Kirchen

Bedford-Strohm: "Echte Identität gründet nicht auf Abgrenzung"


Der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohum und Kanzlerin Merkel beim Johannisempfang der EKD in Berlin
epd-bild/Christian Ditsch
Das Vorgehen gegen die "Sea-Watch 3" sei ein moralischer Skandal, beklagt der EKD-Ratschef Bedford-Strohm. Auf dem traditionellen Johannisempfang der EKD fordert er einen offenen Heimatbegriff, der nicht "nur bis zum Gartenzaun des Nachbarn" reicht.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, hat darauf gedrungen, die Kriminalisierung der Seenotretter zu beenden. "Das, was da passiert, ist ein moralischer Skandal", sagte Bedford-Strohm am 26. Juni in Berlin anlässlich des traditionellen Johannisempfangs der EKD. Die italienische Regierung hatte in den vergangenen Wochen verhindert, dass das Rettungsschiff "Sea-Watch 3" der privaten Seenotrettungsorganisation Sea-Watch mit ursprünglich über 50 Flüchtlingen an Bord in einen Hafen einlaufen konnte.

Italien hatte gedroht, das Schiff zu beschlagnahmen und die Besatzung strafrechtlich zu verfolgen, sollte die "Sea-Watch 3" das Verbot ignorieren. Dennoch entschied die Kapitänin des Schiffs am, den Notfall auszurufen und den Hafen von Lampedusa ansteuern.

Der Ratsvorsitzende hielt am Abend den Festvortrag in der Französischen Friedrichsstadtkirche zum Thema "Identität und Heimat - eine christliche Ortsbestimmung". "Echte Identität gründe sich nicht aus der Abgrenzung gegenüber den Anderen oder gar aus ihrer Herabsetzung", sagte Bedford-Strohm. Es sei richtig, Heimat und Identitäten zu schätzen. Menschen brauchten das. "Aber schief wird es, wenn wir einen bestimmten Zustand von Heimat und Identität verabsolutieren, als wäre nicht auch er aus vielen Quellen entstanden und als müsse nicht auch er sich mit der Zeit verändern", betonte der oberste Repräsentant von knapp 21,5 Millionen Protestanten in Deutschland.

"Dringliches Bewährungsfeld"

"Mit einem engen und homogenen Heimatbegriff, dessen Horizont nur bis zum Gartenzaun des Nachbarn reicht, hat das mit einem offenen Heimatverständnis, das wir heute brauchen, nichts zu tun", sagte Bedford-Strohm, der auch bayerischer Landesbischof ist. Das Thema Seenotrettung sei für diesen offenen Heimatbegriff ein "dringliches Bewährungsfeld", sagte er. "Verbrecherische Schlepperbanden darf man nicht dadurch bekämpfen, dass man unterlassene Hilfe beim Ertrinken von Menschen als Abschreckungsmittel einsetzt."

An dem Empfang, der vom Bevollmächtigten des Rates der EKD ausgerichtet wird, nahmen hochrangige Religionsvertreter und führende Bundespolitiker teil, darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Rund 500 Gäste kamen bei tropischen Temperaturen auf den Gendarmenmarkt, darunter Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), die Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, sowie der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek.

Der Sommerempfang der EKD findet traditionell in der Französischen Friedrichstadtkirche statt. An dem zentralen Berliner Platz hat der EKD-Bevollmächtigte bei Bundesregierung, Bundestag und Europäischer Union, Martin Dutzmann, seinen Dienstsitz. Er vertritt die Interessen der evangelischen Kirche gegenüber der Politik.



EKD: Festnahme der "Sea-Watch"-Kapitänin ist Schande für Europa

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat die Festnahme der Kapitänin der Rettungsschiffes "See-Watch 3", Carola Rackete, scharf kritisiert. Dass Rackete in der Nacht beim Anlegen in Lampedusa festgenommen wurde, mache ihn "traurig und zornig", erklärte der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm am 29. Juni in Hannover. "Eine junge Frau wird in einem europäischen Land verhaftet, weil sie Menschenleben gerettet hat und die geretteten Menschen sicher an Land bringen will. Eine Schande für Europa!"

Die Kapitänin hatte das Schiff trotz des Verbots Italiens in den Hafen der Insel gebracht, wo sie sogleich festgenommen und unter Hausarrest gestellt wurde. Ihr droht wegen Verstoßes gegen die Schifffahrtsordnung eine Haftstrafe zwischen drei und zehn Jahren. Die "Sea-Watch 3" wurde von Polizei und Zollbehörden beschlagnahmt. Die 40 verbliebenen Flüchtlinge, die seit mehr als zwei Wochen auf der "Sea-Watch" waren, sind an Land gegangen.

Seine Gedanken und Gebete seien an diesem Morgen bei Carola Rackete, erklärte Bedford-Strohm und erinnerte an das Bibelwort "Lasst uns Gutes tun und nicht müde werden, denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten". Dies sei eine Ermutigung für viele Menschen, allen voran die "Sea-Watch"-Crew, die sich für Humanität einsetzen.

Die Besatzung des Rettungsschiffes hatte am 12. Juni insgesamt 53 Flüchtlinge in Seenot vor Libyen gerettet. Einige der Flüchtlinge durften in den vergangenen Tagen als Notfälle an Land gehen. Eine Rückkehr nach Libyen hatte die Organisation Sea-Watch wegen des Bürgerkriegs und der Menschenrechtsverletzungen dort ausgeschlossen.



Bedford-Strohm wird Ehrenbürger von Palermo


Leoluca Orlando und Heinrich Bedford-Strohm auf dem Dortmunder Kirchentag
epd-bild/Thomas Lohnes

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, erhält die Ehrenbürgerwürde der Stadt Palermo (Sizilien). "Ich freue mich sehr über diese Auszeichnung, weil sie mir von einem Kämpfer für Humanität, Recht und Ordnung verliehen worden ist", sagte Bedford-Strohm am Rande der EKD-Ratstagung in Berlin. Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando hatte am 27. Juni mitgeteilt, dass er Bedford-Strohm und die private Seenotrettungsorganisation Sea-Watch auszeichnen möchte.

Bedford-Strohm hatte Lampedusa und Palermo Anfang Juni besucht, um auf das Problem der Kriminalisierung der Seenotretter im Mittelmeer aufmerksam zu machen. Einen Unterstützer für sein Anliegen fand er in Leoluca Orlando, der kurzfristig zum Kirchentag in Dortmund kam. Auf dem Kirchentag wurde eine Resolution verabschiedet, die von der EKD fordert, ein eigenes Seenotrettungsschiff ins Mittelmeer zu schicken. Initiator ist unter anderem der EU-Abgeordnete Sven Giegold (Grüne).

Die Resolution sei von der der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) positiv aufgenommen worden, sagte ein Sprecher am Rande der Ratstagung in Berlin. "Ein Konzept, in welcher Weise die EKD sich in einem von einem breiten Bündnis getragenen Verein daran beteiligen kann, ein neues Schiff auf den Weg zu bringen, soll dem Rat in der kommenden Ratssitzung im September vorgelegt werden", sagte er. Dem Bündnis sollen sich Kirchen, Organisationen, Kommunen und Einzelpersonen anschließen können. Die EKD lege größten Wert auf eine breite zivilgesellschaftliche Verankerung des Vereins, vor allem auch auf die Einbindung der in der Tradition "christlicher Seefahrt" stehenden deutschen Reeder.



Stuttgarter Pfarrer macht Front gegen AfD-Anfrage

Matthias Vosseler, Pfarrer an der Stuttgarter Stiftskirche, protestiert mit einem ungewöhnlichen Facebook-Beitrag gegen eine Anfrage der AfD zum Ausländeranteil an staatlichen Bühnen in Baden-Württemberg. Vosseler listet darin eine Analyse seiner eigenen DNA auf, die ihn zu 36 Prozent als Skandinavier, 28 Prozent als Italiener, knapp 10 Prozent als Deutscher und zu 1,3 Prozent als Nigerianer ausweise. "Als 'schwedischer Italiener' erkläre ich mich solidarisch mit den vielen Menschen aus so vielen verschiedenen Herkunftsländern, die hier auf den Bühnen des Landes Kultur zum Blühen bringen", schreibt der Pfarrer.

Der evangelische Theologe empfiehlt auch AfD-Politikern, eine solche DNA-Analyse machen zu lassen. "Die Ergebnisse werden euch sicher nicht begeistern, aber vielleicht die Augen öffnen", schreibt er. "Dann könnt ihr in Zukunft solch unsinnige und im letzten menschenverachtende Anfragen unterlassen." Die AfD-Anfrage hat auch bei den anderen im Landtag vertretenen Parteien Empörung ausgelöst.



Papst ermutigt deutsche Katholiken auf "synodalem Weg"

Papst Franziskus hat in einem Brief an die deutschen Katholiken auf die kirchliche Reformdebatte in Deutschland reagiert. In dem am 29. Juni veröffentlichten Schreiben "An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland" ermutigt Franziskus zum geplanten "synodalen Weg" bei der Erneuerung der Ortskirche, die sich nach Missbrauchskandalen mit einem erheblichen Vertrauensverlust konfrontiert sieht. Zugleich ruft der Papst zu einer Evangelisierung auf. Die Deutschen Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) begrüßten das Schreiben als "Zeichen der Wertschätzung des kirchlichen Lebens in unserem Land".

Franziskus lobt die Reformanstrengungen der deutschen Katholiken angesichts "zunehmender Erosion" und "Verfall des Glaubens". Er warnt zugleich vor rein strukturellen und verwaltungstechnischen Veränderungen, vor einem "'Zurechtflicken', um so das kirchliche Leben zu ordnen und zu glätten". Verlangt werde vielmehr eine "pastorale Bekehrung", eine Haltung, die darauf abziele, das Evangelium zu leben und transparent zu machen. Den Skandal um sexuellen Missbrauch durch Kirchenvertreter als Auslöser der Reformbestrebungen erwähnt er nicht.

Evangelisierung sei "keine Taktik kirchlicher Neupositionierung in der Welt von heute" und auch "kein Akt der Eroberung", sondern führe zur Freude am Christsein, schreibt Franziskus. Er ruft dazu auf, offen auf Menschen am Rande der Gesellschaft zuzugehen, die "auf den Straßen, in den Gefängnissen, in den Krankenhäusern, auf den Plätzen und in den Städten zu finden sind".

Betonung der Einheit der Kirche

Auf konkrete strittige Themen wie die Priesterweihe für verheiratete Männer ging der Papst in seinem Brief nicht ein. Er unterstrich aber die Bedeutung einer weltkirchlichen Perspektive. Weltkirche und einzelne Ortskirchen seien aufeinander angewiesen und lebten voneinander. Der Blick auf die Einheit der Kirche könne verhindern, dass man sich in den Ortskirchen in einzelnen Fragen "verstricke" und den Weitblick verliere.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und ZdK-Präsident Thomas Sternberg dankten dem Papst "für seine orientierenden und ermutigenden Worte". Sie sähen sich ermutigt, den angestoßenen Reformprozess weiterzugehen. Der päpstliche Brief solle auf dem "synodalen Weg" intensiv bedacht werden.

Nachdem die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in Deutschland in den vergangenen Jahren erschüttert worden sei, müsse es nun darum gehen, Vertrauen neu zu gewinnen, erklärten Marx und Sternberg in Bonn. Dabei sei eine geistlichen Ausrichtung notwendig, "die sich nicht in Strukturdebatten erschöpfen darf".

Die deutschen katholischen Bischöfe hatten im März Reformvorstellungen formuliert. In einem als "synodaler Weg" bezeichneten Beratungsprozess mit dem Zdk, also den kirchlichen Laien, sowie außerkirchlichen Experten soll es um Themen wie Machtstrukturen und Sexualmoral sowie das Zölibat der Priester gehen. Bereits am 5. Juli wollen Vertreter der Bischofskonferenz und des ZdK weitere Schritte beraten.

