"Vorsicht, Stromschienen unter Spannung" und mehrere kleine Silhouetten des Brandenburger Tors prangen auf den kirchlichen Bleiglasfenstern. Sie sind gelb, teilweise mit Graffiti besprüht. Eigentlich waren diese Kirchenfenster mal Türen der Berliner U-Bahn. "Only God forgives" ("Nur Gott vergibt") heißt das Werk des Künstlerkollektivs Rocco und seine Brüder. Eine Anspielung auf die "Kunstreligion Graffiti". Bis 3. November ist es im Weltkulturerbe Völklinger Hütte zu sehen, wo die nunmehr fünfte Urban-Art-Biennale gestartet ist.

Ursprünglich mal aus Graffitis entstanden, umfasst die urbane Kunst Plakate, Sprayarbeiten, Manga-Interpretationen, Verweise auf die Popkultur oder auf frühere Kunstepochen. Meist begleitet von einer Spur Kritik. So präsentieren Rocco und seine Brüder auch eine leere, abgehalfterte Litfaßsäule unter dem Titel "Error 404 Not Found". Sie wollen damit laut Kurator Frank Krämer das menschliche Konsumverhalten und die Vermüllung der Städte kritisieren.

Kritische Blick auf Gesellschaft

Der Norweger Pøbel wirft wiederum einen Blick auf die Fischereibetriebe in seinem Land. Mit einem Porträt eines pfeiffenrauchenden Fischers auf ein Segeltuch gesprüht, prangert er das Ende kleiner Fischereibetriebe zugunsten großer Unternehmen an. "Es ist eine Hommage an die Fischer, eine nostalgische Bestandsaufnahme", sagt Krämer.

Der kritische Blick führt in alle gesellschaftlichen Bereiche. Der Bananensprayer Thomas Baumgärtel setzt sich beispielsweise mit dem Brexit auseinander, indem er Königin Elizabeth II. eine Bananenkrone verpasst und ihr den Appell "Stay with us!" ("Bleibt bei uns") mit auf den Weg gibt. Das Berliner Trio Mentalgassi ersetzt Mark Zuckerbergs Augen durch Videokameras, der in Spanien lebende SpY hat gleich eine Installation mit 100 Videokameras an ein Gebäude im Außengelände des Weltkulturerbes angebracht. Die Botschaft ist klar: Kritik an Überwachung.

Insgesamt 100 Künstler aus 20 Ländern präsentieren 120 Werke - sowohl in der Möllerhalle als auch inszenatorisch auf dem Gelände. SpY ließ zur Eröffnung der Schau zum Beispiel einen der Schornsteine der Hütte wieder qualmen. Das sei "deckungsgleich mit unserem Ansatz die Völklinger Hütte wieder zum Rauchen zu bringen", erklärt Krämer. Denn jetzt sei die Hütte auch wieder aktiv, nur als Kulturerbe und nicht mehr als industrielle Produktionsstätte.

Dieses Mal werden auch einige der aktuellen Hüttenmitarbeiter zu Kunstwerken. Denn ihre Gesichter hat das Trio Mentalgassi genutzt, um sie auf Gebäude, Gitterroste oder einen Ballon zu stülpen. Sie gucken einen direkt an und zeigen so, wer Teil der heutigen Hütte ist.

Moment zum Innehalten

Der aus Chile stammende und in Paris lebende Künstler Mambo lädt wiederum zum Innehalten ein. In der Möllerhalle präsentiert er seine Trilogie "The Bird Watcher" (Der Vogelbeobachter). Es gehe darum, im hektischen Lebensalltag mal einen Moment der Ruhe zu haben, daher komme die Idee eines Mannes, der die Vögel beobachte, betont Mambo. In einem Schornstein auf dem 100.000 Quadratmetern umfassenden Parcours hat er wiederum eine Karte des Gehirns dargestellt. Ihm gefalle der Gedanke, dass Menschen, Natur und Systeme in einer Art Netzwerk miteinander verbunden und voneinander abhängig seien.

Die Außenkunstwerke sind in gewisser Weise auch von ihren Vorgängern abhängig. Wo 2015 noch der "Tree of Life" (Lebensbaum) des französischen Künstlers Ludo an der 30 Meter hohen Wand des Kohleturms zu sehen war, prangt heute die Papiercollage "Le soulèvement public" (Volksaufstand) des Duos MonkeyBird. Der Vorgänger hat sich mittlerweile vollständig aufgelöst. So wie auch im städtischen Raum Kunstwerke verschwinden und durch andere ersetzt werden. Dies sei ein besonderes Zeichen der Vergänglichkeit, sagt Generaldirektor Meinrad Maria Grewenig.

Die urbane Kunst sei die Kunstform des 21. Jahrhunderts, betont er. Wer sich dem verstelle, an dem sei die Zeit vorbeigegangen. Dem stimmt auch Kurator Krämer zu. Seit der Jahrtausendwende sei der Urban-Art-Künstler zu einem neuen Künstlertypus geworden. Er designe etwa Plattencover, werde Modesigner oder erfinde Graffiti-Schriften. "Er ist kreativer Vordenker und künstlerischer Leiter von subkulturellen Ausdrucksformen."