Einen "Moralpädagogen" hat er sich selbst einmal genannt: Alfred Grosser, in Deutschland geborener französischer Publizist und Politikwissenschaftler, hat sich wie nur wenige um die Annäherung und die Verständigung zwischen den beiden Nachbarländern nach dem Zweiten Weltkrieg verdient gemacht. Mit seinen mehr als 30 Büchern, ungezählten Vorträgen und Streitgesprächen ist der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels zum Brückenbauer zwischen den einstigen "Erzfeinden" geworden. Am 1. Februar wird Grosser 95 Jahre alt.

"Es war ein volles Leben", blickt der Politologe im epd-Gespräch zurück. Grosser wurde 1925 in Frankfurt am Main in eine bürgerlich-jüdische Familie geboren, die 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Frankreich emigrierte. 1937 nahm er die französische Staatsangehörigkeit an, im Zweiten Weltkrieg hatte er Kontakt zur Résistance. Schon 1947 arbeitete Grosser an einer Zeitung für deutsche Kriegsgefangene mit. Das zeigte die Richtung: Getragen von der Überzeugung, dass es keine Kollektivschuld gibt, wollte er die Menschen "durch Wissen und Wärme aufklärerisch beeinflussen".

"Moralisierender Einzelgänger"

Von 1955 bis 1992 lehrte der "moralisierende Einzelgänger" als Professor an der Pariser Elitehochschule Sciences Po, publizierte regelmäßig in Zeitungen dies- und jenseits des Rheins, spießte deutsches Selbstmitleid und französische Überheblichkeit auf. Neben dem Friedenspreis (1975) wurde er unter anderem mit der Goethe-Medaille und dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet. Sein Talent als Redner setzte der Pro-Europäer auch auf evangelischen Kirchentagen und im Deutschen Bundestag ein. Dort sprach er zuletzt 2014 bei der Gedenkfeier zu 100 Jahre Erster Weltkrieg.

Ein klarer moralischer Kompass leitet den Atheisten durchs Leben. "Mein Einsatz war eben nicht intellektuell begründet", schrieb Grosser einmal: "Es war der Wunsch, nach einer Moral zu handeln und handeln zu lassen." Dabei wirbt er um Verständnis für den Standpunkt des Anderen. "Die Einsicht in die Art, wie andere denken: Diese Pluralität ist für mich fundamental", sagt er im epd-Gespräch und nennt den Philosophen und Schriftsteller Albert Camus sein "Vorbild auf dem Gebiet des Menschseins".

Aus dieser Grundhaltung heraus kritisierte er immer wieder die israelische Politik. "Ich wurde als Jude von Deutschen verachtet - und glaubte nach Auschwitz doch an unsere gemeinsame Zukunft", schrieb Grosser 2007 in der Zeitschrift "Internationale Politik": "Ich verstehe nicht, dass Juden heute andere verachten und sich das Recht nehmen, im Namen der Selbstverteidigung unbarmherzig Politik zu betreiben."

Im epd-Gespräch sagt er: "Israel fordert heraus, dass es einen Antisemitismus gibt, indem man Antisemitismus nennt, was eine berechtigte Kritik an Israel oder der israelischen Politik ist." Diese Haltung trug ihm heftige Kritik ein, auch vom Zentralrat der Juden. Am 9. November 2010 drohte anlässlich seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 gar ein Eklat, der dann aber doch ausblieb.

Trump "einer der abstoßendsten Politiker"

Mit zunehmenden Alter hat der vierfache Familienvater die Zahl der öffentlichen Auftritte reduziert, Bücher will er nicht mehr schreiben. Doch noch immer verfolgt er von seiner Pariser Wohnung unweit des Eiffelturms aus das politische Leben, mit klarem Urteil und spitzer Zunge: US-Präsident Donald Trump sei einer "der abstoßendsten Politiker dieser Zeit", sagt Grosser dem epd: "Er ist für mich die Verkörperung dessen, was ein Politiker nicht sein soll." Mit Sorge erfüllt ihn auch der Aufstieg der AfD in Deutschland.

Zeit seines Lebens setzte sich der bibelfeste Atheist mit dem christlichen Glauben auseinander, blieb aber bei aller Verbundenheit klar auf Distanz: "Gott ist eine Schöpfung der Menschen", schrieb Grosser, der jahrzehntelang in der katholischen Zeitung "La Croix" veröffentlichte. So sieht er den Tod als "normales Phänomen": "Nach dem Tod ist nichts, also fürchte ich nichts für die Zukunft." In seinem Buch "Die Freude und der Tod" schrieb er 2011, dass er bereits sein Begräbnis vorbereitet habe. Mit seinem Schalk und der ihm nicht ganz fremden Eitelkeit fügte er hinzu: "Allerdings würde ich doch gerne kurz auferstehen, um die Nachrufe lesen zu können!"