Auch andere katholische Bischöfe äußerte sich erfreut über den Brief des Papstes. Franziskus erkenne an, dass die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Themen der deutschen Katholiken berechtigt und notwendig sei, und dass es gut sei, diese gemeinsam zu gestalten, erklärte der Hamburger Erzbischof Stefan Heße. Dankbar für dieses "starke Zeichen des Papstes" äußerte sich der Limburger Bischof Georg Bätzing. Er teilte die Auffassung des Papstes, nichts zu verschleiern und sich "den Themen zu stellen". Die Präsidentin der Limburger Diözesanversammlung, Ingeborg Schillai, nannte den Brief ein "klares Votum, einen gemeinsamen Prozess von Amtsträgern und Volk Gottes zu gestalten".

Die Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche" unterstrich, dass der "verbindliche synodale Weg" die einzige Möglichkeit sei, die "existenzielle Kirchenkrise in Deutschland zu überwinden". Zugleich warnte die Initiative kritischer Katholiken davor, zu viel Hoffnung in den Prozess zu setzen, solange nicht kirchenrechtlich geklärt sei, wer am Zustandekommen von Beschlüssen beteiligt sei und welche Verbindlichkeit diese hätten.



Katholische Kirche veröffentlicht Arbeitshilfe zum Populismus

Die katholische Kirche in Deutschland hat eine Arbeitshilfe veröffentlicht, die Gemeinden die Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Positionen erleichtern soll. Auch in den eigenen Gemeinden gebe es Menschen, die Angst davor haben, "überfremdet" zu werden, sagte der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode bei der Präsentation am 25. Juni in Berlin. Die Fragen tauchten auch in katholischen Kitas und Schulen auf. Die Autoren des Papiers werben für den Dialog auch mit Menschen, die Meinungen vertreten, die schwer mit kirchlichen Positionen zu vereinbaren sind.

"Es gibt keinen Weg außerhalb des Dialogs", sagte der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der auch Vorsitzender der Migrationskonferenz der katholischen Deutschen Bischofskonferenz ist. "Die Kirche würde ihre Sendung verraten, wenn sie diese Aufgabe nicht annähme", sagte Bode.

"So weit sind wir noch nicht"

Für das "Dilemma" bei der Frage eines Dialogs mit der AfD, wie es der Trierer Bischof Stephan Ackermann bezeichnete, gibt die Arbeitshilfe keine klare Empfehlung. Der gerade zu Ende gegangene evangelische Kirchentag hatte keinen AfD-Vertreter zu Podien eingeladen. Das habe der AfD viel Aufmerksamkeit verschafft, sagte Ackermann und ergänzte: Das habe ihr "zu viel Ehre" angetan. Der letzte Katholikentag in Münster hatte einen AfD-Vertreter auf einem Podium. Ackermann räumte aber ein, den "goldenen Mittelweg" zu finden, sei schwer.

Grenzen hat das Dialogische auch beim direkten Kontakt zwischen Bischofskonferenz und AfD. Auf Landesebene gebe es Kontakte zu einzelnen katholischen Abgeordneten, sagte Sprecher Matthias Kopp. Auf die Frage, ob offizielle Gespräche zwischen AfD-Vertretern und Bischofskonferenz möglich würden, sagte Heße: "So weit sind wir noch nicht."

Keine offiziellen Gespräche

Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) führt keine offiziellen Gespräche mit der AfD, wie es sich mit anderen Parteien etabliert hat. In beiden Kirchen gibt es eine intensive Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus. In evangelischen Landeskirchen wurden ebenfalls Handreichungen und Empfehlungen erarbeitet. Zuletzt veröffentlichte die Diakonie konkrete Empfehlungen für den Umgang mit rechtspopulistischen und fremdenfeindlichen Positionen in eigenen Einrichtungen sowie Angriffen und Instrumentalisierungsversuchen durch Rechtspopulisten.

Die Arbeitshilfe der katholischen Bischofskonferenz setzt sich vor allem mit Grundsatzpositionen zum Islam, Flüchtlingen oder Geschlechterfragen auseinander, weil sie beliebte Themenfelder von Populisten sind. Am Ende stehen vier Empfehlungen: Engagierte unter anderem in der Flüchtlingsarbeit weiter stärken, Dialog ermöglichen, unterscheiden zwischen legitimen und ausgrenzenden Positionen sowie den Umgang mit negativen Emotionen lernen.



Stille am Rand der Autobahn


Erste evangelische Autobahnkirche in Vlotho-Exter
epd-bild/Christian Schwier
Hier drinnen ist es still. Wenn man das alte Gotteshaus betritt, der Blick im weiß getünchten Kirchenschiff ausruhen kann, sind tosender Lärm und Zeitdruck für einen Moment weit weg. In Exter an der A2 steht die älteste evangelische Autobahnkirche.

Schnellen Schrittes geht der Mann zu dem Gestell mit den Kerzen, zündet ein Licht an, setzt sich in die hinterste Kirchenbank. Und hält inne. Ein paar Augenblicke später steht er wieder auf, verlässt die Autobahnkirche im ostwestfälischen Vlotho-Exter ebenso schnell wie er gekommen ist. "Besucher bleiben hier selten länger als zehn Minuten", sagt der Gemeindepfarrer von Exter, Ralf Steiner. Sie suchten einen Moment der Stille und Besinnung, bevor sie wieder in das hektische Getriebe auf der Straße eintauchten. Die 1665 errichtete Dorfkirche von Exter wurde vor 60 Jahren zur ersten evangelischen Autobahnkirche bestimmt.

44 Standorte gehören aktuell zum Netz der Autobahnkirchen in Deutschland. Seit 2004 machen sie jährlich zur Hauptreisezeit mit einem Aktionstag auf sich aufmerksam - in diesem Jahr am 7. Juli. Dann überträgt das ZDF seinen Fernsehgottesdienst live aus der Kirche von Exter, die rund 500 Meter entfernt von der Abfahrt Vlotho-West an der A2 zwischen Bielefeld und Hannover liegt.

"Evangelisches Gegenstück"

Nur eine deutsche Autobahnkirche ist noch älter: Die katholische "Maria, Schutz der Reisenden" in Adelsried bei Augsburg an der A8 wurde 1958 eingeweiht. Doch die Idee stamme eigentlich aus Exter, so erzählt es Pastor Steiner: Schon Anfang der 1950er Jahre habe sein Amtsvorgänger Wilhelm Gröne vorgehabt, die damals von der Autobahn weithin sichtbare Kirche in der Dunkelheit beleuchten und Wegweiser an der Schnellstraße aufstellen zu lassen. 1959 wurde Exter dann von der westfälischen Landeskirche als "evangelisches Gegenstück" zum katholischen Adelsried auserkoren und an Christi Himmelfahrt ihrer zusätzlichen Bestimmung als Autobahnkirche gewidmet.

Heute gebe es 19 evangelische, acht katholische und 17 ökumenisch ausgerichtete Autobahnkirchen, sagt Birgit Krause von der Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen mit Sitz in Kassel. Die Akademie sorgt seit den 1990er Jahren für die Vernetzung der Kirchen und Kapellen an den Autobahnen und veranstaltet deren jährliche ökumenische Konferenz.

Den heutigen Besuchern sei die konfessionelle Ausrichtung einer Autobahnkirche nicht mehr wichtig, sagt Krause. Und auch Konfessionslose finden den Weg, so wie Ulla, die auf dem Weg von Berlin ins Rheinland den "Rastplatz für Körper, Seele und Geist" angesteuert hat, wie sie ins Gästebuch schrieb: "Wir kommen immer so gerne hierher, auch als Nicht-Gläubige."

Zahl der Besucher steigt

Wie auch in den anderen Kirchen an den Autobahnen gebe es in Exter viele "Stammgäste", berichtet Ralf Steiner. Im Gegensatz zu den regulären Sonntagsgottesdiensten sei in den Autobahnkirchen über die Jahrzehnte die Zahl der Besucher stetig gewachsen. "Das ist auch nicht verwunderlich", sagt der Pastor, "die Menschen sind ja immer mobiler geworden und halten sich weniger in ihren Ortsgemeinden auf."

Bei der jüngsten Autobahnkirchenkonferenz habe man eine jährliche Besucherzahl von bundesweit etwa 1,1 Millionen Menschen errechnet, sagt Birgit Krause. Die Zahlen schwankten jedoch stark: von rund 2.000 in der Dorfkirche von Werbellin (Brandenburg) bis zu mehr als 200.000 in der St. Christophoruskirche am Rasthof Baden-Baden. Exter sortiert sich mit etwa 30.000 Gästen im Jahr im Mittelfeld ein.

Pastor Steiner empfindet es trotz des Mehraufwands für die Gemeinde als "Segen", dass die kleine Kirche durch ihre Zusatzaufgabe weit über Ostwestfalen hinaus bekannt ist: "An sieben Tagen die Woche herrscht hier geistliches Leben." Die Besucher spürten, dass hier über Jahrhunderte Menschen gebetet hätten, sagt er. Und sie schätzten, dass die Autobahnkirche zugleich eine lebendige Gemeindekirche sei.

Bitte um Schutz vor Gefahren des Straßenverkehrs

Blickfang im weiß getünchten Kirchenschiff ist der Altarbogen mit einer Inschrift aus dem Matthäusevangelium (Mt 11, 28): "Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken." Dahinter grüßt in dem farbigen Rundfenster ein freundlicher Christus mit blauen Augen. Ein Taufengel "schwebt" unter der Decke - die Figur spreche viele Besucher als Symbol für den Schutz Gottes besonders an, sagt Steiner.

Besucher bitten in der Kirche oft um Schutz vor den Gefahren des Straßenverkehrs, wie aus vielen Einträgen im Anliegenbuch hervorgeht. "Danke Herr für die unfallfreien Fahrten, und dass mich mein neues Auto auch weiterhin gut begleitet und mich gesund ankommen lässt", schreibt ein Fahrer. Andere Gäste vertrauen Gott ihre Sorge um liebe Menschen an: "Bitte helfe meiner Tochter, wieder gesund zu werden. Und gib uns, der Familie, die Kraft, die wir so dringend brauchen."

Die Gemeinde lese regelmäßig die Anliegen der Besucher und nehme sie bei den Gottesdiensten in die Fürbitte auf, versichert Ralf Steiner. Das werde auch im Fernsehgottesdienst zum Tag der Autobahnkirchen am 7. Juli so sein. Am gleichen Tag laden auch die meisten anderen Kirchen und Kapellen an den Schnellstraßen die Vorbeikommenden zu einem Reisesegen ein.

Von Thomas Krüger (epd)


Festgottesdienst für neue Glocken der Leipziger Nikolaikirche


Die neuen Glocken für die Leipziger Nikolaikirche
epd-bild/Uwe Winkler

Die neuen Glocken der Leipziger Nikolaikirche sind mit einem Festgottesdienst eingeweiht worden. An der Feier am 29. Juni nahm auch Altbundespräsident Joachim Gauck teil. Der Gottesdienst war Höhepunkt des Festwochenendes zur Glockenweihe, das am Abend zuvor mit einem Festumzug der Glocken durch die Stadt begonnen hatte. Ab dem Mittag des 30. Juni sollten die insgesamt acht Glocken dann nach und nach in die beiden Kirchtürme aufgezogen werden. Sechs der Glocken wurden neu geschaffen, zwei Glocken wurden restauriert.

Für die nächsten Wochen ist den Angaben zufolge mehrfaches Probeläuten geplant. Erstmals vollständig erklingen soll das neue Geläut dann zum Friedensgebet anlässlich des 30. Jahrestags der entscheidenden Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 während der friedlichen Revolution in der DDR.

Die bisher drei Glocken der Nikolaikirche waren Anfang April aus dem Turm gehoben worden. Zwei davon wurden saniert, die dritte wurde ausrangiert. Dafür wird das Geläut um sechs neue Glocken ergänzt, darunter die große Osanna, die 1917 verloren gegangen war. Zudem werden die zwei Glockenstühle saniert und teilweise neu errichtet.

Die Gesamtkosten für die Arbeiten betragen rund 600.000 Euro. Über eine Aktion der Sparkasse Leipzig und der Ostdeutschen Sparkassenstiftung unter der Schirmherrschaft Joachim Gaucks wurden gut zwei Drittel davon durch Spenden eingenommen. Den Rest finanzieren die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens und die Deutsche Stiftung Denkmalschutz.



