andrea Frigerio, Alfredo Castro, Diego Cremonesi. 109 Min.

Oeconomia

Wie entsteht eigentlich Geld? Diese simple und doch so schwierige Frage ist Ausgangspunkt von Carmen Losmanns Dokumentarfilm. Sie versucht hinter die Fassaden der großen Finanzfirmen zu schauen und das zugrunde liegende System zu verstehen. Auch wenn viele Beteiligte sich eher scheuen, offen zu sprechen, bleibt Losmann hartnäckig und ist auch bereit, scheinbar naive Fragen zu stellen. Dadurch gelingt es dem Film, einem breiten Publikum komplexe Zusammenhänge näher zu bringen.

Oeconomia (Deutschland 2020). R u. B: Carmen Losmann. Mit: Samirah Kenawi, Dag Schulze, Marc Sierszen, Lino Zeddies. 89 Min.

Der Bär in mir

Filmemacher Roman Droux begleitet den Bärenforscher David Bittner nach Alaska, in eine der letzten Wildnisse Nordamerikas. Bittner verbringt seit knapp 20 Jahren regelmäßig mehrere Monate dort, um Grizzlys zu beobachten. Daraus ist ein faszinierender Einblick in die Welt der Tiere und der einsamen Natur entstanden, bei dem die Macher stets respektvolle Distanz wahren und das natürliche Leben der Bären den Verlauf bestimmt.

Der Bär in mir (Schweiz 2019). R u. B: Roman Droux. Mit: David Bittner, Roman Droux, Willy Foulton. 91 Min.

www.epd-film.de




Entwicklung

Lebensader für Millionen Menschen in Kriegen und Konflikten


Hilft an vielen Krisenorten: Das Welternährungsprogramm erhält den Friedensnobelpreis.
epd-bild/Stefan Ehlert
Tausende Lastwagen fahren jeden Tag los, um Hungernde in aller Welt mit Essen zu versorgen. Oft müssen die Helfer und Helferinnen in gefährliches Gebiet. Für diesen unermüdlichen Einsatz erhält das Welternährungsprogramm den Friedensnobelpreis 2020.

Die Arbeit wird viel gelobt, doch der Friedensnobelpreis kommt überraschend. Denn zu den großen Favoriten für die hohe Auszeichnung gehörte das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen nicht. Viele Experten räumten anderen Institutionen aus der UN-Familie wie der Weltgesundheitsorganisation weitaus höhere Chancen ein, den wichtigsten internationalen Preis zu erhalten. Die Auszeichnung für das Welternährungsprogramm mit Sitz in Rom, die "größte humanitäre Organisation der Welt", wie die Vorsitzende des norwegischen Nobelkomitees, Berit Reiss-Andersen, am 9. Oktober sagte, ist aber auch eine Würdigung der Vereinten Nationen insgesamt.

"Die UN spielen eine Schlüsselrolle in der Aufrechterhaltung der multilateralen Kooperation", sagte die Vorsitzende. Die von der Corona-Pandemie, Krisen und Kriegen geschüttelte Welt brauche die enge multilaterale Kooperation mehr als jemals zuvor.

Für globale Zusammenarbeit, für Hilfe und für Solidarität steht das Welternährungsprogramm, das ausschließlich aus freiwilligen Beiträgen finanziert wird, wie kaum eine andere Organisation. Hauptsächlich Regierungen überweisen Gelder in die WFP-Kassen. Die insgesamt 17.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen planen, in diesem Jahr 138 Millionen Menschen mit überlebenswichtigen Lebensmitteln zu erreichen. Doch immer wieder muss das WFP Essensrationen kürzen, wie zuletzt etwa im Bürgerkriegsland Jemen, weil die Staaten zu wenig Geld für den Hilfseinsatz überwiesen haben.

Fast 13 Milliarden Mahlzeiten

Jeden Tag schickt das WFP im Durchschnitt rund 5.000 Lastwagen, 20 Frachtschiffe und 92 Flugzeuge in den Einsatz, "um die Bedürftigsten mit Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern zu unterstützen". Jedes Jahr umfasst die WFP-Ernährungshilfe zirka 12,6 Milliarden Mahlzeiten.

