"Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman" - für Urteile dieser Art wurde Marcel Reich-Ranicki von Schriftstellern gefürchtet und vom Publikum geliebt. Neben Witz, Kompetenz und Showtalent war es die Klarheit der Bewertungen, die seinen Erfolg begründete. "Eine Kritiker-Persönlichkeit, die so omnipräsent im literarischen Leben ist, gibt es heute nicht mehr", sagt Thomas Anz, literarischer Nachlassverwalter des Kritikers, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Vor 100 Jahren, am 2. Juni 1920, wurde der Erfinder des "Literarischen Quartetts" im polnischen Wloclawek geboren.

Der Sohn einer Deutschen und eines Polen ist von Jugend an ein Literaturbesessener. Als Marcel Reich mit seiner jüdischen Familie 1929 nach Berlin zieht und mit dem aufkommenden Nationalsozialismus konfrontiert ist, flüchtet er sich in die Literatur. Sie wird zu seiner "Gegenwelt", wie er in seiner Autobiografie "Mein Leben" schreibt. Kurz nach seinem Abitur wird er 1938 nach Polen ausgewiesen, wie rund 17.000 weitere polnische Juden. Er überlebt mit seiner Frau Tosia das Warschauer Ghetto.

Aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen

Nach dem Krieg - er nimmt den polnisch klingenden Namen Ranicki an - arbeitet er mehrere Jahre für das polnische Sicherheitsministerium, bis er wegen "ideologischer Fremdheit" aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wird. Noch in Warschau beginnt er seine Karriere als Literaturexperte und Kritiker. 1958 siedelt er in die Bundesrepublik über, wo er rasch zum namhaften Rezensenten aufsteigt und bei den Autorentreffen der Gruppe 47 seine rhetorische Virtuosität zur Geltung bringt.

Man nennt ihn bald Großkritiker, Literaturpapst oder gar literarischen Scharfrichter. Sich selbst sieht Reich-Ranicki, ab 1973 Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", vor allem als Anwalt der Leser. Die literarischen Werte, die er vertritt, erscheinen dem Publikum plausibel, nachvollziehbar. Reich-Ranicki lobt in seinen Kritiken häufig Anschaulichkeit und Lebendigkeit, geißelt allzu konstruiert wirkende Handlungen und "schemenhaft" gezeichnete Figuren.

"Er mochte keine Literatur, die spannungslos, zu wenig anschaulich, zu theoretisch war", sagt der emeritierte Germanistikprofessor Anz. "Der Text sollte eine geschlossene Form haben und nicht auseinanderdriften."

Nähe zum literarischen Realismus

Auch eine manieristische oder avantgardistische Sprache lehnt er ab. Reich-Ranicki selbst schreibt: "Wer was erzählen will, spielt nicht mit Klängen, jongliert nicht mit Worten. Erzählen ist vor allem: sehen und sichtbar machen, glauben und beglaubigen. Erzählen heißt: der Wirklichkeit zur Wirksamkeit verhelfen." Er offenbart also eine Nähe zum literarischen Realismus, wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die europäische Literatur bestimmte.

Sein literarischer Wertekanon trägt ihm immer wieder Kritik ein, vor allem von Schriftstellern. "Reich-Ranicki misstraut allen Formen der Literatur, die gegen den üblichen Sprachgebrauch um mehr als ein bestimmtes Maß verstoßen", schreibt etwa der Autor Franz Josef Czernin in seinem 1995 erschienen Band "Marcel Reich-Ranicki - Eine Kritik".

Anz räumt ein, dass Reich-Ranickis Literaturverständnis "eher konventionell" gewesen sei. Dennoch habe er auch moderne Autoren wie Thomas Bernhard oder Wolfgang Koeppen geschätzt.

Fehden mit Großautoren

Reich-Ranicki erringt eine außerordentliche Machtstellung im literarischen Betrieb. Sein großer Einfluss, seine unerbittlichen Urteile, aber eben auch seine literarischen Normen machen ihn zur Reizfigur. Legendär sind die erbitterten, auch verletzenden Fehden mit Großautoren, zu denen er ein wechselhaftes Verhältnis hat, etwa Günter Grass und Martin Walser. "Marcel Reich-Ranicki hat Autoren verrissen, die er gleichzeitig sehr schätzte", sagt Anz, der Anfang der 80er Jahre mit Reich-Ranicki bei der FAZ arbeitete.

Der endgültige Durchbruch zur Medienikone gelingt Reich-Ranicki ab 1988 mit der ZDF-Sendung "Das Literarische Quartett". Sie macht ihn zum "Popstar", wie sein Biograf Uwe Wittstock schreibt, ebenfalls ein früherer FAZ-Kollege. Es gelingt ihm, die Literatur einem Millionenpublikum näherzubringen, die Auswahl der besprochenen Bücher wirkt sich erheblich auf deren Verkaufszahlen aus.

"Lust am Streitgespräch"

"Er verband die Fähigkeit und Bereitschaft zur radikalen Vereinfachung komplexer literaturkritischer Fragen mit seinem beneidenswerten rhetorischen Talent, verknüpfte die Lust am Streitgespräch mit dem Mut zu provokativen, politisch wenig korrekten Ansichten", schreibt Wittstock, "vereinte Leidenschaft in der Sache mit einem ausgeprägten Gespür für die dramaturgischen Notwendigkeiten einer Fernsehsendung."

Trotz seines Erfolges in der Bundesrepublik: Der von den Nazis verfolgte Reich-Ranicki, dessen Eltern in den Gaskammern von Treblinka ermordet wurden, wird auch später oft mit Antisemitismus konfrontiert. Zeit seines Lebens bewahrt er eine innere Distanz zu Deutschland. Seine Erlebnisse unter der Nazi-Herrschaft schildert er 2012 - im Jahr vor seinem Tod - in einer bewegenden Rede im Bundestag. "Ich war nie ein Deutscher, ich bin es nicht und werde es nie sein", sagt Reich-Ranicki 1999 in einem Interview: "Dass ich heimatlos bin, stimmt nicht, aber meine Heimat ist die deutsche Literatur. Punkt. Schluss."