Leyendecker, der in diesem Jahr Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags ist, spricht im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) auch über Konzentrationsprozesse bei Regionalzeitungen, Journalistenausbildung und den Fall Relotius.

epd: Herr Leyendecker, Sie haben beim "Stader Tageblatt" volontiert. Im deutschen Lokal- und Regionaljournalismus hat sich seitdem viel geändert. Viele Blätter sind im Besitz großer Ketten mit Zentralredaktionen, die teilweise untereinander sogar noch zusammenarbeiten wie Madsack und DuMont in Berlin. Ist das gut, weil es Kräfte und Kompetenzen bündelt, wie die Zeitungen immer sagen? Oder leidet die Pressevielfalt?

Leyendecker: Zum Teil geschieht das aus Not. Der Auflagenschwund bei der gedruckten Presse liegt zwischen vier und sechs Prozent, und wer digital nicht gegensteuern kann, ist in einer schwierigen Lage. Neulich war ich in der Stadt Lünen, knapp 96.000 Einwohner. Die haben dort nur noch eine Tageszeitung, die "Ruhr Nachrichten" mit einer Auflage von etwa 5.000 Exemplaren. Kann man das durchhalten? Und wäre es ein Anschlag auf die Pressefreiheit, wenn man es nicht durchhielte? Es wäre schade um die Zeitung und auch ein Jammer für die Stadt. Ich glaube aber nicht, dass man das nur aus Sicht der Gewerkschaften betrachten und sagen kann: Das darf alles nicht sein. Denn dann wird es wirklich das große Sterben geben. Dass man sich zusammentut etwa beim Vertrieb, um Kosten zu senken, ist doch längst schon normal.

epd: Die Verleger betonen immer die große Bedeutung der gedruckten Presse für die Demokratie.

Leyendecker: Die Verleger müssen sich natürlich daran gewöhnen, dass es keine Rendite von 30 Prozent mehr gibt. Die Gelddruckmaschine ist weg. Aber Journalismus ist kein gewöhnlicher Gewerbebetrieb, sondern etwas, das für die Gesellschaft wichtig ist. Es gibt auch Zusammenlegungen, durch die Freiheit kaputtgeht. Was mich aber irritiert, ist manchmal der Leser: Die "Westfälische Rundschau" in Dortmund, die kannibalisiert wurde, hat angeblich immer noch eine Auflage von 50.000 Stück, praktisch ohne eigene Redaktion. Sämtliche Blattteile werden von woanders übernommen. Es muss also viele Leser geben, die sagen: Hauptsache, ich kriege etwas aus meinen Stadtteil.

epd: Reden wir über Ihr spezielles Metier, den Investigativjournalismus. Offiziell sind Sie im Ruhestand, mischen aber bei der "Süddeutschen Zeitung" auch immer wieder mit. Wie viel Zeit verbringen Sie noch mit Investigation?

Leyendecker: Ganz wenig. Ich war Ressortleiter und habe das abgegeben. Dabei hatte ich das Glück, dass es nach mir noch besser geworden ist. Alte Leute haben ja oft das Problem, dass sie durch die Stadt rennen und sagen: Alles ist schlechter geworden. Vor allem in Berlin hört man das oft. Ich sage das nicht. Meine Nachfolger Nicolas Richter und Bastian Obermayer machen das wunderbar. Wir haben heute auch eine Art Ökumene des Journalismus, wo noch einmal ganz andere Geschichten entstehen als früher. Zum Beispiel, dass Recherchen von Journalisten, die erschossen worden sind, von Journalisten europaweit fortgeführt werden. Zu meiner Zeit bin ich beim "Guardian" kaum am Pförtner vorbeigekommen, heute arbeitet man häufig zusammen. Bei den "Panama Papers", dem letzten großen Projekt, an dem ich beteiligt war, arbeiteten 400 Leute aus fast 80 Ländern miteinander. Das löst ein regelrechtes Glücksgefühl aus.

epd: Verändert diese Blüte des Investigativjournalismus auch gesellschaftlich etwas? Ist es heute schwieriger für Politiker, Geheimdienste und Wirtschaftsunternehmen, Skandale zu vertuschen?

