Frankfurt a. M./Eisenach (epd). Den Himmel über der Wartburg wird Iris Wolff vermissen. „Jeden Morgen, jeden Abend so viel Himmel, manchmal steigt Nebel auf und man sitzt hier wie über den Wolken“, sagt sie. Dies sei ein Ort, „an dem man abrückt von der Welt“. Die aus Siebenbürgen stammende Schriftstellerin hat vier Wochen fern ihres Freiburger Alltags in dem alten thüringischen Gemäuer verbracht - in einer Art innerem Dialog mit Martin Luther, der hier vor 500 Jahren das Neue Testament ins Deutsche übersetzte, und fasziniert von dessen Sprache und Poesie.

Das „Wartburg-Experiment“, das die Autorin nach Eisenach führte, ist ein Projekt der Internationalen Martin Luther Stiftung und der Deutschen Bibelgesellschaft. Es soll an Luthers sogenanntes Septembertestament von 1521/22 erinnern und zugleich zeitgemäße poetische „Übersetzungen“ biblischer Stoffe anregen. Nacheinander residierten in diesem Herbst drei Schriftsteller auf der Burg: Uwe Kolbe, Senthuran Varatharajah und Iris Wolff, die als letzte ihren Aufenthalt auf der Burg am Donnerstag beendet hat.

Tägliche Bibellektüre

Für Wolff, deren Roman „Die Unschärfe der Welt“ für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert war, ging damit eine Zeit zu Ende, die sie als Luxus empfand. Die Struktur des Tages - ohne Termine und Verpflichtungen - habe ihr sehr gutgetan, sagt sie. Dies habe eine große Konzentration ermöglicht. Zudem habe sie eine „Liebe zu dem Ort“ entwickelt, der Teil ihrer Biografie geworden sei, und aus Freundlichkeit und Entgegenkommen der Menschen dort „geschöpft“.

Eine halbe Stunde täglich las Wolff in der Bibliothek neben Luthers Schreibstube in der Bibel. Sie las laut. „Das hab ich noch nie gemacht“, sagt die 44-Jährige: „Da wird plötzlich eine ganz andere Bildhaftigkeit offenbar, mir fallen andere Dinge auf.“ Auch Luther sei es ja auf das gesprochene Wort angekommen. „Das merkt man beim lauten Lesen. Die Klanglichkeit der Bibel ist bestechend, und auch ihre Poesie.“

Auch Uwe Kolbe schwärmt von seinem Aufenthalt. „Es hatte einen unglaublichen Reiz für mich auf der Wartburg zu sein“, sagt er. „Hier herrschte einst die Macht der Poesie, hier war Gott gegenwärtig.“ Den Verfasser der Gedichtbände „Psalmen“ (2017) und „Die sichtbaren Dinge“ (2019) faszinierten die Natur, der Thüringer Wald, die „schöne Burg“ mit ihrer komplexen Geschichte und die Begegnungen dort gleichermaßen. Immer im Hintergrund dabei: der sprachmächtige Luther, der hier die „Klinge mit dem Teufel“ kreuzte.

Ein Text pro Tag auf der Wartburg

Derzeit feilen die Autoren noch an ihren Texten. Während Iris Wolff nichts verraten möchte, kann Uwe Kolbe schon sagen, dass der Titel seines neuen Buches „Das Wartburg-Konglomerat“ sein soll - eine Reminiszenz an die geologische Beschaffenheit des Burgfelsens. Geplant sind 28 mit einem Bibelwort überschriebene Texte, Prosa und Gedichte, für jeden Tag seines Aufenthalts einer.

Der Vorstandsvorsitzende der Luther-Stiftung, Thomas A. Seidel, bezeichnet das Experiment als geglückt. Die drei Autoren hätten sich von der bildhaften Sprache Luthers, der „spirituellen Kraft der Texte“ inspirieren lassen. Beeindruckt zeigt sich Seidel von der „großen Konzentration, Ernsthaftigkeit und Intensität“ der Schriftsteller in der Auseinandersetzung mit ihrer Aufgabe und davon, wie sie ihre Bibel-Eindrücke in „ihr eigenes Glauben und Zweifeln, Denken und Schreiben übersetzt“ hätten. „Das war eine Sternstunde des Miteinanders von Musik und Poesie, Dialog und Liturgie“, sagt Seidel und erinnert besonders an den Literaturgottesdienst Mitte November.

Im Palas der Burg hatte Senthuran Varatharajah, der 1984 in Sri Lanka geboren wurde und mit der Bibel Deutsch gelernt hat, eine für viele Zuhörer ergreifende Predigt gehalten. Der Theologe und Träger des Adelbert-von- Chamisso-Preises („Vor der Zunahme der Zeichen“, 2016) bezog die Verse des Korintherbriefs über die Liebe auf den Suizid seines muslimischen Freundes Tarif und entfaltete dabei eine literarische Tiefe, die etwa die Eisenacher Oberbürgermeisterin Katja Wolf, die sich selbst religiös unmusikalisch nennt, zu Tränen rührte. Auch hier war vom Himmel die Rede, „glattgestrichen wie Zement“.

Die literarischen Früchte des Wartburg-Experiments sollen im kommenden Sommer veröffentlicht werden. Dann tritt das Projekt in eine zweite Phase: Im Juni ist eine Schreibwerkstatt für junge Nachwuchsautoren geplant, an der die Wartburg-Schriftsteller als Mentoren mitwirken. Ihre eigenen Texte werden die drei dann zudem bei einer Lesung präsentieren.