Doch damit kann das WFP nicht alle hungernden Menschen satt machen. Das weiß auch der Exekutivdirektor, der US-Amerikaner David Beasley (63). Erst vor wenigen Tagen warnte der einstige Gouverneur des US-Bundesstaates South Carolina vor dem UN-Sicherheitsrat vor den Konsequenzen der Covid-19-Krise: "Die Auswirkungen haben die zwei Milliarden Menschen, die weltweit in der informellen Wirtschaft arbeiten, hauptsächlich in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen, am härtesten getroffen. Sie sind oft nur einen Tag Arbeit davon entfernt, Hunger zu leiden, sie leben mit anderen Worten von der Hand in den Mund."

Beasley befürchtet, dass die die Grenzschließungen und die Talfahrt der Weltwirtschaft im Zuge der Corona-Pandemie noch viele Menschen tödlich treffen wird. Rund 270 Millionen Menschen werden laut seinen Worten in "Richtung Hungertod" gedrängt. Diesen Menschen müsse dringend geholfen werden, verlangte Beasley.

Bomben, Gewalt, Hunger

Schon vor Beginn der Corona-Pandemie spitzte sich der Hunger weltweit wieder bedenklich zu. Das WFP und andere Nahrungsmittelexperten der UN schätzen, dass Ende 2019 fast 690 Millionen Menschen nicht genug zu essen hatten. "135 Millionen Menschen in 55 Ländern litten akuten Hunger", warnt das WFP. Innerhalb von fünf Jahren stieg die Zahl der Kinder, Frauen und Männer, die von Hunger betroffen waren, um 60 Millionen.

Einer der Hauptgründe für diese Entwicklung liegt in den vielen bewaffneten Konflikten rund um den Erdball. Egal ob im Jemen, in der Demokratischen Republik Kongo, in Nigeria, in den Sahelstaaten oder in Syrien: Die Kämpfe, die Gewalt, die Bomben zerstören die Volkswirtschaften der Länder und reißen die Zivilisten in den Abgrund.

Ein Konfliktland, in denen es den Menschen mit am schlimmsten geht, ist der Südsudan. Ein jahrelanger Bürgerkrieg verwüstete den noch jungen Staat, vor allem dessen Landwirtschaft. Bäuerliche Betriebe wurden reihenweise zerstört, Felder abgebrannt, Vieh getötet. Die Konfliktparteien setzen den Hunger sogar als Waffe in ihrem Krieg ein, wie eine UN-Kommission erst jüngst beklagte. Im Südsudan vermischen sich die Grausamkeiten des Konflikts und die Corona-Pandemie zu einem verheerenden Mix. WFP-Chef Beasley warnt eindringlich: "Durch Ausbrüche des Virus in städtischen Gebieten wie Juba drohen weitere 1,6 Millionen Menschen zu verhungern."

Von Jan Dirk Herbermann (epd)


Weltbank: Corona stürzt 100 Millionen Menschen in extreme Armut

Durch die Corona-Pandemie werden nach Schätzung der Weltbank in diesem Jahr bis zu 115 Millionen Menschen weltweit neu in extreme Armut stürzen. Bis 2017 sank die Zahl der Menschen, die mit 1,90 US-Dollar oder weniger auskommen müssen, auf 689 Millionen Männer, Frauen und Kinder, wie aus dem Weltarmutsbericht der Weltbank hervorgeht, der am 7. Oktober in Washington veröffentlicht wurde. Bis 2021 könnte die Zahl der extrem Armen sogar um 150 Millionen Menschen zunehmen. Es ist laut dem Bericht der schwerste Rückschlag bei der Armutsbekämpfung nach 25 Jahren fast stetiger Fortschritte.

"Die Pandemie und die weltweite Rezession könnten mehr als 1,4 Prozent der Weltbevölkerung in extreme Armut fallen", sagte Weltbankpräsident David Malpass. Die Ärmsten der Welt müssten die Hauptlast dieser historischen globalen Rezession tragen. Den Berechungen zufolge wäre die Armutsrate 2020 auf 7,9 Prozent der Bevölkerung gefallen. Wegen der Corona-Krise steigt sie jedoch wieder auf etwa 9,2 Prozent, das Niveau von 2017. Zwischen 2015 und 2017 schafften es den Berechnungen zufolge 55 Millionen Menschen, sich aus der Armut zu befreien. Der Weltbankbericht wird alle zwei Jahre veröffentlicht.