Berufung gegen "Judensau"-Urteil eingelegt

Der Rechtsstreit um den Verbleib der Spottplastik "Judensau" an der Fassade der Wittenberger Stadtkirche geht in die nächste Instanz. Er habe gegen das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau von Ende Mai Berufung eingelegt, teilte der Anwalt des Klägers, Hubertus Benecke, dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 25. Juni mit. Damit werde der Prozess am Oberlandesgericht Naumburg fortgesetzt. Kläger Michael Düllmann ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Berlin. Er sieht sich durch die Plastik in seiner Ehre verletzt.

Das Landgericht Dessau-Roßlau hatte Ende Mai entschieden, dass die Plastik vorerst an der Fassade der Stadtkirche Wittenberg hängen bleiben darf. Das Vorhandensein des rund 700 Jahre alten Reliefs könne nicht als Kundgabe der Nichtachtung oder Missachtung gegenüber Juden in Deutschland verstanden werden, urteilte das Gericht. Es bestehe kein Beseitigungsanspruch seitens des jüdischen Klägers. Auch liege keine von der evangelischen Stadtkirchengemeinde ausgehende Beleidigung im Sinne des Paragrafen 185 im Strafgesetzbuch vor. Das mittelalterliche Relief sei Teil eines historischen Baudenkmals, erklärte das Gericht.

Stadtrat für Erhalt des Reliefs

Das Sandsteinrelief war um das Jahr 1300 an der Südfassade der Stadtkirche angebracht worden. Es zeigt eine Sau, an deren Zitzen sich Menschen laben, die Juden darstellen sollen. Ein Rabbiner blickt dem Tier unter den Schwanz und in den After. Schweine gelten im Judentum als unrein. Mit solchen Darstellungen sollten Juden im Mittelalter unter anderem davon abgeschreckt werden, sich in der jeweiligen Stadt niederzulassen. Ähnliche Spottplastiken finden sich an mehreren Dutzend weiteren Kirchen in Deutschland.

Die Stadtkirchengemeinde ließ 1988 eine Bodenplatte unterhalb des Reliefs anbringen. Ihre Inschrift nimmt Bezug auf den Völkermord an den Juden im Dritten Reich, die Plastik selbst findet jedoch keine Erwähnung. Der Wittenberger Stadtrat sprach sich Mitte 2017 für den Erhalt der Plastik aus. Er wertete die Bodenplatte als Mahnmal und ließ in Absprache mit der Gemeinde eine Stele mit Erklärtexten auf Deutsch und Englisch errichten.

Düllmann hatte seine Klage 2018 zunächst vor dem Amtsgericht Wittenberg eingereicht. Wegen des hohen Streitwerts von mehr als 10.000 Euro hatte der Richter den Fall vor gut einem Jahr an das Landgericht überwiesen.



Schwimmender Altar vor der Loreley


Der Gottesdienst auf der Rheinfähre
epd-bild/Lothar Stein
Am Aktionstag "Tal Total" bleibt das Mittelrheintal für Autos tabu. Der Betreiber der Loreley-Fähre und die evangelische Kirchengemeinde in St. Goarshausen hatten eine Idee, was man an diesem Tag mit den freien Plätzen auf der Autofähre machen kann.

Als die "Loreley IV" auf die Sekunde genau um halb elf morgens ablegt, schmettert eine Blechblasgruppe den Gospel "Let my people go" ins Mittelrheintal. Zehn Minuten später, als das Schiff erneut am rechten Ufer anlegt, sind die Musiker gerade bei der dritten Strophe des Chorals "Großer Gott, wir loben dich" angekommen. Die Radler, die langsam vom Anleger auf das Fährschiff herunterrollen, schauen verwundert auf das Geschehen an Bord. Einen Gottesdienst auf einer Fähre - das hat es am Rhein noch nicht gegeben.

Idee der Fährbetreiber

Eine Dreiviertelstunde lang pendelt die evangelische Kirchengemeinde von St. Goarshausen auf dem Schiff zwischen den beiden Ufern hin- und her - mit Pfarrerin, Musikern und Altar an Bord. Da das komplette Mittelrheintal wegen des Aktionstags "Tal Total" an diesem 30. Juni ohnehin für Autos tabu bleibt, hat die Kirche kurzerhand die halbe Fähre in Beschlag genommen, mit Flatterband abgesperrt und Plastik-Gartenstühle aufgestellt. Die Idee dazu hatten die Fährbetreiber selbst. Helferinnen verteilen Liedblättchen an die Passagiere, und wer will, darf mitsingen. Die meisten Ausflügler beschränken sich jedoch darauf, das Geschehen mit ihrem Smartphone festzuhalten.

"Wussten Sie, dass auch Jesus Fähre gefahren ist?" begrüßt Janina Franz ihre Gemeinde. Weil es zwischen Mainz und Koblenz auf knapp 100 Kilometern Länge keine einzige Brücke über den Fluss gibt, spielen Fähren dort bis heute eine zentrale Rolle im Leben der Menschen. "Ich mag das, mit der Fähre zu fahren", sagt die Pfarrerin, "weil es entschleunigt." In ihrer Predigt schlägt sie den Bogen von Jesus, der laut biblischer Überlieferung den Sturm auf dem See Genezareth stillte, bis hin zum Leben im Rheintal, wo der ohrenbetäubende Lärm der Güterzüge seit Jahren viele Menschen um den Verstand bringt.

"Kirche aus dem Häuschen"

Die evangelische Gemeinde der Kleinstadt am Loreley-Felsen zieht es regelmäßig aus ihrer am Flussufer gelegenen Kirche hinaus zu ungewöhnlichen Gottesdienstorten. "Kirche aus dem Häuschen" heißt die Reihe, bei der der Altar auch schon einmal hinauf auf die Loreley gebracht oder in den kühlen Lagerräume einer Weinkellerei aufgebaut wird. Den Besuchern gefällt diese unkonventionelle Art von Kirche. "Wir dachten gleich: cool, da sind wir dabei", sagt Karina May aus einem Nachbardorf von St. Goarshausen. "Das ist auch nicht so steif, wie sonst manchmal in den Kirchen."

Nach sechs Überfahrten endet der ungewöhnliche Gottesdienst wieder am Fähranleger von St. Goarshausen. Auch manche Radler, die keine Kirchgänger sind, loben die Idee. Und bevor alle von Bord gehen, wird noch eine Kollekte gesammelt - für die Seenotretter im Mittelmeer, die nicht nur gegen den Sturm, sondern auch gegen die Ignoranz der europäischen Politik ankämpfen müssen.

Von Karsten Packeiser (epd)


De Maizière: Kirchen sind in der Vertrauenskrise

Der langjährige Bundesminister Thomas de Maizière (CDU) hat den christlichen Kirchen mangelnde Akzeptanz in der Gesellschaft attestiert. Evangelische und katholische Kirche befänden sich in einer ebenso großen Vertrauenskrise wie Gewerkschaften, Medien, politische Parteien und andere große Organisationen, sagte de Maizière am 25. Juni in Leipzig.

Das verstärke sich noch, wenn kein Problembewusstsein vorhanden sei, fügte der frühere Innen- und Verteidigungsminister hinzu. "Ich bin mir bei den Kirchen nicht so sicher, ob sie den Ernst der Lage schon erkannt haben", betonte er. Dabei halte er eine Institution, die in den letzten Dingen wie dem Beginn und dem Ende des Lebens oder den Grenzen der Forschung kritische Fragen stelle, für unverzichtbar für die Gesellschaft, sagte de Maizière, der dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages angehört.

De Maizière debattierte in der Aula und Universitätskirche St. Pauli der Leipziger Universität mit dem langjährigen Fraktionsvorsitzenden der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, zum Thema "Mit Religion Staat machen". Gysi erklärte, die Gesellschaft wisse heute gar nicht mehr, wie sehr sie durch das Christentum geprägt sei. Zwar nehme die Zahl der Kirchenmitglieder ab, sagte Gysi: "Das heißt aber nicht, dass die Zahl der Gläubigen abnimmt."

"Keine allgemeinverbindliche Moral" ohne Bergpredigt

Der Linken-Politiker würdigte die wertebildende Kraft der Kirche. "Ohne die Bergpredigt hätten wir überhaupt keine allgemeinverbindliche Moral", erklärte er. Er fürchte sich vor einer gottlosen Gesellschaft, auch wenn er selbst nicht gläubig sei. "Eine religionsfreie Gesellschaft möchte ich nicht erleben", erklärte Gysi.

Zugleich plädierte er für eine striktere Trennung von Kirche und Staat. Gysi sagte, anstelle des Staates sollten die Kirchen die Kirchensteuer selbst einziehen. Auch sei es an der Zeit, staatliche Entschädigungszahlungen an die Kirchen wegen Enteignungen vor rund 200 Jahren auslaufen zu lassen. Auf der andere Seite sollte der Staat den Kirchen Zuschüsse etwa zum Erhalt von Kirchen zahlen, erklärte Gysi. Schließlich sei es der Staat, der viele Gebäude unter Denkmalschutz stelle.

De Maizière erklärte, eine gewisse Zuneigung zwischen Staat und Kirche sei zwar rechtlich nicht geboten und auch nicht zwingend erforderlich. "Aber ich finde sie schön und würde dafür plädieren, dass es dabei bleibt", sagte er.



Militärbischof kritisiert Merz-Aussage zur AfD-Nähe von Soldaten

Der evangelische Militärbischof Sigurd Rink hat den Aussagen des CDU-Politikers Friedrich Merz über einen Rechtsruck von Soldaten hin zur AfD widersprochen. "Die Bundeswehr kenne ich als verlässliche Parlamentsarmee", sagte Rink der "Bild am Sonntag" in Berlin. "Eine generell größere Nähe der Soldaten und Soldatinnen zu rechten Parteien wie der AfD, die ich persönlich völlig ablehne, kann ich nicht erkennen."

Merz hatte derselben Zeitung eine Woche zuvor gesagt: "Wir verlieren Teile der Bundeswehr und der Bundespolizei an die AfD." Diesen Eindruck hätten Abgeordnete aus dem Innen- und Verteidigungsausschuss sowie Freunde bestätigt, die bei der Bundeswehr und der Polizei arbeiteten. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wiesen dies zurück und kritisierten Merz scharf.

Rink (58) ist seit August 2014 der erste hauptamtliche Militärbischof der evangelischen Kirche und damit für die Seelsorge protestantischer Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr verantwortlich. An fast 100 Bundeswehr-Standorten gibt es evangelische Militärpfarrer.



Viele Menschen gehen gar nicht mehr in Kirchen

Zwei von fünf Deutschen haben im vergangenen Jahr kein einziges Mal eine Kirche betreten. 40 Prozent gaben bei einer einer Umfrage des evangelischen Magazins "chrismon" (Juli-Ausgabe) an, in den letzten zwölf Monaten keine Kirche besucht zu haben. Die regionalen Unterschiede sind groß: In Bayern waren drei Viertel der Menschen in einem Gotteshaus, in Berlin nicht mal jeder dritte Befragte. Auf die Frage, warum sie in den vergangenen zwölf Monaten in einer Kirche waren, antworteten 39 Prozent, sie seien auf einer Hochzeit, Taufe oder Beerdigung eingeladen gewesen.

Etwa ein Drittel (34 Prozent) aller Befragten nahm an einem Gottesdienst teil, 31 Prozent waren zu Weihnachten in der Kirche. Auch um zu beten (26 Prozent), eine Kerze anzuzünden (23 Prozent), zur Besichtigung (22 Prozent) oder um sich still hinzusetzen (21 Prozent) fanden Menschen den Weg in ein Gotteshaus. Lediglich 13 Prozent gaben an, für ein Konzert eine Kirche besucht zu haben.

Für die Erhebung befragte das Kantar-Emnid-Institut im Auftrag von "chrismon" 1.009 Menschen in Deutschland. Mehrfachnennungen waren möglich. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren in Privathaushalten.




Gesellschaft

Seehofer will "Feinde des Rechtsstaats" aus dem Verkehr ziehen


Rechte Demo in Berlin (Archivbild)
epd-bild/Christian Ditsch
Nach dem Mord an Walter Lübcke will Innenminister Seehofer auch mit Verboten gegen Rechtsextremisten vorgehen. Mehr als die Hälfte von ihnen stuft der Verfassungsschutz als gewaltbereit ein. Es gebe eine "hohe Gefährdungslage".

