Schloß Holte-Stukenbrock (epd). Stolz zeigt Klaus-Jürgen Streck seine Konfirmationsurkunde von 1957. In der evangelischen Lagerkirche im westfälischen Schloß Holte-Stukenbrock bei Bielefeld wurde er eingesegnet. Über zehn Jahre lebte er als Jugendlicher im "Sozialwerk Stukenbrock", einem nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Lager für Vertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler. Eine Baracke des ehemaligen NS-Kriegsgefangenenlagers "Stalag 326" war vor 70 Jahren um einen gemauerten Altarraum und einen Turm zur Lagerkirche erweitert worden. Zwei Jahrzehnte bot sie vielen Tausend Bewohnerinnen und Bewohner des Sozialwerks eine geistliche Heimat, jetzt dient sie der Polizeiseelsorge.
Seit 1970 befindet sich auf dem geschichtsträchtigen Areal ein Bildungszentrum für Polizeibeamte. Das Kirchlein, das am 9. Oktober 1949 durch den damaligen westfälischen Präses Ernst Wilm (1901-1989) eingeweiht wurde, gehört seither dem Land Nordrhein-Westfalen. "Das Land vermietet das Gotteshaus an die Polizei, die Kirche ist Nutzerin", erklärt die Landespfarrerin für Polizeiseelsorge Pia Winkler, "eine bundesweit wohl einmalige Konstellation." Das Gelände ist umzäunt, daher ist auch die Kirche nur zu besonderen Anlässen zugänglich. Eine frühere katholische Lagerkirche musste einem Sportplatz weichen.
Neukonzeption der NS-Gedenstätte "Stalag 326"
Zweimal im Jahr, um Himmelfahrt und im Advent, hält die westfälische Polizeipfarrerin zusammen mit ihrem katholischen Kollegen ökumenische Gottesdienste in der Lagerkirche. Dazu sind die angehenden Polizeibeamten ebenso eingeladen wie Menschen in der Nachbarschaft und ehemalige Bewohner des Sozialwerks, die heute weit verstreut leben. Auch Taufen, Hochzeiten oder Ehejubiläen von Polizeiangehörigen und ihren Familien werden hier gefeiert oder Verabschiedungen in den Ruhestand. Das denkmalgeschützte Gebäude, das vor ein paar Jahren komplett saniert wurde, verbindet bald acht Jahrzehnte. Teile der Kirche stammen noch aus einer Baracke des Stalag.
Im sogenannten NS-Stammlager (Stalag) 326 kamen zwischen 1941 und 1945 schätzungsweise 65.000 sowjetische Kriegsgefangene ums Leben. Aber auch Soldaten aus westlichen Ländern, zum Beispiel Franzosen, waren dort interniert. Das Land NRW möchte die heutige Gedenkstätte zu einem Gedenkort von nationaler und internationaler Bedeutung weiter entwickeln, der die Nachkriegsgeschichte mit einschließt. Im Rahmen eines solchen Geschichtsortes könnte auch die evangelische Lagerkirche eine Rolle spielen, sagt Pia Winkler. Aufgrund seiner Geschichte eigne sich das schlichte Gotteshaus als geistliches Zentrum für die Themen Flucht und Vertreibung. "Vor allem aber steht die Lagerkirche für das soziale Engagement der Kirchen nach dem Krieg", betont die Pfarrerin.
Nach Konfessionen getrennt
"Über das Sozialwerk wurde lange nicht gesprochen", bedauert Klaus-Jürgen Streck, der mit seiner Mutter 1949 aus Rostock nach Westdeutschland floh. Sein Vater war bereits 1945 als Kriegsgefangener der Briten nach Stukenbrock gekommen. In den Jahren 1946 und 1947 war er dort im Internierungslager für mutmaßliche Kriegsverbrecher und NS-Funktionäre als Verwaltungsangestellter des britischen Militärs tätig, später arbeitete er auch für das Sozialwerk und die Polizei.
Unter der Regie des Landes wurde das Sozialwerk damals vom Evangelischen Johanneswerk und der Caritas zusammen mit anderen Wohlfahrtsverbänden betrieben. "Als Angestellten-Familie wohnten wir im ehemaligen Vorlager", erinnert sich der heute 76-jährige Streck. Zuerst wurde sie in einer Baracke mit Doppelstock-Betten wie die anderen Flüchtlinge untergebracht, dann zog die Familie in ein Steinhaus um. Der junge Klaus-Jürgen Streck ging zur evangelischen Lagerschule, während die katholischen Flüchtlingskinder außerhalb des Sozialwerks unterrichtet wurden.
Die Konfessionen lebten auch in getrennten Wohnbereichen. Die eingesessene katholische Bevölkerung in der Umgebung habe sich mit den Zuwanderern schwergetan, erzählt Streck: "Wer aus dem Lager kam und dazu noch einen anderen Glauben hatte, wurde von manchen schief angesehen."
Flüchtlinge gestalteten einst Altarbild
Die Lagerkirche ist in der Erinnerung des pensionierten Lehrers das erste Gotteshaus, das er bewusst betreten hat. Jeden Sonntag besuchte er den Kindergottesdienst. "Für uns war das damals aufregend." Zu Kirchenfesten sang er als Junge im Schulchor oder spielte Flöte. "Hier ist mir der Glaube nahegebracht worden", sagt er. Wenn er heute Weihnachten feiere, erinnere er sich immer wieder an die stimmungsvollen, teils auch wehmütigen Gottesdienste in der Lagerkirche.
Kreuz, Altar und Kanzel sind noch die gleichen wie bei der Einweihung der Kirche 1949. Nach der Renovierung kehrten auch das hölzerne Taufbecken und ein buntes, bleiverglastes Weihnachtstriptychon nach über 40 Jahren an ihren ursprünglichen Ort zurück. Erzählungen zufolge hatten Flüchtlinge das Altarbild aus Resten von zerschossenen Fensterscheiben gestaltet und mit dem Sprungfederrahmen eines Bettgestelles eingefasst.