Wenn Zvi Cohen (87) an seinen jüdischen Großvater denkt, erinnert er sich vor allem an eine Geschichte: Der Großvater sei in der Nacht der Reichspogromnacht ohne jede Vorwarnung aus seiner Wohnung in das KZ Sachsenhausen verschleppt worden, ein paar Wochen später sei er wieder entlassen worden. "Dieser stolze Mann kehrte als ein Schatten seiner selbst aus dem Lager zurück, abgemagert, zitternd und weinend", sagt Cohen. "Ohne Unterlass murmelte er: 'Sie haben mir die Füße kaputt gemacht.'"

Keiner in der Familie Cohen hat je erfahren, was dem Großvater Gustav Heller wirklich angetan wurde. Musste er Zwangsarbeit leisten? Wurde er gefoltert? Gelegenheit, selbst noch irgendwann über das Geschehene zu sprechen, hatte Heller nicht. 1943 wurde der Berliner mit seiner Frau Ettel ins Ghetto Theresienstadt deportiert, ein paar Monate später waren sie tot, wahrscheinlich verhungert.

Die Ungewissheit beschäftigt Cohen noch heute. "Vielleicht gibt es irgendwo Dokumente oder Akten, die einen Hinweis darauf geben, was mein Großvater durchmachen musste?", hofft Cohen. Sein halbes Leben lang hat er sich mit der Verfolgung seiner Familie beschäftigt. Doch geht es um seinen Großvater, ist da ein großer, blinder Fleck. Eine schmerzhafte Lücke, die ihn nicht loslässt.

Rund 30 Millionen Dokumente im ITS

Der "International Tracing Service" (ITS) im hessischen Bad Arolsen, gegründet 1946, ist eine erste Anlaufstelle für Menschen wie Cohen. Das Archiv des ITS umfasst rund 30 Millionen Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus und aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dazu zählen Unterlagen zu Verfolgten in Konzentrationslagern, Ghettos und Gestapo-Gefängnissen, zur Zwangsarbeit und Verschleppung, zur Situation der Überlebenden sowie zur Emigration infolge des Zweiten Weltkriegs.

In Bad Arolsen klärt man die Geschichte von Ermordeten, Überlebenden, ehemaligen Zwangsarbeitern oder sucht nach Angehörigen. Seit Ende des Ost-West-Konflikts häufen sich die Anfragen, gerade aus Polen und Russland, wo die Frage nach Entschädigungen erst in den vergangenen 20 Jahren vermehrt aufkam. Die meisten Nachfragen zu Personen kommen heute aus Polen, Deutschland, Russland, USA, der Ukraine, Israel, Frankreich, den Niederlanden.

Dokumente werfen Fragen auf

Per Online-Maske stellt Cohen eine erste Anfrage nach dem Verbleib seines Großvaters. Der ITS schickt ein paar Tage später eine Handvoll pdf-Dateien über die Verfolgungsgeschichte Hellers: Eintritts- und Austrittsmeldung in das KZ Sachsenhausen sowie Kopien von Entschädigungsgesuchen. Die Dokumente werfen Fragen auf. Heller ist nicht kurz nach der Reichspogromnacht nach Sachsenhausen gekommen, sondern erst über zehn Monate später, im September 1939. Für Cohen ist diese Information neu. "Damit kann ich jetzt gar nichts anfangen", sagt er. Eine Rückfrage beim ITS soll Klarheit bringen.

"Wenn die Suche im Online-Archiv kein oder ein ungewöhnliches Ergebnis auswirft, sagen wir immer: Noch einmal direkt beim ITS melden", sagt Christian Groh, der Leiter des Archivs. Beim ihm laufen alle Fäden zusammen.

Das Archiv ist Dreh- und Angelpunkt des ITS. Gerade ist es temporär in einer Lagerhalle untergebracht, in wenigen Jahren soll es in einem Neubau Platz finden. Groh läuft durch eine große Halle und plötzlich eröffnet sich ein für diesen Ort überraschendes Bild: Meterlange Aktenordner, sortiert auf Regalen bis unter die Decke. Originaldokumente, gelagert in Zettelkästen, aufbewahrt in klobigen Archivschränken. Die Fenster sind verdunkelt mit UV-hemmender Folie, Klimaanlagen summen leise vor sich hin.

Hier lagern individuelle Unterlagen oder deren Kopien über Verfolgte aus Konzentrationslagern, von Displaced Persons (DP)-Camps oder aus Gestapo-Akten. Fotoaufnahmen findet man hier wenige. "Selten wurden in Lagern Fotos gemacht", sagt Groh.

