Im Oktober 2012, knapp drei Wochen nach einer Alzheimer-Diagnose, überreichte eine damals 71-jährige Frau aus dem Süden der Niederlande ihrem Hausarzt ein handgeschriebenes Dokument. "Ich möchte von meinem Recht auf Sterbehilfe Gebrauch machen, solange ich noch einigermaßen zurechnungsfähig bin, aber nicht mehr bei meinem Mann wohnen kann." Unter keinen Umständen wolle sie in einem Altenheim mit Demenzpatienten landen, schrieb die Frau.

Drei Jahre später war die Frau fortgeschritten dement und wurde in ein Heim gebracht. Die Heimärztin erfuhr von der Patientenverfügung, führte mehrere Gespräche mit der Frau und den Angehörigen und erfüllte schließlich den Sterbewunsch. Die zuständige "Regionale Prüfungskommission Euthanasie" die - wie bei jedem Sterbehilfefall üblich - den Ablauf hinterher kontrollierte, kam jedoch zu dem Schluss, dass die Ärztin gegen ihre Sorgfaltspflicht verstoßen habe. Der Fall wurde an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die Anklage wegen Mordes erhob.

Erstmals Arzt strafrechtlich verfolgt

Zum ersten Mal wurde damit in den Niederlanden ein Arzt, der Sterbehilfe leistete, strafrechtlich verfolgt. Der Fall landete vor dem Hohen Rat, dem obersten Gericht, das Ende April entschied: Ein Arzt darf auf Grundlage einer Patientenverfügung aktive Sterbehilfe leisten, auch wenn ein Patient den Sterbewunsch nicht mehr selbst bestätigen kann. Damit bahnt sich eine Erweiterung des Rechts auf Sterbehilfe an. Das Urteil spaltet das Land.

Das liberale niederländische Sterbehilfegesetz schreibt vor, dass ein Sterbewunsch freiwillig und wohlüberlegt geäußert werden muss. Bei fortgeschrittener Demenz wird diese Voraussetzung jedoch nicht erfüllt, so dass aktive Sterbehilfe bei Demenzpatienten bisher ausgeschlossen wurde. Im konkreten Fall war die Frau so verwirrt, dass sie nicht einmal mehr wusste, was Sterbehilfe bedeutete, und bis zuletzt wirre und widersprüchliche Aussagen machte.

Neue Fragen

Die Niederlande gehen nun jedoch wieder einen Schritt weiter. Die Richter des Hohen Rats in Den Haag fanden, dass Sterbehilfe erlaubt ist, wenn in der Patientenverfügung bereits auf eine mögliche Unfähigkeit, den Sterbewunsch später zu bestätigen, eingegangen wird. Das Gericht hob damit eine deutliche schriftliche Erklärung eines Patienten als entscheidenden Faktor hervor. Die Einschätzung liege aber letztlich beim Arzt. Für solche Fälle müssten für die Prüfung zwei Ärzte eingeschaltet werden.

Der Medizinethiker Theo Boer kritisiert, dass das Urteil viele neue Fragen aufwerfe: Wie viel Wert werde beispielsweise noch direkten Äußerungen eines Patienten beigemessen? Bei verwirrten Menschen müssten sich Ärzte bei ihrer Beurteilung eines Sterbewunsches zudem vor allem auf die Aussagen von Familienangehörigen stützen, die möglicherweise eigene Interessen hätten, schrieb Boer in der Tageszeitung "Trouw". Die Niederländische Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende (NVVE) dagegen begrüßte, dass das Urteil mehr Rechtssicherheit schaffe.

Wille des Patienten entscheidend

Die Richterin Miriam de Bontridder und der frühere Vizepräsident des Hohen Rats, Hein Mijnssen, erklärten, dass der Wille des Patienten der Ausgangspunkt sein müsse. "Für einen Arzt muss entscheidend sein, was ein Patient in seiner Verfügung als untragbares Leiden bezeichnet", schrieben sie in der Zeitung "NRC Handelsblad". Wenn ein Patient die Abhängigkeit von anderen als untragbares Leiden definiert und deshalb sterben will, müsse dies respektiert werden.

In Deutschland ist aktive Sterbehilfe verboten. Der Bundesgerichtshof (BGH) entschied jedoch im Februar, dass begleitetes Sterben unter bestimmten Bedingungen möglich ist. Ärzte können demnach in Einzelfällen Menschen beim Suizid beistehen, ohne dafür strafrechtlich belangt zu werden. Die Richter in Karlsruhe argumentierten, dass der Sterbewunsch eines Patienten zu respektieren sei.