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) lässt nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ein Verbot rechtsextremistischer Gruppierungen prüfen. Der "politische Mord" an Lübcke sei eine Zäsur, ein Alarmsignal, weil er sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richte, sagte Seehofer am 27. Juni bei der Vorstellung des Jahresberichtes des Bundesamts für Verfassungsschutz in Berlin. Er werde daher alle Optionen prüfen lassen, um dem Rechtsstaat "mehr Biss" zu verleihen. Dazu gehöre auch eine Stärkung des Verfassungsschutzes. Im Herbst werde er eine Debatte in der großen Koalition über ein solches Gesetz anstoßen.

Feinde des Rechtsstaats müssten aus dem Verkehr gezogen werden, "gerade wenn sie so brandgefährlich sind", sagte der Innenminister. Welche Gruppierungen er für ein Verbot im Auge hat, sagte Seehofer nicht. Der Verfassungsschutz stuft derzeit 24.100 Personen in Deutschland als rechtsextremistisch ein, davon seien 12.700 gewaltbereit. "Ein neuer Höchststand" bei einer seit 2014 steigenden Zahl. Der Minister sprach von einer "hohen Gefährdungslage". Die Zahlen "in Verbindung mit der hohen Waffenaffinität" dieser Szene seien besorgniserregend.

Mehr rechte Gewalt

Die rechtsextremistisch motivierte Gewalt hat dem Verfassungsschutz zufolge im vergangenen Jahr leicht zugenommen. Demnach gab es 1.088 Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund. 2017 waren es noch 1.054. Dabei stieg die Zahl der versuchten Tötungsdelikte von vier auf sechs.

Als "geistige Brandstifter" bezeichnete Seehofer derweil die Mitglieder der "Identitären Bewegung Deutschland" (IBD). Diese seien nicht minder gefährlich als gewaltbereite Rechtsextremisten: "Sie sind jung, modern und geben sich als die Hüter der Verfassung aus," sagte er. Große Teile ihrer Ideologie seien aber nichts als Rassismus.

Im Fall Lübcke wird dem Innenminister zufolge der Frage nachgegangen, ob der Tatverdächtige ein Unterstützerumfeld hatte. Die Bundesanwaltschaft beantragte am Donnerstag Haftbefehl wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord gegen zwei deutsche Staatsangehörige: Einem 64-Jährigen wird vorgeworfen, dem mutmaßlichen Mörder Stephan E. die Tatwaffe verkauft zu haben. Ein 43-jähriger Mann soll den Kontakt zwischen den beiden hergestellt haben. Beide sind am Mittwoch festgenommen worden.

Lübcke war Anfang Juni vor seinem Wohnhaus mit einem Kopfschuss getötet worden. Der CDU-Politiker war in rechten Kreisen verhasst, weil er eine humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen befürwortete. Der Tatverdächtige ist laut Verfassungsschutz seit Jahrzehnten in der rechten Szene aktiv.

"Jahrzehntelange Verharmlosung"

Der Bundestag beriet bei einer Aktuellen Stunde über den Fall. Politiker von SPD, Grünen, FDP und Linken wiesen auf mögliche Verbindungen zu den Morden des rechtsradikalen NSU hin. Der frühere SPD-Parteichef Sigmar Gabriel, forderte, die Akten aus dem NSU-Verfahren müssten ausgewertet werden, statt sie für 40 Jahre unter Verschluss zu stellen. Denn darin seien Hinweise auf Verbindungen in den rechten Netzwerken zu finden.

Der Bundesverband Mobile Beratung, zu dem mehr als 40 Beratungsteams gegen Rechtsextremismus gehören, forderte mehr Unterstützung für diejenigen, die vor Ort gegen rechte Bedrohungen ankämpften. Existierende Beratungsstrukturen müssten besser ausgestattet werden, um zu gewährleisten, dass Menschen weiterhin angstfrei Position beziehen könnten, erklärte Sprecherin Bianca Klose.

Die gemeinnützige Amadeu Antonio Stiftung kritisierte, die rechtsextremen Strukturen und Netzwerke seien Ergebnis jahrzehntelanger Verharmlosung. Der Verfassungsschutz habe seine Glaubwürdigkeit verspielt. Die Vorsitzende Anetta Kahane forderte, statt mehr Mittel zum Rechtsextremismus bei dieser Behörde einzusetzen, brauche es dringend mehr Gelder für Demokratieprojekte und Opferberatungen.



Tausende Menschen demonstrieren in Kassel gegen Hass und Hetze


Kasseler demonstrieren gegen Rechtsextremismus.
epd-bild/Andreas Fischer
Die Kirchen seien bereit, sich mit allen demokratischen Kräften zu verbünden, die sich für den Rechtsstaat und das freiheitliche Gemeinwesen einsetzten, sagte Bischof Martin Hein auf der Kundgebung zum Gedenken an den ermordeten Regierungspräsidenten Lübcke.

Rund 8.000 Menschen haben nach Polizeiangaben am 27. Juni vor dem Regierungspräsidium Kassel an einer Kundgebung gegen Rechtsextremismus teilgenommen. Der Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Martin Hein, rief dazu auf, gegenüber rechtsradikaler Intoleranz keine Toleranz mehr zu zeigen. Anlass für die von der Stadt und zahlreichen anderen Organisationen und Institutionen organisierte Kundgebung war die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke in der Nacht zum 2. Juni durch einen Rechtsextremisten.

Die Kirchen seien bereit, sich mit allen demokratischen Kräften zu verbünden, die sich für den Rechtsstaat und das freiheitliche Gemeinwesen einsetzten, sagte Bischof Hein. Dem Treiben der rechtsradikalen Szene in Kassel sei viel zu lange zugeschaut worden. Es sei erschreckend, dass 13 Jahre nach dem Mord an Halit Yozgat durch den NSU nun erneut ein politischer Mord in Kassel stattgefunden habe.

Der gewaltsame Tod von Walter Lübcke aber habe die Stadtgesellschaft aufgerüttelt, geeint Widerstand gegen alle Formen rechtsradikaler Gewalt zu zeigen. "Die Würde des Menschen zu schützen ist unser aller Aufgabe! Wer sie missachtet - sei es gewaltsam oder mit Worten -, stellt sich außerhalb unseres demokratischen Gemeinwesens. Da gibt es kein Wenn und Aber!", betonte Hein.

"Kultur der Wertschätzung"

Der katholische Fuldaer Bischof Michael Gerber rief angesichts der Hasstiraden in den sozialen Netzwerken vor und nach dem Tod Lübckes zu einer "Kultur der Wertschätzung" auf. Walter Lübcke sei für eine solche Kultur des aufrichtigen Respekts und der unbedingten Achtung voreinander ein bleibendes Vorbild, sagte er.

Zuvor hatte Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) angesichts der vielen Teilnehmer von einem beeindruckenden Signal aus Kassel gesprochen. "Wir sind nicht der braune Sumpf der Nation", erklärte er. Der Mord an Lübcke habe ihn traurig, sprachlos und wütend gemacht.

Die hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) rief die Anwesenden dazu auf, dem Hass und der rechten Hetze im Netz persönlich entgegenzutreten. "Denn aus Worten können Taten werden", mahnte sie. Walter Lübcke sei mutig für die demokratische Grundordnung eingetreten.

Hassmails verlesen

Der Intendant des Kasseler Staatstheaters, Thomas Bockelmann, las aus anonymen Hassmails, die den Tod Lübckes betrafen, Passagen vor. "Das sind Zitate von Menschen, die sich in der Anonymität des Netzes einmal mächtig fühlen wollen." Es sei sehr wahrscheinlich, dass Walter Lübcke ohne diese rechte Hetze noch leben würde, folgerte er.

Während der Veranstaltung wurde von den Anwesenden unter anderem auch das Lied "Imagine" von John Lennon gemeinsam gesungen. Am Ende der Veranstaltung, die unter dem Motto "Zusammen sind wir stark" stand, ließen Mitarbeiter des Regierungspräsidiums 99 bunte Luftballons zum Gedenken an Lübcke in den Himmel steigen.



"Revolution Chemnitz": Bundesanwaltschaft erhebt Anklage

Die Bundesanwaltschaft hat gegen acht mutmaßliche Mitglieder der rechtsextremen Gruppe "Revolution Chemnitz" Anklage erhoben. Den Männern im Alter von 21 bis 31 Jahren werde vorgeworfen, eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben, teilte der Generalbundesanwalt am 28. Juni in Karlsruhe mit. Den Ermittlern zufolge habe die Gruppierung den gewaltsamen Sturz der Regierung angestrebt. Dabei sei der 31-jährige Christian K. Rädelsführer gewesen.

Er habe die zentrale Führungsposition eingenommen, die Ausrichtung der Gruppe bestimmt und Planungen koordiniert, hieß es. Die Anklage wurde den Angaben zufolge am 18. Juni vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden erhoben. Bereits am Dienstag hatten NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" darüber berichtet.

Die Angeschuldigten gehören der Anklage zufolge der Hooligan-, Skinhead- und Neonazi-Szene im Raum Chemnitz an und verstanden sich als führende Personen in der rechtsextremen Szene Sachsens. Spätestens am 10. September 2018 hätten sie sich zur Gruppierung "Revolution Chemnitz" zusammengeschlossen. Zuvor hatte es nach dem gewaltsamen Tod eines Chemnitzers Ende August am Rande des Stadtfestes Unruhen in der Stadt gegeben.

"Probelauf" für Tag der Deutschen Einheit

Die Angeschuldigten hätten auf der Grundlage ihrer rechtsextremen und bisweilen offen nationalsozialistischen Gesinnung ein "revolutionäres", auf die Überwindung des demokratischen Rechtsstaates gerichtetes Ziel verfolgt, hieß es weiter. Zu diesem Zweck beabsichtigten sie der Bundesanwaltschaft zufolge gewalttätige Angriffe und bewaffnete Anschläge auf ausländische Mitbürger und politisch Andersdenkende. Zu ihren erklärten Gegnern hätten zudem Politiker und Angehörige des sogenannten gesellschaftlichen Establishments gehört.

Die rechtsextreme "Revolution" und "Systemwende" sollte der Anklage zufolge mit einem symbolträchtigen Geschehen am Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2018 eingeleitet werden. Dafür führten die Angeschuldigten der Bundesanwaltschaft zufolge am 14. September 2018 auf der Schlossteichinsel in Chemnitz einen "Probelauf" durch.

Sämtliche Angeschuldigten befinden sich in Haft. Christian K. war bereits am 14. September festgenommen worden, die übrigen Angeschuldigten am 1. Oktober auf Veranlassung der Bundesanwaltschaft.



Flüchtlingsbürgen auch von Forderungen der Sozialämter entlastet

Bürgen für Flüchtlinge aus Syrien können aufatmen. Auch die kommunalen Sozialämter sollen auf ihre Forderungen verzichten. Das hat das Bundessozialministerium nun klargestellt.

Menschen, die für syrische Flüchtlinge gebürgt haben, werden nun auch von kommunalen Sozialämtern in der Regel nicht mehr zur Kasse gebeten. Das geht aus einem Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales an die Sozialministerien der Bundesländer hervor, das dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. Im März hatte die Bundesagentur für Arbeit die Jobcenter angewiesen, von Forderungen abzusehen. Für die kommunalen Sozialämter stand eine Lösung bislang noch aus. Flüchtlingsinitiativen und Kirchengemeinden begrüßten die Entscheidung.

Es sei davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Bürgen sich bei der Abgabe ihrer Kostenübernahmeerklärung über deren Tragweite nicht bewusst gewesen sei, sagte ein Sprecher des Bundessozialministeriums. Die bisher bestehende Rechtsunsicherheit sei nun beseitigt. Die dem Bundessozialministerium unterstehende Bundesagentur für Arbeit hatte im März durch eine Weisung an die Jobcenter Flüchtlingsbürgen entlastet, die sich Rückforderungen von an syrische Bürgerkriegsflüchtlinge gezahlter Arbeitslosenhilfe gegenübersahen.

Von Erstattungsforderungen freigestellt

Laut dem Brief des Bundessozialministeriums sind die im Blick auf die Forderungen der Jobcenter an Flüchtlingsbürgen getroffenen Anordnungen auf die Sozialämter "inhaltlich übertragbar". Demnach sind Verpflichtungsgeber aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen und Rheinland-Pfalz durchweg von Erstattungsforderungen der Sozialämter über Hilfe zur Grundsicherung im Alter freigestellt.