Leyendecker: Das weiß nicht. Es gibt immer ein Dunkelfeld und ein Hellfeld. Bestimmte Dinge haben wir tatsächlich durch intensive Berichterstattung verbessert. Korruption in Rathäusern zum Beispiel ist nicht mehr so ein Thema wie früher, die Kommunen haben viele Skandale erlebt und ein Vier-Augen-Prinzip eingeführt. Auch bei einem Teil des Waffenhandels ist das so, vor allem bei Dual-Use-Gütern, die man sowohl militärisch als auch zivil nutzen kann. Früher wollte ein Abteilungsleiter bei einem Konzern brillieren und hat Libyen oder den Irak mit Waren beliefert, die für den Waffenhandel bestimmt waren. Dann haben die Konzerne aber erlebt, dass es eine Imagekatastrophe ist, wenn man sich für ein paar Millionen Euro an solchen Sachen beteiligt. Da wird jetzt besonders genau hingeschaut. Manchmal verändert die Kriminalität aber auch einfach ihr Gesicht.

epd: Sie haben beschrieben, wie internationale Teams mit Hunderten Journalisten arbeiten. Da werden ganz große Datenmengen verarbeitet. Muss sich da eigentlich auch in der Journalistenausbildung etwas verändern?

Leyendecker: Da muss sich viel verändern, es tut sich aber auch einiges. Bei allen Blättern hat man erkannt, wie wichtig der Datenjournalismus ist, und das schlägt sich auch in der Journalistenausbildung nieder. In der Schweiz gab es vor einiger Zeit eine interessante Geschichte. Da hat man geschaut, wer im Beamtenapparat gewesen ist und hinterher eine eigene Firma gegründet hat - und wie diese Firmen dann wieder Aufträge von Ministerien bekommen haben. Das kriegt man mit einer normalen Recherche nicht hin. Da gibt es ganz vieles, was man mit dem Datenjournalismus besser hinbekommt als mit dem Journalismus, den ich gelernt habe. Auch wird der digitale Journalismus immer wichtiger werden.

epd: Eine Frage zum vieldiskutierten Fall Relotius beim "Spiegel": Ist das eine singuläre Verfehlung, die da passiert ist, oder sind solche Phänomene beim Genre der Reportage früher nur nicht so aufgefallen, weil nicht so genau hingeschaut wurde?

Leyendecker: Es hat schon früher solche Erlebnisse gegeben, dass Kollegen immer den besten Einstieg und den besten Ausstieg hatten. Spätestens beim dritten Mal fragt man sich: Komisch, dass der immer am richtigen Ort ist. Im Leben passiert das eher selten. Relotius ist jemand, der besser schreiben kann, als ich das jemals konnte. Vielleicht 20 Journalisten können so gut schreiben wie Relotius. Mir fiel auf, dass alles immer so perfekt war bei ihm. Ich habe gedacht: Gut, das ist eben ein junger Außerirdischer. Aber einer Redaktion kann das schon auffallen - so viele Außerirdische gibt es auch beim "Spiegel" nicht. Nicht mal bei den Alten. Dass aus Relotius dann allerdings eine Systemkrise gemacht wurde, hat mich erstaunt.

epd: Inwiefern?

Leyendecker: Grundsätzlich verfolge ich mit Bewunderung, wie der "Spiegel" mit der Affäre umgeht. Das Magazin ist mir wichtig, ich habe achtzehneinhalb Jahre dort gearbeitet. Als der "Spiegel" aber selbst von der "Spiegel-Krise" schrieb, bin ich zusammengezuckt. Da war einfach ein junger Mann, der offenbar Furcht hatte, nicht immer die beste Geschichte zu haben. Und der viele Preise gesammelt hat. Dieser ganze Preis-Hype, der hat mit der Geschichte viel zu tun. Aber daraus abzuleiten, dass die Reportage an sich in Gefahr ist, oder den ganzen Fall sogar mit den "Hitler-Tagebüchern" zu vergleichen, wie es Springer-Chef Mathias Döpfner getan hat - darauf wäre ich in meiner Einfachheit nie gekommen. Wohl aber zwingt der Fall uns alle, genauer hinzuschauen und nochmal über die Regeln nachzudenken.