Essen (epd). So hat man die Zeche Zollverein in Essen bei Nacht noch nicht gesehen: umgedeutet zum biblischen Garten Gethsemane mit dem verzweifelten Jesus im Gebet. „Wacht mit mir und betet“, bittet er die Clique junger Leute um sich herum. Männer und Frauen, modern gekleidet wie er selbst: in Jeans, Kurzmantel mit Kapuze oder kariertem Holzfällerhemd wie Petrus. Dann der große Showdown: Der Verräter Judas, ganz in Schwarz gekleidet, fährt mit dem Polizeiauto vor, und Jesus wird nach kurzem Gerangel wie auf einer Demo abgeführt. Später taucht er im orangefarbenen Overall wieder auf - der berüchtigten Gefängniskleidung aus dem US-Internierungslager Guantánamo.
Fiktion und Fantasie: So könnte es sein, wenn Jesus seine Passion heute erleben würde. Das zeigen die sieben vorproduzierten Filmszenen an verschiedenen Orten in Essen wie auf Zollverein, aber auch im Linienbus, am Imbisswagen oder im Shoppingcenter. Prominent besetzt mit Alexander Klaws als Jesus, Ella Endlich als Maria, Laith Al-Deen als Petrus, Mark Keller als Judas und Henning Baum als Pontius Pilatus.
Sie alle sind am 13. April am Essener Burgplatz auf der Open-Air-Bühne zu sehen, im Film und real. Eine hybride Veranstaltung mit mehr als 2,9 Millionen TV-Zuschauerinnen und Zuschauern vor dem Fernseher und fast 5.000 Menschen live vor Ort zu Füßen des Doms. Sie begleiten das Event mit Szenenapplaus und Begeisterung. Eine gelungene Deutschland-Premiere für die RTL-Show „Die Passion“ über das Leben und Leiden Jesu im modernen Gewand - „Die größte Geschichte aller Zeiten“, wie der Sender in der Werbung unermüdlich betont.
Thomas Gottschalk als Erzähler
Was das heißt, verdeutlicht Thomas Gottschalk, den RTL neben vielen anderen Prominenten für das gut zweistündige Musikspektakel gewonnen hat, als Erzähler. In der Passionsgeschichte gehe es um Freundschaft, Liebe und Verrat, aber auch Hoffnung, Zuversicht und Vergebung - „Themen, die heute wahrscheinlich aktueller sind als jemals zuvor“, erläutert der Showmaster nachdenklich.
Jesus wäre heute wohl „ein erfolgreicher Influencer“, meint Gottschalk, der etwas einsam auf der ausladenden Bühne steht mit Band, Chor und LED-Leinwand weit hinter sich. Zu viel Nähe zur Kirche oder gar missionarischen Absichten erteilt Gottschalk eine klare Absage: Die Show sei „weder ein Gottesdienst noch ein frommes Märchen“, sondern einfach die Ostergeschichte „im Look von 2022 - reloaded“. Und doch leben die Einspieler auch von wortgetreuen Bibelzitaten.
Neben Filmszenen spielen bei der Umsetzung zahlreiche moderne Popsongs die zentrale Rolle. Bei der Gethsemane-Szene etwa erklingt Adel Tawils Song „Ist da jemand?“ und nach Jesu Tod singt Maria das Lied „Wir sind geboren, um zu leben“ der Band „Unheilig“. Viele vertraute Songs, die in dieser Inszenierung eine erstaunliche Bedeutung erhalten. Bis hin zum gefeierten Finale, als Jesus alias Alexander Klaws live und ganz in Weiß als Auferstandener auf dem hohen Dach des Kinos Lichtburg erscheint. Er wird angestrahlt von hunderten Scheinwerfern und singt „Halt dich an mir fest, wenn das Leben dich zerreißt“ („Revolverheld“).
Es ist ein Gänsehautmoment der technisch aufwändigen und abwechslungsreichen Show. Parallel zum Bühnenprogramm zieht eine Prozession rund drei Kilometer durch die Essener City, von Rüttenscheid an der Philharmonie vorbei bis auf den Burgplatz. Freiwillige tragen ein sechs Meter langes und 250 Kilogramm schweres Leuchtkreuz.
„Ich weiß nicht, ob mich dieser Abend wirklich berühren kann oder ob alles nur Show ist“, sagt eine Besucherin anfangs. Am Ende des Abends sieht sie ihre Skepsis nicht bestätigt: „Spannend, dieser neue Zugang zur alten Ostergeschichte.“