Von der Zahlungspflicht ausgenommen werden außerdem Bürgen, die ihre Erklärung auf einem bundeseinheitlich verwendeten Formular abgegeben hatten, das eine Haftung "bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck" vorsah. Gleiches gilt, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Bürgschaft "finanziell nicht ausreichend leistungsfähig" waren. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bürgen sei durch die Behörden "nicht durchgängig und ausreichend" geprüft worden, sagte der Sprecher.

Ein Bündnis aus Initiativen und evangelischer Kirche in Minden äußerte sich erleichtert, dass nun in der Regel alle Flüchtlingsbürgen entlastet würden: "Für das bürgerschaftliche Engagement und den sozialen Zusammenhalt fatale Fehlentscheidungen können auch wieder korrigiert werden", erklärten Vertreter des Welthauses Minden, des Kirchenkreises und des Vereins Minden für Demokratie und Vielfalt.

21 Millionen Euro

Mit seinem Brief reagierte das Ministerium nach eigenen Angaben auf Anfragen der Bundesländer Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt. Das Schreiben, das auf den 13. Juni datiert ist, betrifft alle Verpflichtungserklärungen, die vor dem Inkrafttreten des Integrationsgesetzes am 6. August 2016 im Zusammenhang mit Landesaufnahmeprogrammen abgegeben wurden. Bei der Überprüfung der Erstattungsforderungen sollen die Sozialämter in der Regel nach Aktenlage entscheiden. Bürgen, die bereits gezahlt haben, müssen dafür allerdings einen Antrag stellen.

Seit 2017 hatten Jobcenter und Sozialämter Rechnungen an Einzelpersonen, Initiativen und Kirchengemeinden verschickt, die sich von 2013 bis 2015 zur Übernahme des Unterhalts für syrische Flüchtlinge verpflichtet hatten. Die Bürgen waren davon ausgegangen, nur so lange für die Syrer aufkommen zu müssen, bis die Asylverfahren positiv beschieden sind. Diese Auffassung vertraten damals unter anderem die Länder NRW, Hessen und Niedersachsen, während der Bund von einer Fortgeltung der Haftung ausging. Mit dem Integrationsgesetz setzte der Bund seine Position durch.

Laut einer Statistik der Bundesregierung betrugen allein die Forderungen der von Bundesagentur und Kommunen zusammen getragenen Jobcenter an Flüchtlingsbürgen mindestens 21 Millionen Euro.



Andere Welten

Einmal im Jahr treffen sich Experten und Engagierte aus der Flüchtlingshilfe zu einem Symposium in Berlin. Erstmals war in diesem Jahr Bamf-Chef Sommer für eine Diskussion zu Gast. Das Gespräch war kontrovers, Sommer will trotzdem wiederkommen.

Dem Präsidenten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf), Hans-Eckhard Sommer, geht der Ruf eines Hardliners voraus. Das weiß er selbst und sagte das auch gleich zu Beginn seiner Rede beim Flüchtlingsschutzsymposium am 25. Juni in Berlin. Er bestehe darauf, Recht einzuhalten, sagte er. Wenn ihn das zum Hardliner mache, widerspreche er dem Ausdruck nicht. Flüchtlingsschutz sei wichtiger denn je, sagte Sommer mit Verweis auf die aktuellen UN-Zahlen, wonach mehr als 70 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind. Es sei aber nicht jeder ein Flüchtling, "der illegal die Grenzen unseres Landes überquert", schickte er hinterher. Der Ton war gesetzt.

Erstmals traf Sommer, der als Bamf-Präsident nun rund ein Jahr im Amt ist, in dieser Breite auf die Aktiven und Experten aus der Flüchtlingshilfe von Kirchen und Nichtregierungsorganisationen. Sie hatten in den vergangenen Monaten viel Kritik an der Asylpolitik von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und auch am Bamf geübt. Die Verschärfung der Asylgesetze, finden sie, schlägt sich auch in den Verfahren nieder. Die Kirchen merken es nicht zuletzt am Kirchenasyl. Nachdem die Innenminister von Bund und Ländern im vergangenen Jahr die Regeln verschärft hatten, gibt es vom Bamf kaum noch nachträgliche Anerkennungen für die Menschen, die von Gemeinden als Härtefälle angesehen wurden.

Kein Applaus

Bis Ende April wurde in diesem Jahr nur in zwei Fällen dem Ersuchen der Gemeinden stattgegeben, 145 weitere Anträge wurden abgelehnt, wie Mitte Juni eine Anfrage der Linken an die Bundesregierung ergab. Den Vorwurf, das Bamf höhle das Kirchenasyl aus, will sich Sommer dennoch nicht gefallen lassen. Den Rückgang der Anerkennungen begründet er damit, dass die Dublin-Verfahren in seiner Behörde deutlich besser geworden seien. Früher habe es Härtefälle gegeben, die seinem Amt "durch die Lappen" gegangen seien. "Heute erkennen wir die Härtefälle selbst", sagte Sommer: "Ich kann hier beim besten Willen keine Unmenschlichkeit erkennen."

In den Reihen des Publikums entsteht ungläubiges Murmeln. Einmal im Jahr, dieses Jahr zum 19. Mal, treffen sich hier Haupt- und Ehrenamtler der Flüchtlingshilfe von Kirchen, Diakonie und Caritas, Organisationen wie Pro Asyl und Amnesty International. Es ist ein Publikum, bei dem Sommer für seine strikte Auslegung des Asylrechts kaum Applaus erwarten kann. Er bekommt auch keinen.

Protest aus dem Publikum

An einigen Stellen sind es Buh-Rufe, die das angespannte Zuhören in der Friedrichstadtkirche auf dem Gendarmenmarkt unterbrechen. Protest gibt es etwa, als Sommer sagt, nur 36,2 Prozent aller Asylverfahren endeten mit der Anerkennung eines Schutzgrundes - gehört doch zur vollständigen Darstellung immerhin, dass es auch nur in etwa einem Drittel Ablehnungen gibt und bei einem weiteren Drittel - den Dublin-Fällen - keine Schutzüberprüfung, sondern nur das Bemühen um die Überstellung in einen anderen EU-Staat erfolgt.

Vehementen Protest gibt es für die Aussage Sommers, mit dem Anstieg der Antragszahlen von Nigerianern mache sich die Polizei auch Sorgen über "damit importierte Kriminalität". "Das finde ich eine unglaublich rassistische Aussage", hält eine Teilnehmerin Sommer entgegen. Sie macht auch deutlich, dass sie bei den Schutzquoten die Dinge völlig anders sieht. In ihren Augen habe jeder einen Schutzgrund und sei es aus humanitären Gründen, sagt sie.

Bei dieser sehr grundsätzlichen Kritik wird letztlich auch Sommer grundsätzlich: "Da leben wir in anderen Welten", sagte der Behördenchef. Trotzdem versprach er am Anfang seiner Rede, im nächsten Jahr wiederzukommen.

Von Corinna Buschow (epd)


Bundesrat billigt Migrationspaket der Koalition

Der Bundesrat hat dem Migrationspaket grünes Licht gegeben. Es sieht Öffnungen für ausländische Fachkräfte und Verschärfungen vor allem für abgelehnte Asylbewerber vor. "Herz und Härte" würden Gesetz, sagte der baden-württembergische Innenminister.

Mehr Fachkräfteeinwanderung, mehr Abschiebung: Das Migrationspaket der großen Koalition kann inkraft treten. Der Bundesrat billigte am 28. Juni in Berlin die Großvorhaben von Union und SPD, darunter das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und die Verschärfungen im Asylrecht, die für höhere Abschiebezahlen sorgen sollen. Es hatte zuvor viel Rumoren aus den Ländern gegeben. Am Ende wurde aber keinem der sieben Gesetze die Zustimmung verweigert oder der Vermittlungsausschuss angerufen.

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll ermöglichen, dass mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland nach Deutschland kommen können. Bislang ist das auf Akademiker und Mangelberufe beschränkt. Außerdem soll gut integrierten Flüchtlingen ermöglicht werden, durch Arbeit ein langfristiges Bleiberecht zu bekommen. Für diese sogenannte Beschäftigungsduldung hatten die Länder großzügigere Regelungen angemahnt, weil sie befürchten, dass für viele Betroffenen die Hürden zu hoch sind. Der Bundesrat hat am Freitag nochmals eine entsprechende Entschließung verabschiedet, das Gesetz aber nicht aufgehalten.

Abschieberegeln verschärft

Das sogenannte Geordnete-Rückkehr-Gesetz verschärft die Regeln zur Abschiebung, unter anderem durch die Ausweitung der Abschiebehaft und die Einführung eines neuen Duldungsstatus für Menschen mit ungeklärter Identität. Die Regelungen sollen dafür sorgen, dass künftig weniger Abschiebungen scheitern. Die Verschärfungen hatten zuvor vor allem für Kritik im Rechtsausschuss der Länderkammer gesorgt. Die erforderliche Mehrheit, um das Gesetz aufzuhalten, kam im Plenum aber nicht zustande.

Ebenfalls passierte auch die lange zwischen Bund und Ländern umstrittene Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes die Länderkammer. Damit werden die Sachleistungen für Asylbewerber zwar teilweise erhöht. Die Geldleistungen werden aber gekürzt, so dass für viele Gruppen unter dem Strich eine Kürzung der Leistungen steht. Die monatlichen Zuwendungen für alleinstehende Asylbewerber betragen künftig 344 Euro, zehn Euro weniger als aktuell. Für Kinder im Schulalter steigen die Leistungen im Zuge der geplanten Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes. Eine früher von der Koalition geplante drastischere Kürzung scheiterte 2016 im Bundesrat.

Zum Gesamtpaket gehört auch die Entfristung des Integrationsgesetzes, mit der die Wohnsitzauflage für Flüchtlinge dauerhaft verlängert wird. Auch die Erweiterung für den Zugang zu Sprachkursen wurde vom Bundesrat gebilligt.

Linke und Grüne dagegen

Vertreter von Union und SPD verteidigten das Migrationspaket, dessen Verschärfungen für Asylbewerber bei Nichtregierungsorganisationen für scharfen Protest gesorgt hatten. Menschen ohne Bleiberecht müssten auch in ihre Heimatländer zurückgeführt werden, sagte der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD). Das sei "eine Frage der Glaubwürdigkeit". Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) sagte: "Herz und Härte - beides wird heute Gesetz." Vertreter von Linken und Grünen kritisierten die Verschärfungen. Sie hatten angekündigt, gegen das Gesetz zu stimmen.

Keinen Einspruch erhob der Bundesrat auch gegen das Gesetz, mit dem Terrorkämpfern mit doppelter Staatsbürgerschaft der deutsche Pass entzogen werden kann, die Frist zur Rücknahme der deutschen Staatsbürgerschaft verlängert und die Vergabe des Passes an die Einordnung "in die deutschen Lebensverhältnisse" geknüpft wird. Das Gesetz war erst am Donnerstagabend vom Bundestag verabschiedet und besonders kurzfristig auf die Tagesordnung der Länderkammer gesetzt worden.



Pro-Asyl-Menschenrechtspreis für Rechtsanwalt Peter Fahlbusch

Der Menschenrechtspreis der Stiftung Pro Asyl geht in diesem Jahr an den Rechtsanwalt Peter Fahlbusch aus Hannover. Damit werde sein "Einsatz gegen rechtswidrige Abschiebungshaft" gewürdigt, teilte die Stiftung am 28. Juni in Frankfurt am Main mit. Die Auszeichnung wird am 31. August in Frankfurt verliehen. Sie ist mit einem Preisgeld von 5.000 Euro und der von dem Darmstädter Kunstprofessor Ariel Auslender gestalteten "Pro Asyl-Hand" verbunden.

Peter Fahlbusch habe seit 2001 bundesweit mehr als 1.800 Menschen in Abschiebungshaft vertreten, würdigte die Stiftung. Rund die Hälfte von ihnen sei zu Unrecht inhaftiert gewesen, im Durchschnitt jede Person knapp vier Wochen lang. Zudem habe er das wegweisende Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 17. Juli 2014 zur Abschiebungshaft erstritten, wonach abgelehnte Asylbewerber nicht in einem normalen Gefängnis untergebracht werden dürfen.

