Köln (epd). In der Debatte um den Umgang mit der von der Bundesregierung erlassenen Kontaktsperre mehren sich Stimmen, die einen Ausblick auf das Ende der Alltagsbeschränkungen fordern. Auch eine mögliche längere Isolierung von Risikogruppen wird diskutiert. Freiheitsbeschränkungen müssten kontinuierlich mit Blick auf die vielfältigen sozialen und ökonomischen Folgelasten geprüft und möglichst bald schrittweise gelockert werden, forderte der Deutsche Ethikrat in einer am 27. März veröffentlichten Stellungnahme zur sozialen und wirtschaftlichen Krise durch die Corona-Pandemie. Einen Zeithorizont nannte das Gremium nicht.
Mit "Folgeschäden" meint der Ethikrat Beeinträchtigungen derjenigen, die durch die Maßnahmen belastet sind: Patienten, deren medizinische Behandlung derzeit ausgesetzt wird, von häuslicher Gewalt betroffene Frauen oder Personen in Einrichtungen wie etwa Pflegeheimen, denen Besuche vorenthalten werden. Auch auf die Folgen für die Wirtschaft und die Demokratie durch die Grundrechtsbeschränkungen weist das Gremium hin.
Warnung vor Entsolidarisierung
Spannungen zwischen unterschiedlichen Ansprüchen bedürftiger Gruppen müssten fair ausgehandelt werden, sagte der Vorsitzende des Ethikrats, Peter Dabrock. "Ungewissheit über das Ende solcher Maßnahmen führt mit zunehmender Dauer zur Entsolidarisierung und Demotivation", mahnte der Ethikrat.
Der Dortmunder Statistik-Professor Walter Krämer warnte vor einer Zunahme potenziell tödlicher Folgekrankheiten, wenn die Kontaktsperren anhielten. Fettleibigkeit, Diabetes, Suizidalität und auch häusliche Gewalt könnten die Folge sein, sagte er der "Neuen Osnabrücker Zeitung". "Ich gehe davon aus, dass wir in zwei, drei Wochen mit den aktuellen Maßnahmen aufhören und dass wir uns in zwei Monaten darüber totlachen, wie wir uns haben in Panik versetzen lassen", sagte er. Wenn alle Bundesbürger sich jetzt an die Zwei-Personen-Regel hielten, wäre die Corona-Krise schon bald "nur noch ein böser Traum".
Zugleich wurde die Idee diskutiert, einzelne Risikogruppen länger zu isolieren, auch wenn etwa Kindergärten und Schulen nach den Osterferien wieder geöffnet würden. Der SPD-Politiker und ehemalige Vizekanzler, Franz Müntefering, der auch Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen ist, hält es für möglich, dass ältere Menschen oder chronisch Kranke zur Eindämmung des Coronavirus länger in Quarantäne gehalten werden als andere Gruppen der Gesellschaft. Gefragt seien "differenzierte Lösungen", sagte er dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland".
"Zynisch und falsch"
Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) sprach sich strikt gegen eine vorzeitige Lockerung der Maßnahmen aus. Vorschläge, sich bei der Isolierung auf die Risikogruppe kranker und älterer Menschen zu beschränken, bezeichnete sie im "Kölner Stadt-Anzeiger" als "zynisch und falsch".
Aus Sicht von Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery läuft die Debatte darauf hinaus, den Schutz von Menschenleben gegen wirtschaftliche Interessen abzuwägen. "Wir müssen uns zwischen der hohen Priorität der Rettung von Menschenleben und der Rettung unserer Wirtschaft entscheiden", sagte Montgomery der "Passauer Neuen Presse". "Das wird noch zu Diskussionen führen." Er warnte vor einer Umkehrung des Quarantäne-Gedankens. Es könne nicht die Lösung sein, dass alle, die zu einer Risikogruppe gehören, drei Monate zu Hause bleiben müssen.