Hälfte der extrem armen Menschen lebt in fünf Ländern

Die stärkste Zunahme der extremen Armut erwartet die Weltbank in Südasien und Afrika südlich der Sahara. Um den schweren Rückschlag bei Entwicklungsfortschritten zu stoppen, fordert Malpass die Länder auf, sich auf die Zeit nach Corona vorzubereiten, indem sie Kapital, Arbeitskräfte, Bildung und Innovationen auf neue Unternehmen und Sektoren lenken. "Mir machen diejenigen Länder Mut, die bereits entschlossen handeln, schnell lernen und ihre Erfahrungen und Ergebnisse zum Nutzen anderer weitergeben", sagte er und rief zur Kooperation auf. Nach dem Weltarmutsbericht lebt fast die Hälfte aller extrem armen Menschen in den fünf Ländern Nigeria, Kongo, Tansania, Äthiopien und Madagaskar, in denen das Bevölkerungswachstum hoch ist.

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) sagte, die Armutsrate habe seit 1990 von 36 Prozent der Weltbevölkerung auf 9 Prozent gesenkt werden können. "Corona führt jetzt erstmals seit Jahren wieder zum Anstieg von Armut und Hunger in der Welt", betonte er. "Jetzt erst recht müssen wir am Ziel einer Welt ohne Hunger und Armut festhalten." Vor allem Europa müsse mehr tun, um Entwicklungsländer mitten in der Krise zu stabilisieren. Die Staatengemeinschaft hat sich 2015 mit den Nachhaltigkeitszielen verpflichtet, Hunger und Armut bis 2030 zu überwinden.

Deutschland fördert laut Müller mit drei Milliarden Euro über ein weltweites Corona-Sofortprogramm Ernährung, Gesundheitssysteme, Hilfe in Flucht- und Krisenregionen sowie die Sicherung von Jobs und Unternehmen. Mit dem Geld erhalten etwa arbeitslose Textilarbeiterinnen in Bangladesch sowie Bedürftige in Indien, Jordanien, Tunesien und Malawi Überbrückungshilfen.



Corona-Folgen: Schuldenerlass für überschuldete Länder gefordert

Hilfsorganisationen fordern umfassende Schuldenerlasse für Entwicklungs- und Schwellenländer, deren Wirtschaft durch die Corona-Pandemie besonders stark eingebrochen ist. Das bestehende Schuldenmoratorium der großen Wirtschaftsmächte (G20) reiche nicht aus, erklärten das deutsche Entschuldungsbündnis erlassjahr.de, "Brot für die Welt", Misereor und Oxfam Deutschland am 8. Oktober in Berlin. Bei der Jahrestagung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank in der kommenden Woche sollten die Bundesregierung und die anderen IWF-Mitgliedsstaaten Schuldenstreichungen für besonders kritisch verschuldete Länder ermöglichen.

Der vom IWF für 2020 prognostizierte globale Wachstumseinbruch um 4,9 Prozent werde viele dieser Länder überproportional treffen, hieß es. Selbst bei einer Verlängerung des Moratoriums um mehrere Jahre wären viele Länder nicht in der Lage, Schuldenrückzahlungen so bald wieder aufzunehmen, erklärte Oxfam-Experte Tobias Hauschild. "Es ist völlig unrealistisch, dass die für die Länder des Globalen Südens bedeutenden Wirtschaftssektoren, darunter Tourismus oder der Export von Rohstoffen, und die daraus resultierenden Einnahmen schon in Kürze wieder das Vorkrisen-Niveau erreichen."

Private Gläubiger einbeziehen

Die Organisationen übten zudem Kritik an der bislang fehlenden Beteiligung privater Gläubiger an der Aussetzung des Schuldendienstes. Über eine UN-Resolution oder über eine Änderung der IWF-Statuten müsse künftig die Einbeziehung privater Gläubiger sichergestellt werden, forderte Eva Hanfstängl, Referentin für Entwicklungsfinanzierung von "Brot für die Welt". Damit könnten die Kosten eines Schuldenerlasses auch auf private Banken und Fondsgesellschaften umgelegt und so die Haushalte in den Schuldnerländern entlastet werden. Jeder Dollar erlassener Schulden könnte direkt in die Stärkung der Gesundheits- und Bildungssysteme investiert werden, ergänzte Misereor-Referent Klaus Schilder.



Berliner Notarzt: Covid-19 ist im Jemen enorm tödlich

Das Coronavirus ist im kriegsgeschüttelten Jemen nach Beobachtung des Intensivmediziners Tankred Stöbe besonders tödlich. Der Berliner Notarzt, der bis vor kurzem für "Ärzte ohne Grenzen" in Aden im Süden des arabischen Landes tätig war, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), im dortigen Covid-19-Behandlungszentrum der Hilfsorganisation seien fast 60 Prozent der aufgenommenen Patientinnen und Patienten gestorben: "Damit sind wir schon fast im Ebola-Bereich."

