Scheitern, Stillstand, politisches Versagen: Mit deutlichen Worten kritisiert der Migrationsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Manfred Rekowski, die europäische Flüchtlingspolitik. "Wenigstens eine Koalition der Willigen" müsse sich endlich bilden, sagt der Präses der rheinischen Landeskirche. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht er auch über europäische Werte, die Haltung von Christen und ein mögliches eigenes Rettungsschiff der Kirche.

epd: Wie beurteilen Sie die Entscheidung einer italienischen Richterin zur Freilassung von Carola Rackete?

Rekowski: Ich begrüße es außerordentlich, dass die Kapitänin des Seenotrettungsschiffes "Sea-Watch 3", die im Mittelmeer gerettete Flüchtlinge in Lampedusa an Land gebracht hat, freigelassen wird. Zivile Seenotrettung ist kein Verbrechen, sondern die Reaktion auf ein politisches Versagen im Blick auf den Umgang mit Flüchtlingen an den europäischen Außengrenzen.

epd: Offenbar wird der Kapitänin weiterhin Beihilfe zu illegaler Migration vorgeworfen. Ändert sich durch diesen Fall überhaupt etwas am grundsätzlichen Umgang mit staatlicher oder privater Seenotrettung in der EU?

Rekowski: An diesem Vorgang zeigt sich das Scheitern europäischer Flüchtlingspolitik. Die europäischen Mittelmeerstaaten mit EU-Außengrenzen wurden und werden mit der Aufnahme von Geflüchteten weitgehend allein gelassen. Es ist leider noch immer nicht gelungen, humanitäre Korridore zu schaffen, die insbesondere sehr gefährdeten und verletzlichen asylberechtigten Personen den Zugang nach Europa gefahrlos ermöglichen könnten. Es fehlt auch nach wie vor an einem funktionierenden Verteilmechanismus für Bootsflüchtlinge in Europa. Hier ist Europa gefordert - und nicht bei der Behinderung oder gar Bekämpfung von ziviler Seenotrettung.

epd: Sehen Sie eine Chance, dass es innerhalb der EU zu einer solidarischen Verteilung der Flüchtlinge kommt?

Rekowski: Nein, zurzeit nicht. Ich hoffe allerdings nach wie vor, dass sich endlich wenigstens eine Koalition der Willigen in Europa bildet, die Italien und andere Mittelmeeranrainerstaaten bei der Aufnahme Geflüchteter entlastet und so dazu beiträgt, dass sich die humanitäre Situation geflüchteter Menschen in Europa deutlich verbessert.

epd: Der Fall der "Sea-Watch 3" und von Kapitänin Rackete hat viel Solidarität, aber auch feindselige Reaktionen ausgelöst. Gibt es in Europa noch einen Konsens über grundlegende Werte?

Rekowski: Der Fall der "Sea-Watch 3" zeigt erneut, dass im Umgang mit dem Weltproblem Flucht nach wie vor ein absoluter Stillstand festzustellen ist. Bedauerlicherweise ist auch nicht erkennbar, für welche Werte Europa tatsächlich gemeinsam einsteht. Christenmenschen achten das Leben eines jeden Menschen und tun, was irgend möglich ist. Das gehört nach meinem Verständnis auch zu den europäischen Wurzeln.

epd: Kirchentagsteilnehmer haben die EKD in einer Resolution aufgefordert, ein eigenes Rettungsschiff ins Mittelmeer zu schicken. Halten Sie das für sinnvoll oder was ist sonst die Aufgabe der Kirche?

Rekowski: Natürlich ist die EKD keine Reederei. Aber schon in den Anfängen der jüngeren Geschichte der Diakonie sprach zum Beispiel Johann Hinrich Wichern von "Werken rettender Liebe", die nötig seien. Ein Rettungsschiff wäre in diesen Tagen in der Tat ein notwendiges Werk rettender Liebe. Mit Wichern kann man die Haltung der Kirche so beschreiben: "Die Liebe gehört mir wie der Glaube." Das heißt: Christinnen und Christen loben im Gottesdienst Gott und tun das, was um der Menschen willen nötig ist.