"Es wird künftig noch mehr auf Juristen wie Peter Fahlbusch ankommen, um Menschen aus rechtswidriger Haft zu befreien", sagt Günter Burkhardt, Vorstand der Stiftung Pro Asyl und Geschäftsführer der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. "Freiheitsentziehung darf nicht willkürlich und uferlos erfolgen."



Nordrhein-Westfalen regelt islamischen Religionsunterricht neu

Nordrhein-Westfalen regelt den islamischen Religionsunterricht neu und bindet weitere Vertreter der Muslime ein. Ab August sollen mehr Islamverbände als bisher auf die Inhalte Einfluss nehmen können. Das sieht eine Novelle des Schulgesetzes vor, die der Landtag am 26. Juni in Düsseldorf mit den Stimmen der Regierungsfraktionen von CDU und FDP sowie der Opposition von SPD und Grünen verabschiedete. Die AfD stimmte dagegen.

Nach der Novelle soll nun mit einzelnen Islamverbänden ein öffentlich-rechtlicher Vertrag geschlossen werden. Auf dieser Grundlage entsendet jede Einzelorganisation einen Vertreter in eine Kommission, die mit Mehrheit über Unterrichtsinhalte und Lehrerauswahl befindet. Bislang war dafür ein Beirat zuständig, der vom Schulministerium berufen wurde. Dieses Modell läuft aber zum 31. Juli aus.

Übergangslösung

In dem Beirat waren nur vier Organisationen vertreten: der Islamrat (IR), der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), der Zentralrat der Muslime (ZMD) und der deutsch-türkische Moscheeverband Ditib, dessen Mitgliedschaft aber wegen Kritik an seiner Nähe zum türkischen Staat zuletzt ruhte. In das neue Gremium entsendet die Landesregierung zudem keine eigenen Vertreter mehr.

Die Novelle ist eine Übergangslösung, die bis 2025 gelten soll. Hintergrund ist eine ausstehende juristische Entscheidung um die Frage, ob die Islamverbände beim Religionsunterricht vergleichbare Rechte erhalten sollen wie die katholische und die evangelische Kirche und als Religionsgemeinschaft staatlich anerkannt werden. Eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster, das die Islamverbände solche Rechte nicht haben, hatte das Bundesverwaltungsgericht aufgehoben und zur Prüfung an das OVG zurückverwiesen.

Die Novelle schreibt nun fest, dass das Schulministerium übergangsweise mit islamischen Organisationen zusammenarbeiten kann, die "auf absehbare Zeit" als "Ansprechpartner" zur Verfügung stehen - vorausgesetzt, dass sie die im Grundgesetz festgeschriebenen Prinzipien wie Demokratie und Rechtsstaat achten.



Regierung verschärft Richtlinien zum Export von Kleinwaffen

Die Bundesregierung will den Export von Kleinwaffen weiter einschränken und hat dafür seit 20 Jahren geltende Richtlinien verschärft. Das Kabinett beschloss nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums am 26. Juni in Berlin, dass der Export von Kleinwaffen in sogenannte Drittländer grundsätzlich nicht mehr genehmigt werden soll. Bei Drittstaaten handelt es sich um Länder außerhalb von Nato und Europäischer Union (EU) mit Ausnahme der gleichgestellten Länder wie beispielsweise die Schweiz.

Die Lieferung von Kleinwaffen ist besonders umstritten, da diese insbesondere in bürgerkriegsähnlichen Konflikten eingesetzt werden. In dem Segment belief sich der Gesamtwert der Genehmigungen im vergangenen Jahr laut Rüstungsexportbericht 2018 auf knapp 39 Millionen Euro, der Anteil des Wertes bei Genehmigungen an Drittländer lag hierbei bei rund einem Prozent. Unter anderem wurden Teile für Maschinengewehre an die Vereinigten Arabischen Emirate geliefert. Menschenrechtsgruppen kritisieren solche Rüstungslieferungen wegen der Beteiligung des Golfstaates am Krieg im Jemen.

Im Zweifel Ablehnung

Die Bundesregierung betont in ihrem aktuellen Beschluss aber gleichzeitig auch die politische Unterstützung für Rüstungskooperationen auf europäischer Ebene und die Stärkung der "europäischen verteidigungsindustriellen Basis". Dieses Bekenntnis zu den gemeinsamen Projekten fließt den Angaben nach auch in die Abwägungen bei Rüstungsexportentscheidungen ein. Im vergangenen Jahr hatte zum Beispiel der deutsche Exportstopp nach Saudi-Arabien wegen gemeinsamer Rüstungsprojekte für Unmut in Frankreich und Großbritannien gesorgt.

Neben den strikteren Regeln für Kleinwaffen sollen auch bei den Ausfuhrgenehmigungen für Technologie geprüft werden, "ob hierdurch der Aufbau von ausländischer Rüstungsproduktion ermöglicht wird", die nicht im Einklang mit der restriktiven Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung stehe. Außerdem sollen der Endverbleib der Rüstungsgüter konsequenter überprüft werden und bei Zweifeln Ausfuhranträge abgelehnt werden.



Kabinett billigt Modernisierung des Entschädigungsrechts

Die klassische Kriegsopferfürsorge und das bisherige Opferentschädigungsgesetz werden durch das soziale Entschädigungsrecht abgelöst. Es sieht schnelle und gezielte Hilfen für Gewalt- und Terroropfer sowie höhere Leistungen vor.

Opfern von Gewalttaten soll in Zukunft schneller und besser geholfen werden. Das Bundeskabinett billigte am 26. Juni eine Modernisierung des Entschädigungsrechts. Der Gesetzentwurf von Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) sieht höhere Geldleistungen für Hinterbliebene und Geschädigte vor. Der Zugang zu beruflichen Wiedereingliederungsmaßnahmen oder Hilfen im Alltag wird erleichtert. Trauma-Ambulanzen, die sich schnell und gezielt um die Opfer kümmern, sollen künftig flächendeckend zur Verfügung stehen.

Heil erklärte nach dem Kabinettsbeschluss, es sei der Koalition ein wichtiges Anliegen, die soziale Entschädigung so zu verbessern, dass sich die Betroffenen mit ihrem Schicksal nicht mehr alleingelassen fühlten. Mit dem Gesetzentwurf reagiert die Bundesregierung auch auf Kritik am Umgang mit den Opfern und Hinterbliebenen des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz im Dezember 2016 in Berlin.

Ansprüche auch für Opfer psychischer Gewalt

Eine grundlegende Reform des sozialen Entschädigungsrechts steht aber schon seit Jahren auf der politischen Agenda. Das künftige Sozialgesetzbuch XIV löst das bisherige Opferentschädigungsgesetz und das Bundesversorgungsgesetz ab, das für die Versorgung der Kriegsopfer geschaffen worden war. Künftig liegt der Fokus neben der Versorgung dauerhaft geschädigter Menschen auf schnellen Hilfen und Unterstützung bei der Überwindung der Tatfolgen.

In den zuständigen Ämtern soll es Fallmanager geben, die Terror- oder Gewaltopfern helfen, Anträge zu stellen. Auch erlittene psychische Gewalt wie Stalking oder passive Gewalt wie die Vernachlässigung eines Kindes können künftig zu Entschädigungsansprüchen führen. Die Zahlbeträge, die sich nach dem Grad der Schädigung richten, werden deutlich erhöht, zum Teil mehr als verdoppelt. Auch die Entschädigungszahlungen für Witwen, Witwer und Waisen steigen. Ob ein Opfer Deutscher ist oder nicht, spielt künftig keine Rolle mehr.

Hohe Hürden für Betroffene sexueller Gewalt

Auch sogenannte Schockschadens-Opfer, also Menschen, die beispielsweise einen Terroranschlag miterleben, können Anträge auf Entschädigungsleistungen stellen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie eine persönliche Beziehung zu einem Opfer haben. Die meisten Regelungen werden erst 2024 wirksam. Einige Verbesserungen sollen rückwirkend zum 1. Juli 2018 in Kraft treten, darunter die Gleichbehandlung der Opfer unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und die Erhöhung der Zahlungen an Waisen.

Opfern sexueller Gewalt soll das modernisierte Entschädigungsrecht ebenfalls zugutekommen. In der Praxis werde es sich aber insbesondere bei Missbrauchsopfern kaum auswirken, bemängelte der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. Er sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), die Hürden seien für Betroffene sexueller Gewalt in vielen Fällen zu hoch. Dann bleibe die Tür zur Entschädigung verschlossen. Für diese Gruppe sei "keine gute Lösung" gefunden worden, bilanzierte Rörig.

Die Grünen begrüßten, dass die Reform schnelle Hilfen, ein Fallmanagement und Hilfen für die Opfer psychischer Gewalt vorsehe. Neues dürfe aber nicht auf Kosten der klassischen Versorgung von Gewaltopfern gehen, mahnten die Sprecher für Sozial- und Rechtspolitik, Sven Lehmann und Katja Keul. Der Bundestag muss das Gesetz noch beraten. Auch der Bundesrat muss zustimmen.



BUND zählt mehr Mitglieder als SPD und CDU

Monatelange Dürre, ausgetrocknete Flüsse, verdorrte Ernten: Das Hitzejahr 2018 hat dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) eine Rekordmitgliederzahl beschert. Das Thema Klimaschutz sei in der Bevölkerung angekommen, heißt es.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hat erstmals in der Verbandsgeschichte mehr als 600.000 regelmäßige Spender. Davon seien mehr als 440.000 Mitglieder, ein Plus von knapp 28.000 gegenüber dem Vorjahr. "Das ist der höchste Mitgliederstand seit unserer Gründung vor 44 Jahren", sagte der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger bei der Vorstellung des Jahresberichtes 2018 am 25. Juni in Berlin. Damit seien 2018 mehr Menschen im BUND Mitglied gewesen als in der SPD oder der CDU.

Bundesweit verfügt der Verband über rund 2.000 Ortsgruppen. Für seine Arbeit standen ihm im vergangenen Jahr rund 32,2 Millionen Euro zur Verfügung, ein Zuwachs von 2,2 Millionen Euro. 76 Prozent der Einnahmen waren den Angaben zufolge Mitgliedsbeiträge und Spenden.

"Klimawendejahr 2018"

Insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern sei der Umweltverband mit rund 20 Prozent mehr Mitgliedern "außerordentlich stark" gewachsen, sagte Weiger. Der BUND-Vorsitzende spricht von einem "Klimawendejahr 2018", durch das die Klima- und Umweltbewegung einen "großen Sympathieschub in weiten Teilen der Bevölkerung" bekommen habe.

Monatelang kein Regen, ausgetrocknete Flüsse und eine verdorrte Ernte hätten bei vielen Menschen ein "zunehmendes Erschrecken" über den Klimawandel ausgelöst. Das gebe der naturschutz- und umweltpolitischen Arbeit des Verbandes "erheblichen Rückenwind", sagte Weiger. Umso bedauerlicher sei es, dass sich alle weitreichenden politischen Entscheidungen für mehr Klimaschutz wie etwa eine reformierte Agrarpolitik durch die Blockade der Bauernverbände weiterhin in der Warteschleife befänden.

Die Landwirtschaft sei "Verursacher und Hauptbetroffener" des Klimawandels zugleich, sagte Weiger. Die Subventionsmechanismen der EU-Agrarpolitik seien "bauernfeindlich" und hätten eine "weltweit verheerende Wirkung". Trotzdem beharre Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) auf dem Konservieren des Vorhandenen, kritisierte Weiger. Dazu kämen "intransparente Lobbystrukturen" in Berlin und Brüssel.

Präsenz in Brüssel

Weiger kündigte an, dass der BUND seine Präsenz in Brüssel ausbauen will. Zudem hoffe er, dass der "Druck von unten weiter wächst", sagte der BUND-Vorsitzende: "Wir setzen dabei auf die Bevölkerung."

Gemeinsam mit dem Deutschen Kulturrat veranstaltet der Umweltverband ab September vier Konferenzen zum Thema "Heimat und Nachhaltigkeit". Auftakt ist in Leipzig, weitere Veranstaltungen sind unter anderem in Heidelberg und im bayerischen Wunsiedel geplant. Die Konferenzen sollen zeigen, dass die aktuelle Debatte über den Begriff "Heimat" keine rückwärtsgewandte Diskussion sei, sondern sich um die Zukunftsfrage drehe, in was für einem Land wir leben wollen, sagte Weiger.