Wenn eine Anfrage eingeht beim ITS, beginnt die interne Recherche immer mit dem Namen. Eine große Herausforderung sei die unterschiedliche Schreibweise und Transkription von ausländischen und eingedeutschten Namen, sagt Groh. Allein für den Namen Abrahamovic gebe es 849 Schreibweisen. "Heller ist ein schöner Name", sagt der 51-jährige Archivleiter. Im Fall von Zvi Cohens Großvater ist die Suche vergleichsweise einfach. Schnell findet Groh einen ersten Hinweis auf die Inhaftierung Hellers in Theresienstadt. Was es mit Sachsenhausen auf sich hat, klärt sich hier erst einmal nicht.

Auch die Abteilung "Tracing" (deutsch: Nachverfolgung) im ITS bedient sich bei ihrer Arbeit aus dem Archiv. 20.000 Personenanfragen pro Jahr gehen beim ITS ein, von Forschungseinrichtungen, Universitäten, NS-Opfern oder deren Angehörigen. Acht Prozent kommen noch von Überlebenden selbst. Abteilungsleiterin Anna Meier-Osinski spricht schnell, konzentriert und mit einer großen Portion Verve. "Bis heute suchen Kinder nach dem Schicksal ihrer verschollenen Eltern. Oder wir können endlich herausfinden, wo das Grab eines Familienangehörigen liegt", beschreibt die 39 Jahre alte Kulturhistorikerin ihre Aufgaben. "Das ist wichtig, um abschließen zu können."

Team ist mehrsprachig

Mit 85 Mitarbeitern ist "Tracing" die größte Einheit. Das Team ist mehrsprachig: Deutsch, Englisch, Russisch, Polnisch, Portugiesisch, Spanisch, Niederländisch und Französisch sind gängig. 430 Suchaufträge weltweit hat die Abteilung im Jahr 2017 bearbeitet. Wenn die Anfragen von sehr alten oder kranken Menschen kommt, werde die Bearbeitungszeit verkürzt. In 50 Prozent der Fälle lasse sich allerdings kein einziges Dokument finden, sagt Meier-Osinski.

Auch an Familienzusammenführungen ist der ITS beteiligt, zwischen 30 und 40 sind es pro Jahr. An der Bürotür von Meier-Osinski hängt ein Foto von Hannelore aus Eschwege und Moshe aus Israel, Arm in Arm. Sie sind Halbgeschwister. Einer der beiden wurde in einem DP-Camp gezeugt, bevor der gemeinsame Elternteil nach Israel emigrierte und eine neue Familie gründete. Mit Hilfe des ITS haben sie sich gefunden. "Das sind auch für uns emotionale Momente", sagt Meier-Osinski.

Ein paar Häuser weiter können Besucher des ITS im Lesesaal nach Dokumenten suchen. "Es fällt auf, dass Heller mit vielen anderen Juden aus Berlin am selben Tag nach Sachsenhausen verschleppt wurde", sagt Andrea Hoffmann aus der Abteilung Forschung und Bildung, als sie die Akten zu Heller sichtet. Der Grund sei aus den hier zugänglichen Dokumenten nicht ersichtlich. Vielleicht könne eine Rückfrage in der Gedenkstätte Sachsenhausen weiterhelfen.

Eine Mail an die Gedenkstätte ist schnell geschrieben, die Antwort kommt nur ein paar Tage später: Hellers Inhaftierung im KZ Sachsenhausen habe nichts mit der Reichspogromnacht zu tun, sondern habe sich gegen in Deutschland lebende polnische und staatenlose - ehemals aus Polen stammende - Juden gerichtet, heißt es von der Gedenkstätte.

Anfrage in Gedenkstätte bringt Klarheit

Die jüdischen Inhaftierten seien von der SS auf das Schlimmste behandelt worden: Schläge, Tritte, nächtliches "Sporttreiben" im Freien bei großer Kälte, Einsatz in schlimmsten Arbeitskommandos. "Hellers Entlassung ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass sich herausstellte, dass er niemals die polnische Staatsangehörigkeit besaß."

Nach einer langen Recherche in mehreren Archiven kommt also raus: Heller wurde wohl von der SS gefoltert, dabei seine Füße malträtiert. "Endlich, nach vielen Jahrzehnten, weiß ich, was meinem Großvater erleiden musste", sagt Cohen, erleichtert und erschüttert zugleich.