Frankfurt a.M. (epd). Es ist die größte Sozialreform seit Jahrzehnten. Seit Dezember 2016 vollzieht sie sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit: die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Das Gesetz soll Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmtere Lebensführung ermöglichen. Doch ob das überall funktioniert, ist fraglich. Der Zeitdruck bis zum Start der nächsten Reformstufe 2020 steigt.
Das BTHG will die Unterstützung allein an den individuellen Bedürfnissen ausrichten (Personenzentrierung). Dazu können künftig Einzelbausteine aus Hilfs- und Betreuungsangeboten ausgewählt werden. Die Vorwerker Diakonie in Lübeck nutzt dazu ein anschauliches Bild: "Die Grundidee gleicht der einer Reisebuchung: Neben All-inclusive-Pauschalurlaub gibt es auch individuelle Angebote, bei denen Flug, Unterkunft, Essen, Sport- oder Wellnessangebote je nach Bedarf und Verfügbarkeit individuell gebucht werden können."
Teilhabeplan
Für jede betroffene Person mit Handicap muss ein sogenannter Teilhabeplan erstellt werden. Künftig werden alle verfügbaren Leistungen in zwei Hilfearten unterteilt, und - auch das ist neu - getrennt finanziert. Unterschieden werden die Hilfe zum Lebensunterhalt und die Fachleistungen zum Bewältigen des Lebens - bei freier Wahl der Wohnform. Zu den Fachleistungen gehören therapeutische Angebote wie Ergotherapie oder eine pädagogische Assistenz. Wer welche Unterstützung finanziert bekommt, hängt vom persönlichen Bedarf ab.
Ein gewaltiges Reformprojekt, wie allein die Zahlen für Nordrhein-Westfalen zeigen: Zu regeln sind die Vertragsdetails für weit über 100.000 Menschen, die Unterstützung beim Wohnen benötigen, und für 70.000 Personen, die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bekommen sollen. Geschätztes Finanzvolumen jährlich: vier Milliarden Euro.
Was am grünen Tisch noch machbar erscheint, hat erhebliche Tücken in der Praxis. So müssen etwa bei behinderten Menschen in Wohngruppen die reinen Wohnkosten von den anderen Leistungen der Eingliederungshilfe akribisch getrennt werden. Das klingt bürokratisch - und ist es auch.
Paradigmenwechsel
Uwe Mletzko, Vorsitzender des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe (BeB), sagt, für diesen Paradigmenwechsel müssten "ganz neue Instrumente der Bedarfserhebung und ihr Einsatz im Teilhabe- und Gesamtplanverfahren geschaffen werden" - jenem Kernbereicht der Reform, der die Kooperation von Fachdiensten und Betroffenen exakt regelt.
Heinz-Josef Kessmann, Diözesancaritasdirektor aus Münster, betont, viel werde davon abhängen, "dass die Bedarfserhebung und die Teilhabeplanung durch die Landschaftsverbände tatsächlich im Interesse der betroffenen Menschen mit Behinderung ablaufen". Und er verweist darauf, dass im Juni erst drei Bundesländer die für die Reform nötigen rechtlichen Voraussetzungen, die Landesrahmenverträge, geschaffen haben. Für NRW ist die Vertragsunterzeichnung für den 23. Juli vorgesehen.
"Was kann der Mensch, und was braucht er? Das sind die Leitfragen, die ein neues System erforderlich machen. Und am Anfang macht eine Umstellung Arbeit beim Einführen", erklärt der Sozialdezernent des Kommunalverbandes LWL, Matthias Münning. Er sei aber zuversichtlich, dass das Ziel der Reformen pünktlich ereicht wird. "Es gibt viel Arbeit, und es gibt viele Detailfragen. Von Problemen kann man deshalb aber nicht sprechen."
Pessimismus
Eine Studie des Wirtschaftsprüfungsunternehmens Curacon (Münster) kommt zu einem anderen Schluss. Bei den Trägern der Eingliederungshilfe herrsche verbreitet Pessimismus: "Spät verabschiedete Ausführungsgesetze, ausstehende Landesrahmenverträge, hohe Aufwände im Vorbereitungsprozess und Zweifel an der Erreichung der kommunizierten Ziele des BTHG führen zu Verstimmungen unter den Studienteilnehmern." Im Vergleich zur Befragung 2018 habe "sich die Bewertung des BTHG nochmals verschlechtert", urteilen die Autoren.
Wolfram Teschner, Geschäftsführer der Caritas Wohn- und Werkstätten Niederrhein (CWWN), beklagt, dass das BTHG zu einem Übermaß an Bürokratie führe. Der eigentlich gute Ansatz, mehr Teilhabe zu ermöglichen, verkehre sich in sein Gegenteil.
"Die Umstellung wird auf jede Fall einen erhöhten Verwaltungsaufwand bedeuten", ist auch Uwe Mletzko überzeugt. Viele Kollegen hätten die Sorge, dass den Betroffenen "der große Aufwand real keine Verbesserung der Lebenssituation" bringe. Manche Kritiker befürchteten sogar Verschlechterungen.