Nach Angaben des BUND-Vorsitzenden sahen sich in den vergangenen Jahren besonders die ostdeutschen Landesverbände wiederholt mit Vereinnahmungsversuchen von rechten Öko-Anhängern konfrontiert. Deshalb seien in der Satzung des Verbandes fremdenfeindliche und rassistische Positionen explizit ausgeschlossen worden. So habe es beispielsweise immer wieder Anfragen für Veranstaltungen gegeben, hinter denen rechtspopulistische Gentechnik-Gegner stehen, sagte BUND-Geschäftsführer Olaf Bandt: "Da müssen wir wachsam sein." Auch eine Zusammenarbeit mit der AfD werde es nicht geben. Ausschlussverfahren für Verbandsmitglieder seien aber noch nicht notwendig gewesen.



Studie: Nur noch wenige Familien haben drei und mehr Kinder

Kinderreichtum ist in Deutschland selten geworden. Lediglich etwa 16 Prozent der Frauen hierzulande bringen drei oder mehr Kinder zur Welt, wie aus einer am 26. Juni in Berlin vorgestellten Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung hervorgeht. Zu Beginn der 1970er Jahre lag der Anteil noch bei etwa 30 Prozent. Insgesamt leben in Deutschland rund sieben Millionen Menschen in einem Haushalt mit drei oder mehr Kindern. Das entspricht rund 1,4 Millionen Familien. Mehrkindfamilien stießen häufig auf Vorbehalte in der Gesellschaft, heißt es in der Untersuchung der Wiesbadener Forschungseinrichtung weiter.

Die Mehrheit der kinderreichen Frauen hat laut Erhebung drei Kinder, nur vier Prozent haben vier oder mehr Kinder. Der Rückgang von Familien mit drei oder mehr Kindern sei - mehr noch als die Kinderlosigkeit vieler Paare - "der maßgebliche demografische Treiber" für den Geburtenrückgang in Deutschland und des niedrigen Niveaus der Geburtenrate, hieß es.

"Asozial"

Bei der Verbreitung kinderreicher Familien gibt es der Studie zufolge erhebliche regionale Unterschiede. So sei der Anteil kinderreicher Familien in ländlichen Gegenden höher als in Großstädten und in Westdeutschland höher als im Osten. Den niedrigen Anteil an kinderreichen Familien im Osten Deutschlands erklären die Bevölkerungsforscher vor allem historisch: Die Anforderungen an die Erwerbstätigkeit von Frauen in der ehemaligen DDR senkte deren Bereitschaft, mehr als zwei Kinder zu bekommen. Der niedrige Anteil von Frauen mit Migrationshintergrund sei eine weitere Ursache.

Jeder Zehnte ist der Ansicht, Kinderreiche seien "asozial", wie es in der Studie hieß. 80 Prozent glauben, dass Kinderreiche von der Gesellschaft als "asozial" angesehen werden.



Moraltheologe: Fleischeslust im männlichen Rollenbild angelegt

Aus Sicht des Moraltheologen Michael Rosenberger müssen Rollenbilder aufgebrochen werden, um Männern Fleischverzicht schmackhaft zu machen. Allein mit moralischen Appellen seien Menschen nicht dazu zu bringen, weniger Fleisch zu essen, sagte Rosenberger der Zeitschrift "zeitzeichen" (Juli-Ausgabe). In Deutschland wie in den meisten Industrieländern äßen Männer doppelt so viel Fleisch wie Frauen.

Rosenberger hält es für ethisch geboten, den Konsum von Fleisch drastisch zu reduzieren, um unter anderem Tiere verantwortlich halten zu können, die Gesundheit der Menschen zu schützen und den Effekt der Tierhaltung auf den Treibhauseffekt zu begrenzen. Dazu sei es aber notwendig, Verhaltensmuster zu ändern, die schon in der Kindheit eingeübt würden. "Der kleine Bub bekommt die größere Fleischportion als das kleine Mädchen und wird auch mehr ermutigt, diese große Fleischportion zu essen", sagte der Professor von der Katholischen Privat-Universität Linz.

"Kann ein starker Mann vegetarisch leben?"

Rosenberger sagte: "Wir müssen Rollenbilder hinterfragen: Kann ein starker, gestandener Mann vegetarisch oder fleischarm leben?" Eine Umfrage habe gezeigt, dass es selbstbewussten Männern wesentlich leichter falle, auf Fleisch zu verzichten als denen, die sich minderwertig fühlen. "Sie wollen wie die germanischen Götter beweisen, dass sie stark und mächtig sind, indem sie beim Fleischverzehr ganz vorne dabei sind", sagte er.




Soziales

Bundestag debattiert über "Systemwechsel" in der Organspende


Kühlbox mit Spenderorganen (Archivbild)
epd-bild / Annette Zoepf
Der Bundestag berät erneut über die Frage, wie in Deutschland die Zahl der Organspender gesteigert werden kann. Am 26. Juni lieferten sich Befürworter und Gegner der Widerspruchsregelung eine kontroverse Debatte über Fraktionsgrenzen hinweg.

Ist Organspender, wer zustimmt - oder der, der nicht widerspricht: Der Bundestag steht vor einer schwierigen Grundsatzfrage. Seit Jahren geht die Zahl der Organspender in Deutschland zurück, vor allem seit den Manipulationsskandalen in einzelnen Kliniken. Für einige Abgeordnete ist das Anlass, über den Grundsatz der Organspende in Deutschland nachzudenken. Bislang ist jeder Organspender, der einen entsprechenden Ausweis ausgefüllt, sich also ausdrücklich dafür entschieden hat. Zwei Vorschläge für Gesetzesänderungen sollen die Bürger - in jeweils unterschiedlichem Maß - stärker in die Pflicht nehmen. Am 26. Juni debattierte das Parlament in Berlin in erster Lesung über die Entwürfe.

Erster Redner war der CSU-Politiker Georg Nüßlein, der den Vorschlag der Gruppe um Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und den SPD-Politiker Karl Lauterbach unterstützt. Sie wollen die Einführung der sogenannten Widerspruchsregelung, nach der jeder zum Organspender wird, der dem zu Lebzeiten nicht widersprochen hat. Dieser Widerspruch, den auch noch die Angehörigen einlegen können, wenn ihnen der Wille des Verstorbenen bekannt ist, soll in einem Register hinterlegt werden.

"Zeit läuft davon"

Wenn eine Mehrheit der Deutschen bereit sei, ein Organ anzunehmen, müsse auch die Mehrheit bereit sein, zu spenden, sagte Nüßlein. Es gebe nichts Christlicheres, als im Tod einem Menschen das Leben zu retten, sagte er. Zentrales Argument der Befürworter der Widerspruchsregelung war im Bundestag die in ihren Augen drängende Zeit.

"Den Leuten auf der Warteliste läuft die Zeit davon", sagte die SPD-Politikerin Sabine Dittmar. 9.000 Menschen warten in Deutschland auf ein lebensrettendes Organ. Wenn man nichts Grundlegendes ändere, werde man in zwei, drei Jahren die gleiche Diskussion wieder führen müssen. Gesundheitsminister Spahn, der sich auf der Rednerliste der mehr als zweistündigen Debatte weit hinten als Abgeordneter einreihte, sagte: "Der Weg hat bis hierhin nichts gebracht."

Die Unterstützer des zweiten Entwurfs sehen das anders. Eine Gruppe um die Parteivorsitzenden Annalena Baerbock (Grüne) und Katja Kipping (Linke) will daran festhalten, dass die Entscheidung zur Organspende freiwillig bleibt, sie aber in Richtung einer Zustimmungslösung erweitern. In regelmäßigen Abständen sollen die Bürger auf dem Amt, beim Erste-Hilfe-Kurs und beim Hausarzt über Organspende aufgeklärt und darum gebeten werden, eine Entscheidung in einem Online-Register zu hinterlegen, wie die SPD-Abgeordnete Hilde Mattheis erläuterte. Die Aufforderung zur Entscheidung wäre damit verbindlicher als jetzt, aber keine Pflicht.

"Selbstbestimmungsrecht ein hohes Gut"

Das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung sei ein hohes Gut, sagte Mattheis. Damit argumentierten auch andere Unterstützer des Baerbock-Vorschlags. Die Initiatorin selbst warnte davor, mit den Beratungen zu suggerieren, es könne jedem geholfen werden, der ein Spenderorgan braucht. Voraussetzung für eine Organspende in Deutschland sei der Hirntod, sagte Baerbock. 2018 seien 1.416 Menschen in Deutschland am Hirntod gestorben, während 9.000 auf ein Organ warteten, sagte Baerbock. Diese Diskrepanz werde man auch mit einer Neuregelung nicht ändern.

Hinter beiden Entwürfen stehen Unterstützer aus unterschiedlichen Parteien. Abgestimmt wird voraussichtlich im Herbst ohne Fraktionszwang. Allerdings hat die AfD kurz vor der ersten Beratung einen weiteren Antrag als Fraktion ins Parlament eingebracht. Sie will an der bisherigen Regelung festhalten, schlägt aber kleinere Änderungen im Transplantationsgesetz vor.

Hinter welchem der beiden Gesetzentwürfe sich am Ende mehr Unterstützer versammeln, ist bislang nicht absehbar. In der ersten Beratung war die Redezeit gleichmäßig unter den jeweiligen Befürwortern verteilt.

Von Corinna Buschow (epd)


Deutscher Ethikrat warnt vor einer allgemeinen Impfpflicht


Impfung (Archivbild)
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Der Ethikrat mischt sich in die Debatte über eine Impfpflicht in Deutschland ein und lehnt eine Verpflichtung zur Masern-Schutzimpfung klar ab. Sie könne sogar das Gegenteil bewirken und die Impfquote verringern, warnen die Wissenschaftler.

Der Deutsche Ethikrat lehnt eine allgemeine Impfpflicht ab, fordert aber ein Maßnahmenbündel zur Erhöhung der Impfquoten. Das Wissenschaftler-Gremium stellte am 27. Juni in Berlin seine einvernehmlich beschlossene Stellungnahme "Impfen als Pflicht?" vor. Der Vorsitzende Peter Dabrock warnte, eine Impfpflicht berge den Erkenntnissen des Gremiums zufolge sogar die Gefahr, die Ablehnung in der Bevölkerung zu steigern und das Gegenteil zu bewirken: "Das Ziel mit der Brechstange erreichen zu wollen, wird nicht wirksam sein", sagte Dabrock.

Eine Impfpflicht empfiehlt der Ethikrat allein für das Personal im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen, weil für Ärzte, Lehrer und Pflegekräfte die Ansteckungsgefahr höher ist. Diese müsse konsequent durchgesetzt werden, auch mit einem Beschäftigungsverbot.

Gegen Bußgelder

Insbesondere für Klein- und Schulkinder lasse sich eine Impfpflicht hingegen nicht rechtfertigen, weil in dieser Gruppe die Impfquoten am höchsten seien, argumentiert der Ethikrat. Damit widerspricht er der Linie von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Spahn will eine Verpflichtung zur Masern-Schutzimpfung für Kita- und Schulkinder durchsetzen. Ungeimpfte Kleinkinder sollen keine Kita besuchen dürfen, Eltern von Schulkindern sollen Bußgelder bis 2.500 Euro zahlen.

Der Ethikrat meint hingegen, Ausschlüsse aus Bildungs- und Erziehungseinrichtungen sollten nur in Ausnahmefällen möglich sein. Bußgelder lehnt das Gremium ab. Es empfiehlt stattdessen Kontrollen des Impfstatus' der Kinder, die gezielte Ansprache der Eltern und Impftage in Kitas und Schulen. Das Gremium plädiert auch für eine Gesetzesänderung: Eltern sollten mit der Anmeldung zur Kita nicht mehr nur nachweisen müssen, dass sie sich zu Impfungen haben beraten lassen, sondern den tatsächlichen Impfschutz ihres Kindes dokumentieren.

