Heidelberg/Kiel (epd). Es ist mucksmäuschenstill, als Dozentin Anna Neff aus ihrem Leben erzählt. Vor ihr sitzen rund 160 Studierende der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. "Der Wunsch an Sie ist: Achten Sie später als Lehrer auf jedes Kind und überfrachten Sie es nicht", sagt die 28-Jährige. Anna Neff hat motorische Störungen, wie sie es beschreibt, ist geistig leicht eingeschränkt und ihr Körper "will manchmal nicht so, wie ich will". Sie ist einer von sechs Menschen, die als geistig behindert gelten und derzeit in Heidelberg zu Bildungsfachkräften qualifiziert werden.
Kampf gegen Schubladendenken
"Behinderte sind noch immer Benachteiligungen und Diskriminierungen ausgesetzt", sagt die Leiterin der Heidelberger Qualifizierung, Sarah Maier. Der direkte Austausch von behinderten Dozenten und Lehramtsstudierenden sei wichtig, um wegzukommen von Schubladendenken, Etiketten und Attributen, die man im Kopf habe.
An diesem Tag steht Anna Neff gemeinsam mit Thorsten Lihl (44) und Hartmut Kabelitz (51) vor den Studierenden. Lihl ist durch eine Form der Spastik mit Seh- und Sprachbehinderungen eingeschränkt; Kabelitz hatte mit 16 Jahren einen schweren Verkehrsunfall mit dem Moped. Er erlitt ein Schädelhirntrauma und kann seither die rechte Hand nicht mehr richtig halten, hat Gleichgewichtsstörungen und spricht undeutlich.
Die drei berichten, wie sie beispielsweise in Sonderschulen gefördert wurden - oder eben auch nicht. Thorsten Lihl hat das Schreiben in der Schule erst an der Schreibmaschine gelernt und danach sich selbst beigebracht. "Meine Lehrer meinten damals, ich müsste nicht lesen und schreiben können", erinnert er sich. "Ich wollte aber schon immer Lehrer werden, mit der Qualifizierung komme ich diesem Traum ein großes Stück näher."
"Künftig sollen sie hauptberuflich als sozialversicherte Beschäftigte an Fach- und Hochschulen unterrichten zum Thema Behinderungen", erklärt Projektleiter Stephan Friebe. Zielgruppen sind Studierende, Lehrkräfte und Personalverantwortliche an Fach- und Hochschulen, in der Weiterbildung oder direkt in Unternehmen.
Das Projekt der Fachschule für Sozialwesen der Johannes-Diakonie im baden-württembergischen Mosbach ist eine Kooperation mit dem Institut für Inklusive Bildung Kiel. Die Qualifizierung begann im Oktober 2017 und dauert drei Jahre. Zuvor haben die Teilnehmer, die unter 40 Bewerbern ausgesucht wurden, in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet.
Sie wollte mehr aus ihrem Leben machen als nur Schrauben drehen oder Pappkartons falten, erzählt Anna Neff: "Das ist eine Chance für mich, was Neues zu lernen." So ging es auch Hartmut Kabelitz, der sich freut, "mit über 50 noch dazuzulernen und Erfahrungen weitergeben zu dürfen."
Erstes Modellprojekt in Schleswig Holstein
Es ist das zweite Vorhaben dieser Art in Deutschland. In Schleswig Holstein wurde ein erstes Modellprojekt bereits erfolgreich beendet: Fünf qualifizierte Bildungsfachkräfte arbeiten dort seit 2016 im Institut für Inklusive Bildung, einer angegliederten Einrichtung der Christian-Albrechts-Universität in Kiel.
Während der Qualifizierung seien in drei Jahren in 70 Veranstaltungen mehr als 3.000 Personen direkt erreicht worden, sagt der Geschäftsführer des Kieler Instituts, Jan Wulf-Schnabel. Sein Institut stehe in Kontakt mit rund 30 Fach- und Hochschulen, die an den Leistungen der Bildungsfachkräfte reges Interesse hätten. In Nordrhein-Westfalen startet ab April die Qualifizierung von sechs Menschen mit geistiger Behinderung zu Bildungsfachkräften.
"Wenn wir Inklusion ernst nehmen, müssen wir auch unsere Formen verändern", erklärt der baden-württembergische Projektleiter Stephan Friebe. Was er meint: Bislang hätten Lehramtsstudierende in den Lehrveranstaltungen zwar viel über Inklusion und Teilhabe erfahren. Die direkte Auseinandersetzung mit Behinderten gab es aber nicht. Das soll sich jetzt ändern.
Nach 90 Minuten ist die Vorlesung an der Heidelberger Uni zu Ende. Es sei "klasse", sagt die 24-jährige Lehramtsstudentin Silke Glawitz, wie offen die behinderten Dozenten aus ihrem Leben erzählten und wie selbstverständlich inzwischen der Austausch sei: "Es hat meinen Horizont noch einmal ganz anders erweitert."