

Frankfurt a.M. (epd). Es ist der 24. September 2017. Die Bürgerinnen und Bürger Berlins sind aufgerufen, ihre Stimme für die Bundestagswahl abzugeben. Im Bezirk Steglitz-Zehlendorf tun das 81,7 Prozent der Wahlbeteiligten. In Marzahn-Hellersdorf sind es 69,3 Prozent. Eine Differenz von rund 12 Prozentpunkten, bei der gleichen Wahl, in der gleichen Stadt. Bloß leben in einem Bezirk eher sozial privilegierte, im anderen Bezirk eher sozial schwache Menschen.
Was die Zahlen der Landeswahlleiterin von Berlin zeigen, ist deutschlandweit ein Problem. Sozial benachteiligte Menschen beteiligen sich grundsätzlich weniger politisch und somit an Wahlen, sagt die Professorin für Politikwissenschaften Ina Schildbach von der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg.
„Es gibt verschiedene Parameter für die Wahlbeteiligung in einem Stadtteil“, sagt sie. Dazu gehörten unter anderem die Einkommenshöhe, Arbeitslosigkeit und das Alter. Daraus ergeben sich starke Kontraste bei der politischen Partizipation, wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt. Demnach war die Wahlbeteiligung im September 2013 in materiell besser gestellten Schichten um bis zu 40 Prozentpunkte höher als jene in sozial schwachen Milieus.
In den vergangenen 20 Jahren haben sich an Bundestagswahlen zwischen 70 und 80 Prozent der Menschen beteiligt. An sich sei dies „wenig problematisch, vorausgesetzt, diejenigen, die sich nicht beteiligen, unterscheiden sich nicht systematisch von denen, die sich beteiligen“, sagt Sigrid Roßteutscher, Politikwissenschaftlerin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Genau das sei aktuell aber nicht der Fall. Zudem verschärfe sich diese Ungleichheit stetig.
„Bis in die 80er Jahre gab es keinen Unterschied bei der Wahlbeteiligung zwischen Niedrig- und Hochgebildeten“, sagt sie. In der älteren Generation sei dies noch heute so. „Extrem ist der Unterschied bei den Jüngeren“, sagt Roßteutscher. Abiturientinnen und Abiturienten wählten fast doppelt so häufig wie sozial schwache Altersgenossinnen und -genossen.
Dabei seien Menschen, die nicht wählen gehen, nicht prinzipiell gegen die Demokratie als Staatsform, sagt Politikwissenschaftlerin Schildbach. „Sie sind strukturell unzufrieden mit der herrschenden Politik“, sagt sie. Dazu komme ein „nicht eingelöstes Leistungsversprechen“. Die dominierende Vorstellung, dass es jeder schaffen kann, wenn er sich anstrengt, erfülle sich für sozial Benachteiligten nicht. „Sie erleben sich nicht als selbstwirksam und fragen sich, was ihre Stimme eigentlich zählt.“
Dass eine bestimmte Gruppe ihr Wahlrecht nicht wahrnimmt, habe „ganz unmittelbare Folgen auf politische Entscheidungen“, sagt Schildbach. Ihre Einstellungen würden weniger repräsentiert und ihre Forderungen hätten eine geringere Chance auf Umsetzung. Aufseiten der Politik gebe es kaum Bemühungen um diese Menschen. „In ihnen wird kein Wählerpotenzial gesehen“, erklärt sie.
Die Frankfurter Professorin Roßteutscher sieht eine „extrem hohe Korrelation zwischen Wahlbeteiligung und Wahlaktivitäten“ in den Stadtteilen. Bei Wahlen zählten im Endeffekt die absoluten Zahlen. „Wenn die Wahlbeteiligung in einem Stadtteil hoch ist, können die Parteien dort mehr Stimmen gewinnen“, sagt sie. Dennoch glaube sie an ein Stimmenpotenzial in den sozial schwachen Stadtteilen. „Parteien und Gewerkschaften müssen authentische Personen finden, die in den Stadtteilen wohnen und anfangen, über Politik zu sprechen“, sagt sie. Helfen könne zudem, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken. So hätten Schulen eher die Möglichkeit, junge Menschen zu ihrer ersten Wahl zu animieren.
Laut Politikwissenschaftlerin Schildbach muss auch die materielle Lage in den Stadtteilen in den Blick genommen werden. „Wenn es ein Lebenskampf ist und ihnen die Luft und die Zeit fehlt, kann man von diesen Menschen nicht fordern, dass sie sich politisch beteiligen“, sagt sie.