Hannover (epd). Welche Gefahr vom Chorgesang für eine Ansteckung mit dem Coronavirus ausgeht, darüber gehen auch Expertenmeinungen auseinander. Angesichts der unklaren Erkenntnislage warnt der Musik-Mediziner Eckart Altenmüller aus Hannover Chöre und Gesangvereine davor, zu schnell wieder mit dem gemeinsamen Singen zu beginnen. Altbundespräsident Christian Wulff (CDU) hofft hingegen, dass Sängerinnen und Sänger bald wie gewohnt proben und auftreten können. Der Präsident des Deutschen Chorverbandes betont allerdings auch, niemand dürfe durch Gesang einem besonderen Corona-Risiko ausgesetzt werden.
Hochschul-Professor Altenmüller unterstrich: "Im Chor zu singen, ist sehr gefährlich." Weil Chorgesang unmittelbar mit dem Atmen zu tun habe, bestehe ein hohes Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, sagte der Altenmüller Leiter des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. In diesem Fall könne sich das Virus tief in der Lunge einnisten. "Wenn wir vermeiden wollen, dass sich diese Pandemie wieder ausbreitet, dann sollten wir im Moment keinen Chorgesang erlauben."
Online-Formate
Wulff hingegen erläuterte, neueste Studien legten nahe, dass es beim Chorsingen kein spezifisch erhöhtes Ansteckungsrisiko für Corona gebe. Über aller Hoffnung auf Normalität stehe auch für ihn der Wunsch nach Sicherheit, betonte Wulff: "Ich sehe auch bei den Chören, dass sie in großartiger Weise Verantwortung für alle übernehmen und nicht überstürzt handeln." Der Deutsche Chorverband arbeite zudem intensiv an einem grundlegenden Hygienekonzept, das in modifizierter Form als Basis für die einzelnen Chöre und die Gesundheitsämter dienen könne.
Als Alternativen zum normalen Singen seien zurzeit etwa Singen in Hallen und auf Stadiontribünen, "überhaupt jetzt im Sommer im Freien, oder mit Abständen in belüfteten Räumen" möglich. Viele Chöre träfen sich seit Wochen auch schon online in verschiedensten Formaten. Allerdings litten sämtliche Online-Angebote unter zeitlichen Verzögerungen bei der Signalübermittlung. Gleichwohl ermöglichten sie zumindest teilweise, Gemeinschaft zu erleben. "Das kann analoge Zusammenkünfte nicht ersetzen, kann aber vielleicht einiges auffangen."
Aerosole bis zu drei Stunden in der Luft
Altenmüller geht davon aus, dass - optimistisch geschätzt - das Singen in großen Chören in geschlossenen Räumen vielleicht Mitte September wieder beginnen kann. Das wichtigste Ziel müsse jetzt sein, die Gesundheit der Sängerinnen und Sänger zu schützen. Neben der klassischen Tröpfcheninfektion gehe vor allem von den sogenannten Aerosolen eine Ansteckungsgefahr aus, erläuterte er. Das sind kleinste Tröpfchen, die so leicht sind, dass sie in der Luft schweben. Unter bestimmten Bedingungen halten sie sich nach Auskunft des Mediziners bis zu drei Stunden in der Luft. Aerosole können laut Altenmüller etwa drei bis fünf Meter weit fliegen.
Auch er bedauere, dass Chöre wegen der Pandemie zurzeit auf das gemeinsame Singen verzichten müssten: "Wir wissen, wie wichtig der Chorgesang für die Menschen ist", sagte der Mediziner. "Er fördert die Gemeinschaft, trägt zum emotionalen Wohlbefinden bei und stärkt so die Abwehrkräfte. Dass wir das, was wir gerade in dieser Zeit so nötig hätten, nicht tun dürfen, ist besonders bitter."