Nach Einschätzung des Staatsrechtlers Christian Pestalozza ist es juristisch denkbar, die Versammlungsfreiheit in bestimmten Fällen einzuschränken. Bei regelmäßigen Neo-Nazi-Demos müsse wachsam beobachtet werden, ob sie das Klima in der Öffentlichkeit veränderten, sagte der Professor von der FU Berliner am 15. Oktober dem WDR mit Blick auf die montäglichen Neonazi-Versammlungen in Dortmund. Es sei "an der Zeit, dass wir uns darauf besinnen, dass das Grundgesetz nicht ganz so neutral ist, wie es im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit oft dargestellt wird".

Am Montag hatten sich nach Polizeiangaben rund 80 Rechtsextremisten zu einer Demonstration versammelt. Dabei seien unter anderem zwei Anzeigen wegen Zeigen des Hitlergrußes und eine Strafanzeige wegen des Verdachts auf Volksverhetzung gestellt worden. Zum "bunten und friedlichen Gegenprotest" waren laut Polizei etwa 1.600 Menschen zusammengekommen. Nach dem rechtsextremistischen Anschlag in Halle (Saale) auf die jüdische Synagoge forderten verschiedene Dortmunder Bündnisse ein Verbot der Neonazi-Kundgebungen.

Bei dem Anschlag am vergangenen Mittwoch in Halle an der Saale erschoss ein Bewaffneter zwei Menschen. Auf der Flucht schoss der Mann auf zwei weitere Menschen und verletzte sie schwer. Der schwer bewaffnete Mann hatte zuvor versucht, in die Synagoge einzudringen, was misslang. Zum höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur hatten sich dort zu diesem Zeitpunkt insgesamt 51 Gläubige versammelt. Der 27-Jährige handelte nach eigener Aussage aus antisemitischen und rechtsextremistischen Motiven.

Pestalozza sagte, die Versammlungsfreiheit sei ein "hohes Gut". Gerichte seien gegenüber der Meinungs- und Versammlungsfreiheit relativ großzügig "und das ist auch in Ordnung", sagte der Staatsrechtler. Allerdings fordere das Grundgesetz auch, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen. Wenn man diese Grundordnung, Rechtsstaat und Menschenwürde durch rechte Aufmärsche bedroht sehe, müsse überlegt werden, ob das nicht ein Grund wäre, die Möglichkeiten für solche Versammlungen einzuengen. So könne etwa versucht werden, den wöchentlichen Rhythmus der Demos in Dortmund zu unterbrechen, "damit sich das nicht wie eine Institution einbürgert und festsetzt im Eindruck der Öffentlichkeit". Ein solcher Normalisierungseffekt sei problematisch.

Die Partei "Die Rechte" hatte Ende September angekündigt, montags im Dortmund demonstrieren zu wollen. Hintergrund ist eine Aktion von Stadt, Polizei und Bürgern: Anfang September wurden Graffiti-Künstler beauftragt, extremistische Schmierereien an der Emscherstraße in Dortmund-Dorstfeld zu übersprühen. Die Gegend gilt als Neonazi-Hochburg. Daraufhin kündigten Dortmunder Rechte die regelmäßigen Proteste an.