sozial-Politik

Teilhabe

Vollbetreute Menschen nehmen erstmals an Parlamentswahlen teil




Eine Betreuerin hilft beim Ausfüllen der Briefwahlunterlagen.
epd-bild/Andrea Enderlein
Lange kämpften vollbetreute Menschen um ihr Recht, wählen zu dürfen. Nun ist es für viele das erste Mal so weit. Aktiv mitzubestimmen, wird aber Menschen mit Behinderung allgemein nicht leicht gemacht.

Es ist ihr allererster Wahlzettel, ihr erster Besuch im Wahllokal, das erste Mal, dass sie wirklich mitentscheiden dürfen: Tausende Menschen nehmen in diesem Superwahljahr erstmals an einer Landtags- oder Bundestagswahl statt. Allerdings nicht, weil sie 18 Jahre alt geworden sind oder die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen haben. Es sind Menschen mit gesetzlichen Betreuerinnen oder Betreuern in allen Angelegenheiten. Bis 2019 war nach Angaben der Lebenshilfe etwa 85.000 von ihnen der Wahlgang verwehrt.

"Wir wollen rechtliche Hemmnisse bei der Ausübung des Wahlrechts für Analphabeten und Betreute abbauen", hieß es im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung aus dem Jahr 2013. Umgesetzt wurde dieses Versprechen im Mai 2019. Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht bereits geurteilt, dass dauerhaft Vollbetreute nicht pauschal von Wahlen ausgeschlossen werden dürfen.

Ein höchstpersönliches Recht

Wahlen sollen in Deutschland unter anderem allgemein sein. Gegen diesen Anspruch hatte der Wahlausschluss verstoßen. Hintergrund des Ausschlusses sei das Vorurteil gewesen, Vollbetreute seien nicht in der Lage, rational zu wählen, sagt Harald Freter, Geschäftsführer des Bundesverbands der Berufsbetreuer/innen. "Ein weiteres Vorurteil ist, die Menschen würden zum Beispiel das wählen, was ihre Betreuer ihnen sagen", erklärt er.

Diese Gefahr hält Freter für sehr gering. "Grundsätzlich ist es natürlich möglich, dass Menschen in besonders vulnerablen Situationen und in Abhängigkeitsverhältnissen wie zwischen Betreuern und Klienten beeinflusst werden", sagt er. Das widerspreche aber dem Berufsethos und stelle eine strafbare Handlung dar. Die Betreuenden sollen stattdessen ihren Klientinnen und Klienten Informationen geben, wie und wann sie wählen können. "Es ist die Aufgabe der Betreuung, Menschen dabei zu unterstützen, so zu leben, wie sie es wünschen", betont Freter.

Das Wahlrecht sei ein höchstpersönliches Recht und könne deshalb nicht stellvertretend in Anspruch genommen werden, sagt Freter. Für Menschen, die körperlich nicht in der Lage sind, ins Wahllokal zu fahren, sei die Briefwahl eine Alternative. Wenn die Person ihre Stimme vor Ort abgeben möchte, könne sie einen Fahrdienst bestellen. Im Wahllokal gebe es die Möglichkeit, eine Hilfsperson mit in die Kabine zu nehmen. Dies könne eine Begleitperson oder ein Mitglied des Wahlvorstandes sein. "Das ist aber nur möglich, wenn die Person offensichtlich bedürftig ist", erklärt Freter.

Teilnahme am politischen Leben

Bis zur Wahlurne zu kommen, sei allerdings nicht immer einfach, sagt Dorothee Czennia, Referentin der Abteilung Sozialpolitik des Sozialverbands VdK Deutschland. "Nicht alle Wahllokale sind barrierefrei, obwohl das so vorgeschrieben ist." Auch politische Informationen seien nicht für alle Menschen zugänglich. So gebe es oft bei Bürgerversammlungen keine Gebärden-Dolmetscherinnen und -Dolmetscher. Inhalte auf Websites seien unter anderem oft nicht kompatibel mit Vorlesesoftware für Menschen mit Sehbehinderung. Dabei hatte sich Deutschland mit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet sicherzustellen, "dass das Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind".

Nach der UN-Konvention soll es in den Vertragsstaaten zudem ein Umfeld geben, in dem Menschen mit Einschränkungen aktiv am politischen Leben teilnehmen. Das scheint in Deutschland nicht besonders gut zu funktionieren: "Menschen mit Behinderung gibt es in der Politik viel zu wenig", sagt VdK-Referentin Czennia. Inzwischen ergriffen sie aber zunehmend die Initiative, besonders auf kommunaler Ebene. Künftig sollen Menschen mit starken Einschränkungen zudem in anderen Bereichen mehr selbst entscheiden: "Die Betreuung in allen Angelegenheiten wird mit der Betreuungsrechtsreform abgeschafft", sagt Czennia.

Jana-Sophie Brüntjen


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