Karlsruhe, Berlin (epd). Psychisch kranke und behinderte Menschen dürfen nicht pauschal von Wahlen ausgeschlossen werden. Der im Bundeswahlgesetz enthaltene Wahlrechtsausschluss verstößt gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und gegen das Verbot einer Benachteiligung behinderter Menschen, wie das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 20. Februar veröffentlichten Beschluss entschied. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung begrüßte den Richterspruch. Die BAG-Entscheidung löste neuen Streit in der Koalition aus. (AZ: 2 BvC 62/14)
Die gesetzlichen Regelungen sehen den Wahlrechtsausschluss für psychisch kranke und behinderte Menschen vor, für die dauerhaft ein Berufsbetreuer in allen Angelegenheiten bestellt wurde. Außerdem sind schuldunfähige, im Maßregelvollzug untergebrachte Straftäter per Gesetz von Wahlen ausgeschlossen.
Mehrere Betroffene hatten Beschwerde gegen ihren Ausschluss von der Bundestagswahl 2013 eingelegt. Sie konnten ebenso wie mehr als 82.000 vollbetreute Personen nicht an der Wahl teilnehmen und sahen darin einen Verstoß gegen das Grundgesetz.
Gleichbehandlungsgrundsatz
Das Bundesverfassungsgericht gab ihnen nun recht: Der Ausschluss von psychisch kranken oder behinderten Menschen, für die dauerhaft ein Berufsbetreuer für alle Angelegenheiten bestellt wurde, verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. So gebe es Betroffene, bei denen etwa Familienangehörige die Betreuung wegen einer erteilten Vollmacht übernehmen. Diese dürften wählen. Diese Ungleichbehandlung sei nicht zu rechtfertigen.
Nicht mit dem Grundgesetz im Einklang stehe auch der gesetzliche Wahlrechtsausschluss von psychisch kranken, im Maßregelvollzug untergebrachten Straftätern, erklärten die Richter weiter. Die Betroffenen seien dort wegen Schuldunfähigkeit und wegen einer Gefahr für die Allgemeinheit untergebracht. Die Krankheitsbilder, die eine Schuldunfähigkeit begründeten, sagten aber nichts darüber aus, ob jemand nicht fähig sei, wählen zu können.
Auch könne von einer Unterbringung abgesehen werden, wenn "von dem Schuldunfähigen keine Gefahr erheblicher Straftaten ausgeht", hieß es weiter. In diesem Fall dürfte der Betroffene wiederum wählen gehen. Auch dies sei mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht vereinbar.
Das Bundesverfassungsgericht entschied nur zum Bundeswahlgesetz. Vergleichbare umstrittene Wahlrechtsausschlüsse gibt es aber auch zur Europawahl, die am 26. Mai stattfindet.
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, begrüßte die BAG-Entscheidung. Er forderte die Regierungsfraktionen auf, den Koalitionsvertrag "nun ohne Wenn und Aber umzusetzen". Bei der anstehenden Europawahl dürfe es diese Wahlausschlüsse nicht mehr geben.
"Inklusives Wahlrecht für alle"
Im Koalitionsvertrag hatten sich SPD, CDU und CSU auf eine Änderung beim Wahlrecht verständigt. "Unser Ziel ist ein inklusives Wahlrecht für alle", heißt es dort. "Wir werden den Wahlrechtsausschluss von Menschen, die sich durch eine Vollbetreuung unterstützen lassen, beenden."
Die SPD attackierte den Koalitionspartner. Die Spitze der CDU/CSU-Fraktion habe bislang verhindert, dass eine bereits im November gefundene Einigung der Fachpolitiker zur Änderung des Wahlrechts im Bundestag verabschiedet werde, kritisierte die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Eva Högl.
Die FDP nannte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine "herbe Klatsche" für die Union. Erst am Mittwoch sei der Gesetzentwurf der FDP für eine Änderung des Wahlrechts im zuständigen Ausschuss des Bundestags "grundlos von Union und SPD abgelehnt" worden.
Die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und SPD-Bundestagsabgeordnete, Ulla Schmidt, sprach von einem "großartigen Erfolg für Menschen mit Behinderung und für unsere Demokratie. Endlich dürfen wirklich alle erwachsenen deutschen Bürger wählen", sagte Schmidt. Die Lebenshilfe hatte die acht Beschwerdeführer gemeinsam mit der Caritas unterstützt.