Königstein (epd). Es ist große Pause: Aus dem gläsernen „Informatikfachraum“ der St. Angela-Schule im hessischen Königstein stürmen die Schülerinnen der 5d geradewegs in die Bibliothek. Die elfjährige Charlotte hat „Mister Marple und die Schnüfflerbande“ unterm Arm, sie und Lara (11) möchten in den „Leseclub“ der Schule und erkundigen sich bei der Bibliothekarin. „Ich lese ziemlich viel, das macht mir Spaß“, sagt Charlotte. Lara hat auch zuhause „tausende Bücher“, wie sie sagt, manche liest sie mehrmals.

Die beiden Leseratten sind gut dran. Die Bibliothek der privaten katholischen Mädchenschule St. Angela, die Realschule und Gymnasium unter einem Dach vereint, ist ein Vorzeigeprojekt. Was hier möglich ist, davon können viele andere Schulen nur träumen.

Nur knapp 20 Prozent der rund 32.000 allgemeinbildenden und 8.800 beruflichen Schulen in Deutschland verfügen Schätzungen des Arbeitskreises Jugendliteratur zufolge über eine modernen Standards entsprechende Schulbibliothek. Genaue Zahlen liegen nicht vor. Die Kommission „Bibliothek und Schule“ des Deutschen Bibliotheksverbands hat 2021 eine eigene Evaluierung initiiert. Ihr Vorsitzender Frank Raumel geht davon aus, dass viele kleine Schulbüchereien gibt, die in irgendeinen Raum Lesestoff anbieten - mit wenig Mitteln und ohne fachlich-pädagogische Betreuung.

Bibliothek als „Wissensspeicher“

In der Königsteiner St. Angela Schule stehen den rund 1.100 Schülerinnen etwa 10.000 Bücher, CDs, DVDs und Zeitschriften zur Verfügung. Der lichtdurchflutete Dachstuhl des denkmalgeschützten Bauhaus-Gebäudes wurde 2010 renoviert und lädt mit Hockern, Sofas und knuffeligen Sitzkissen zum Schmökern ein. Aber auch konzentriertes Arbeiten, das Recherchieren für den Unterricht, ist möglich; dafür gibt es eigene PC-Arbeitsplätze.

„Die Bibliothek fungiert als Wissensspeicher, den die Schülerinnen täglich benutzen“, sagt die Schulbibliothekarin und Literaturpädagogin Gabriele Fachinger. Sie sei aber auch der Ort, wo Kinder Freizeitliteratur und Sachbücher fänden und sich darüber austauschen könnten. Neben dem freiwilligen „Leseclub“ bietet Fachinger Pflicht-Kurse zur Medien- und Informationskompetenz an und entwickelt zusammen mit Lehrern und Lehrerinnen Unterrichtseinheiten.

Leseförderung wird an dieser Schule großgeschrieben. Fachinger versucht etwa es mit „Book Slams“ in der neunten Klasse: Jede Schülerin soll dabei den Inhalt eines Buchs in drei Minuten kreativ vor der Klasse präsentieren. Wie beim „Poetry Slam“ wird am Ende abgestimmt. Auf sogenannten Lese-Inseln, mobilen Kästen oder Tischen, werden Comics oder Krimis auch in Klassenräumen angeboten. Immer wieder gibt es Autorenlesungen.

Leseförderung als ein Ziel

„Vor allem in Grundschulen ist Leseförderung ein wichtiger Aspekt“, sagt Raumel: „28 Prozent der Viertklässler können schlecht lesen. Das bedeutet, sie können an weiterführenden Schulen Wissen nur schlecht aufnehmen.“ Mit Blick auf Migrantenkinder und ihre Chancen stehe man vor einer gesellschaftlichen Herausforderung. „Da kann die Schulbibliothek was erreichen, auch für Kinder aus lesefernen Haushalten.“

Schulbibliotheken, die zugleich Mediotheken mit Hörbüchern und Computern sind, könnten in Zeiten der Informationsüberflutung durch soziale Plattformen die Medienkompetenz der Schüler fördern, sagt Raumel. Sie lernten zu recherchieren, Informationen kritisch zu überprüfen, Fakten und Fake News zu unterscheiden.

Vom Trend zur Digitalisierung der Schulen scheint die Mehrzahl der Bibliotheken bislang jedoch wenig profitiert zu haben. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Verbände wie die „Stiftung Lesen“ oder der Arbeitskreis Jugendliteratur machen sich seit langem für eine „Schulbibliothek 4.0“ stark. In Berlin wird jetzt nach dem neuen Schulgesetz (2021) immerhin die Bibliothek als Teil der Schule anerkannt und finanziert. Andere Bundesländer sind noch nicht so weit.

„In der Politik kommt überhaupt nicht an, wie wichtig und notwendig eine gut ausgestattete Schulbibliothek ist“, sagt Bibliothekarin Fachinger. „Das gehört eigentlich zur Grundausstattung jeder Schule.“

Der Deutsche Bibliotheksverband strebt ebenfalls eine feste Verankerung der Bibliotheken in Schule und Unterricht an, wobei auch Kooperationen mit öffentlichen Bibliotheken ein Weg sein können. „Es ist an der Zeit, die Bibliotheken mit ins Bildungsboot zu holen“, sagt Frank Raumel. „Schulbibliotheken brauchen eine professionelle, fachlich qualifizierte Betreuung; sie brauchen Medien, Räume und Geld.“

In der St. Angela-Schule bereitet man sich derzeit auf die Leseaktion „Frankfurt liest ein Buch“ vor: „Nach Mitternacht“ von Irmgard Keun, eine Geschichte aus der NS-Zeit. Oberstufenschülerin Sophie möchte dazu eine kleine Ausstellung konzipieren - mit Zeitleiste und einem Plakat mit nächtlichem Sternenhimmel und Zitaten. Auch Krieg und Gewalt in der Gegenwart sind im Bewusstsein der Schülerinnen präsent: Am Eingang des Schulbibliotheks-Baus flattern blaue und gelbe Zettel mit Wünschen für die Ukraine: „Ihr schafft das!“, „Hope“ und „Freiheit“.