Frankfurt a.M., Bielefeld (epd). Der Straßenverkehr dröhnt in den Ohren wie kreischender Fluglärm. Lichter blenden wie Hochleistungsscheinwerfer. Die Gespräche der Menschen ringsum ergeben eine verworrene Kakophonie aus Wortfetzen. Eindrücke, die den meisten Menschen kaum auffallen, werden von vielen Autisten sehr intensiv wahrgenommen.
Zu der Erkenntnis der Hypersensibilität von Autisten war es allerdings ein langer Weg. "Seit 60 Jahren wird behauptet, Autisten haben keine Gefühle, keine Empathie", sagte der israelische Hirnforscher Henry Markram dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Aber wenn du aus einer anderen Perspektive draufschaust, kommst du zu einem anderen Schluss." Der heute 56-Jährige hatte sich bereits einen Namen als Neurologe gemacht, als seine Frau Anat und er einen autistischen Sohn bekamen. "Ein besonderer Zufall", sagt Markram heute. Denn er sollte das Verständnis von Autismus grundlegend infrage stellen.
In Rituale geflüchtet
Auf den ersten Blick wirke es oft so, als könnten viele Menschen mit Autismus-Spektrums-Störungen sich nicht in andere hineinversetzen, räumt Markram ein. Viele Autisten sprächen etwa am Telefon so, als sei der Gesprächspartner im selben Raum. Oder sie bekämen scheinbar unvorhersehbare Wutausbrüche. Auch bei seinem Sohn Kai sei das vorgekommen. Er habe sich nicht so entwickelt wie andere Kinder, sich abgekapselt und in Rituale geflüchtet: Ohne die richtigen Socken ging er morgens nicht aus dem Haus, ohne ein Brot mit Hüttenkäse und das richtige Kissen abends nicht ins Bett.
Andererseits habe Kai aber auch die Gabe, sich in Menschen hineinzuversetzen und ihre Gefühle vorherzusagen. In Urlauben eroberte er die Herzen der Hotelmitarbeiter und liebte es, Menschen zu umarmen. Solche Situationen beschreibt der Journalist und Autor Lorenz Wagner. Er hat die Familie einige Monate begleitet und ihre Geschichte nun in dem Buch "Der Junge, der zu viel fühlte" veröffentlicht. Das passte nicht richtig mit den wissenschaftlichen Annahmen zusammen. Um seinen Sohn verstehen zu können, spezialisierte sich Markram auf neurologische Autismusforschung.
Gehirnzellen sind hyperreaktiv
Nach jahrelangen Tests gelang Markram und seiner jetzigen Frau Kamila schließlich ein Durchbruch: Die Gehirnzellen von Autisten sind demnach hyperreaktiv. Für die Wahrnehmung heißt das, die Sinneseindrücke werden verstärkt wahrgenommen. So kamen die Markrams zu der These: Autisten haben gar nicht zu wenig Gefühle, sondern zu viel. Von Autisten wird die Welt also viel schneller, lauter, bunter wahrgenommen. "Intense World Syndrom" nennen die Markrams das.
Der Rückzug autistischer Menschen in ihre eigene Welt sei also eher ein Schutzmechanismus vor diesem Sinnesfeuerwerk, folgerten die Markrams. Die Ursachen für soziale und sprachliche Probleme autistischer Kinder lägen demnach darin, dass wichtige Impulse im Chaos der Reize untergingen. Frühes Gegensteuern, ein Reduzieren intensiver Reize in der Umgebung der Kinder könne die Behinderung mildern oder gar ganz vermeiden, folgern die Markrams. Autistische Kinder sollten nicht dazu gedrillt und gedrängt werden, mit anderen zu interagieren, sondern erst einmal in ihrer eigenen Welt gelassen werden.
Mehr Verständnis entwickeln
Die Theorie ruft aber auch Kritik hervor: Auch zu wenige Reize, zu wenig Input in frühen Entwicklungsphasen könnten die Entwicklung sozialer, kognitiver und emotionaler Fähigkeiten von Kindern gefährden, schreiben Anna Remington und Uta Frith in dem wissenschaftlichen Autismus-Magazin "Spectrum". Die Ausprägungen von Autismus seien zudem so unterschiedlich, dass eine übergreifende Theorie zu weit gegriffen sei.
Trotz der Kritikpunkte mache Markrams Forschung eines deutlich, sagt Wolfgang Ludwig von den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel: "Das Thema Hypersensitivität wurde in der Arbeit mit Autisten zu lange vernachlässigt." Der Pädagoge und Gesundheitsmanager ist in Bielefeld-Bethel für die Arbeit mit Autisten zuständig. Autisten würden oft in die Nerd-Ecke gestellt, aber im Autismus-Spektrum gebe es natürlich sehr unterschiedliche Persönlichkeiten.
Um mehr Verständnis zu entwickeln, brauche es in Deutschland noch deutlich mehr Aufklärung, sagt Ludwig: "Dafür muss vor allem auch Menschen mit Autismus selbst eine Bühne gegeben werden." Denn Mythen über Autismus hielten sich hartnäckig. "Nicht Autisten fehlt es an Empathie", sagt Markram. "Sondern uns fehlt sie für sie."