Viele kamen seinen Worten nach in die Klinik, als sie schon schwer krank waren, und starben schnell. Es gebe kaum Sauerstoffzylinder und erst allmählich Testmöglichkeiten, beschrieb er die Lage. Wegen Armut, Kämpfen oder zerstörter Straßen hätten sich zudem zahlreiche Infizierte gar nicht erst auf den Weg zu den Ärzten gemacht: "Die meisten sind zu Hause erstickt."

"Aktute Katastrophe trifft auf chronische"

Stöbe war bereits zum zweiten Mal im Jemen und sollte zunächst Covid-19-Patienten behandeln, hatte aber nach Abklingen der ersten Welle als medizinischer Direktor im August und September in einem Unfallkrankenhaus auch Schuss- oder Explosionsverletzte und Unfallopfer versorgt. "Wegen der Pandemie trifft eine akute Katastrophe auf eine chronische", sagte Stöbe, der bis 2015 acht Jahre lang Präsident des deutschen Zweigs von "Ärzte ohne Grenzen" war.

Im Gegensatz zum Bürgerkrieg sei das Coronavirus nicht sichtbar oder hörbar, aber es gebe keinerlei Möglichkeit zur Vorbereitung, weshalb der Erreger sich rasant verbreiten könne: "Es ist ein gescheiterter Staat, da gibt es keine Maßnahmen, um die Kurve flach zu halten." Eine weitere Covid-19-Welle werde zu ähnlich katastrophalen Zuständen führen wie die erste, zeigte er sich überzeugt.

Im Bürgerkrieg im Jemen wurden seit 2015 mehr als 100.000 Menschen getötet. Friedensbemühungen der Vereinten Nationen blieben bislang ohne Erfolg. Zuletzt wurden im Jemen offiziell mehr als 2.000 Corona-Infektionen und rund 600 Corona-Tote gemeldet. Die Dunkelziffer ist vermutlich weitaus höher.

epd-Gespräch: Mey Dudin



Termine

15.10. Berlin

Dürfen Menschen Tiere essen? Ernährungsethik aus muslimischer, jüdischer und christlicher Sicht. Mitgeschöpf und Nahrungsmittel: Seit jeher essen Menschen Tiere. Und seit jeher diskutieren sie darüber, welche Tiere unter welchen Umständen gehalten, geschlachtet und gegessen werden dürfen. Aktuelle Debatten über Klimawandel, Nachhaltigkeit und Tierrechte werfen die Frage auf, inwieweit Fleischkonsum heute noch ethisch vertretbar ist.

www.eaberlin.de/seminars/data/2020/REL/duerfen-menschen-tiere-essen/

16.10. Bonn

Online Digital - parochial - global?! Gottesdienst, Liturgie, Verkündigung. Angesichts steigender kirchlicher Online-Aktivitäten und Netzwerke gerade angesichts der außerordentlichen Herausforderungen durch die pandemiebedingten Einschränkungen des analogen kirchlichen Lebens stellen sich viele Fragen neu und dringlicher: Wo, wer oder was ist eigentlich Kirche? Wo und wie wird gepredigt und werden die Sakramente gereicht? Wie verändert sich das religiöse Bewusstsein? Wie stehen die unterschiedlichen Formen von Offline- und Online-Kirche zueinander? Was verändert sich, wenn die "Zirkulation des religiösen Bewusstseins" auch im digitalen Raum in Gang kommt? Was heißt "Priestertum aller Gläubigen"? Wie viel Professionalität, Ordnung und Hierarchie sind nötig?

www.ev-akademie-rheinland.de/tagung/online-veranstaltung--digital---parochial---global---574

16.-18.10. Tutzing

Metamorphosen: Frauen und Religion. Über viele Jahrhunderte blieben die abrahamitischen Religionen dem Grundsatz treu, dass Frauen in Synagogen, Kirchen und Moscheen einen niedrigeren Rang als Männer bekleiden. Im Gegensatz zu diesem formellen Ausschluss stand die von jeher starke Bedeutung der Religion für Frauen und der Frauen für die Religion. Sie waren oft diejenigen, die Lehren mit Leben füllten, Wissen und Tradition an ihre Kinder weitergaben, den Glauben "alltäglich" werden ließen in ihren Familien und die Hauptlast der Dienste in den Gemeinden verrichteten.

www.ev-akademie-tutzing.de/veranstaltung/metamorphosen-frauen-und-religion/