Gesundheitsminister Spahn ging auf die Warnung vor einer Impfpflicht nicht ein, erklärte aber, die Stellungnahme helfe in der Debatte. Anders als der Ethikrat halte er es für notwendig, die moralische Verpflichtung zur Impfung gegen Masern "verbindlicher zu gestalten". Sein Ziel sei, so Spahn, "dass zumindest Kinder und deren Betreuer sowie medizinisches Personal geimpft werden".

Höhere Impfquote

Anlass der Impfpflicht-Debatte waren eine Masernausbruch an einer Schule im niedersächsischen Hildesheim und Warnungen der Weltgesundheitsorganisation, die zunehmende Impfmüdigkeit gehöre zu den großen Gesundheitsrisiken. Ebenfalls am 27. Juni veröffentlichten die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und die Akademie der Wissenschaften in Hamburg ein Diskussionspapier, in dem sie einen leichteren Zugang zu Schutzimpfungen fordern. Die dafür erforderlichen Änderungen könnten unabhängig von der derzeit diskutierten Impfpflicht umgesetzt werden, erklären die Autoren.

Völlig einig sind sich die Wissenschaftler in dem Ziel, die Impfquoten zu erhöhen. Der Ethikrat sieht eine moralische Verpflichtung, sich selbst und die eigenen Kinder gegen Masern impfen zu lassen. Die Impfung sei "keine reine Privatangelegenheit", heißt es in seiner Stellungnahme. Masern seien eine gefährliche Infektionskrankheit, die sich mit einer nebenwirkungsarmen Impfung vermeiden lasse. Jeder sei daher mitverantwortlich für die Menschen, die sich nicht impfen lassen können, bei denen die Krankheit aber unter Umständen einen besonders schweren Verlauf nehme. Um einen Gemeinschaftsschutz zu erreichen, müssen 95 Prozent der Bevölkerung immunisiert sein.

In Deutschland haben 97 Prozent der Kinder die erste und 93 Prozent auch die zweite Impfung gegen Masern. Große Lücken gibt es aber bei den Erwachsenen. Um sie zu schließen, raten die Wissenschaftler dringend zu gezielten Aufklärungs- und Impfkampagnen. Die Politik solle sich auf diese Gruppe konzentrieren, nicht auf die kleine Gruppe der Impfgegner, erklärte der Leiter der Arbeitsgruppe für die Impf-Stellungnahme, der Humangenetiker Wolfram Henn. Nur zwei Prozent der Erwachsenen seien erklärte Impfgegner und mit Argumenten nicht zu erreichen. Für Ärzte, die Fehlinformationen über die angeblichen Gefahren von Impfungen verbreiten, fordert der Ethikrat berufsrechtliche Sanktionen.



Ethikrat zu Pflege-Robotern: Mensch muss im Mittelpunkt stehen


"Robbie" kann Memory spielen, tanzen und an Termine erinnern. Der humanoide Roboter soll in Altenheimen zum Einsatz kommen (Archivbild 2018).
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Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, hat dazu aufgerufen, die Sorgen der Menschen vor dem Einsatz von Robotern in der Pflege ernst zu nehmen. Die zentrale ethische Frage sei, ob die Zukunft mit Maschinen menschenfreundlich gestaltet werden könne, sagte Dabrock am 26. Juni bei der Jahrestagung des Ethikrats in Berlin. Nur dann könne Vertrauen in neue Technologien wachsen. Der Mensch müsse weiterhin im Mittelpunkt stehen, forderte Dabrock.

Der Ethikrat beschäftigt sich auf seiner diesjährigen Tagung mit den ethischen Herausforderungen der Technisierung der Pflege, insbesondere dem Einsatz von Robotern. Dabrock sagte, es gehe um die Frage, ob und wie die beiden gesellschaftlichen Megatrends, die Alterung der Gesellschaft und die Digitalisierung, zusammenkommen könnten. Im Jahr 2050 werde es fast zwei Millionen mehr Pflegebedürftige geben als heute. Die Frage sei, ob Roboter einen Beitrag zu guter Pflege leisten könnten.

Sorge in Bevölkerung

Die Mehrheit der Bevölkerung befürchte, dass Zuwendung und Nähe verloren gingen und sich die soziale Spaltung der Gesellschaft durch Pflegeroboter verstärke. Nur Wohlhabende könnten sich menschliche Zuwendung künftig noch leisten, sei die überwiegende Sorge, sagte Dabrock.

An der Jahrestagung des Ethikrats nahmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Medizin, der Informatik, Psychologie, Rechtswissenschaft und Anthropologie teil. Der Münchner Informatiker und Experte für Künstliche Intelligenz, Sami Haddadin, sagte, es sei erst seit wenigen Jahren möglich, dass Mensch und Maschine wirklich interagieren könnten. Voraussetzung dafür sei die Entwicklung der Motorik bei den Robotern und deren Lernfähigkeit. Haddadin stellte Projekte vor, die testen, wie alten Menschen durch die Assistenz von Robotern länger ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden kann.

Die Informatikerin Elisabeth André von der Universität Augsburg erklärte, sozial agierende Roboter in der Pflege könnten als Zuhörer, Gedächtnistrainer, Sprachmittler und in vielen anderen Funktionen eingesetzt werden. Auch Zuwendung sei eine mögliche Funktion. So könnten sie etwa zur Stimmungsaufhellung beitragen.



Zehntausende demonstrieren für sozialen und ökologischen Wandel

"Digitalisierung und Klimaschutz krempeln alles um", hieß es im Aufruf. Mehr als 50.000 Menschen kamen zum Aktionstag in Berlin, um Antworten einzufordern auf die Frage: Schaffen wir die digitale und ökologische Wende oder fahren wir vor die Wand?

Klimaprotest vor der Vertretung der Europäischen Kommission, eine Pappmauer-Aktion gegen unterschiedliche Arbeitsbedingungen in Ost und West, Reden, Transparente, Luftballons und Musik: In Berlin haben am 29. Juni mehrere zehntausend Menschen für eine soziale und ökologische Umgestaltung von Industrie und Arbeitswelt demonstriert. An dem Aktionstag der Gewerkschaft IG Metall unter dem Motto "#FairWandel" beteiligten sich auch der Sozialverband Diakonie Deutschland der evangelischen Kirche, der Umweltverband Nabu und der Sozialverband VdK.

Die Pariser Klimaschutzziele seien nicht verhandelbar, betonte der Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann: "Wir wollen unseren Planeten unseren Kindern in einem lebenswerten Zustand überlassen." Industrie und Beschäftigte müssten deshalb nun den Beweis antreten, dass Ökologie und gute Arbeit kein Widerspruch seien. "Fairer Wandel verträgt keine Ausgrenzung, keine Diskriminierung", betonte der Gewerkschafter: "Und daher sagen wir auch hier deutlich: Keinen Platz für rechte Hetzer, Rassisten und Faschisten!"

Rede des Diakoniepräsidenten

Diakoniepräsident Ulrich Lilie rief dazu auf, technischen Fortschritt und gesellschaftliche Veränderungen sozial gerecht und ökologisch zu gestalten. Dafür müssten auch "Allianzen für Menschlichkeit vor Ort" gebildet werden. Die Zukunft dürfe nicht "den Rattenfängern und Menschenfeinden und auch nicht den furchtbaren Vereinfachern überlassen" werden, betonte der evangelische Theologe. Für neue Fragen, wie sie Digitalisierung, Klimawandel, globale Machtverschiebungen, Migration und demografische Entwicklung mit sich brächten, müssten neue Antworten gefunden werden. Ziel müsse sein, das Land zu "fairwandeln", damit Deutschland gerecht und lebenswert, ökologisch und demokratisch für Alte und Junge bleibe.

"Die Arbeitszeitmauer muss weg" hieß es bei einer Jugenddemonstration am Aktionstag, bei der eine symbolische Mauer aus Pappkartons durchbrochen werden sollte. Vor der Vertretung der EU-Kommission am Brandenburger Tor stieg Qualm aus einem selbstgebastelten "Hochofen" auf. Mit der Aktion für eine umweltfreundliche Zukunft wurde eine Anpassung der weltweiten Kohlendioxidemissionen an europäische und deutsche Standards gefordert. Mit einem symbolischen Hürdenlauf vor der Humboldt-Universität protestierten junge Leute gegen Schwierigkeiten beim dualen Studium mit betrieblicher Ausbildung.

"Wir sind der Wandel, auf den wir gewartet haben", hieß es auf einem Transparent. Mit mehreren Sonderzügen und 800 Bussen sind nach Gewerkschaftsangaben Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet nach Berlin gereist, um sich an dem Aktionstag zu beteiligen. Rund 45.000 Teilnehmer waren laut Polizei für die Kundgebung am Brandenburger Tor angekündigt. Die IG Metall sprach am Samstagnachmittag von mehr als 50.000 Menschen.

Deutschland brauche "endlich massive Investitionen" in die Energie- und Mobilitätswende, in Zukunftsprodukte, Stromnetze und den öffentlichen Nahverkehr, hieß es im Aufruf zu dem Aktionstag. Soziales und Ökologie dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Der digitale und ökologische Wandel müsse den Beschäftigten Chancen auf gute Arbeit geben, forderte Hofmann: "Die Transformation muss sozial, ökologisch und demokratisch gestaltet werden."



Kreditgeschäft der Bank für Kirche und Diakonie stark gewachsen

Die Bank für Kirche und Diakonie (KD-Bank) hat ihr Kreditgeschäft deutlich ausgebaut. Im Geschäftsjahr 2018 wurden über 363 Millionen Euro an neuen Krediten zugesagt, wie der Vorstandsvorsitzende Ekkehard Thiesler am 25. Juni auf der Generalversammlung der evangelischen Kirchenbank in Dortmund mitteilte. Das ist ein Plus von gut 45 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Insgesamt legten die Kredite um 4,4 Prozent auf 1,78 Milliarden Euro zu.

Die neuen Kredite wurden überwiegend für die Finanzierung kirchlicher und diakonischer Projekte wie Alten- und Behinderteneinrichtungen, Krankenhäuser, Kindergärten sowie für den privaten Wohnungsbau bereitgestellt. Es habe sich gelohnt, aktiv in Kundenberatung und Kreditprozesse zu investieren, sagte Thiesler vor rund 250 Mitgliedern der Bank. Für 2019 rechnet der Vorstandschef angesichts notwendiger Investitionen im Krankenhaus- und Pflegesektor sowie niedriger Zinsen mit einem weiteren Anstieg.

Bilanzsumme leicht rückläufig

Die Bilanzsumme ging 2018 minimal um 0,3 Prozent auf 5,64 Milliarden Euro zurück. Für das laufende Jahr rechnet der Vorstand trotz des anhaltenden Niedrigzinsumfelds mit leicht steigenden Kundeneinlagen und einer nahezu konstanten Bilanzsumme. Der Jahresüberschuss betrug 8,9 Millionen Euro - 2017 waren es acht Millionen Euro. Die Mitglieder der Genossenschaftsbank werden daran wie im Vorjahr mit vier Prozent Dividende beteiligt.

Die Kundeneinlagen der KD-Bank gingen im vergangenen Jahr um 2,7 Prozent auf 4,8 Milliarden Euro zurück, zusammen mit den Wertpapieranlagen der Kunden ergibt sich aber insgesamt ein Anstieg um 0,8 Prozent auf 8,2 Milliarden Euro. Grund für diese Entwicklung sei die verstärkte Nachfrage nach Wertpapieren und Investmentfonds, heißt es im Bericht des Vorstands. Für 2019 werde mit einem Zuwachs insbesondere bei den Wertpapieren, aber auch bei Bankeinlagen kalkuliert.

Die KD-Bank gehört zu den 20 größten deutschen Genossenschaftsbanken. Mitglieder sind über 4.200 kirchliche und diakonische Institutionen. Die Bank betreut rund 7.000 Einrichtungen in Kirche und Diakonie sowie mehr als 30.000 Privatkunden.




Medien & Kultur

Rebellische Rentner


Bronzeskulptur der Bremer Stadtmusikanten von Gerhard Marcks (1953) neben dem Rathaus der Hansestadt
epd-bild/Dieter Sell
Herkunft, Einsamkeit, Arbeitslosigkeit - es kann im Leben viele Hürden geben. Aber keine ist so hoch, dass sie nicht mit Mut und Solidarität zu überwinden wäre: Dafür steht das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, das 1819 veröffentlicht wurde.

Manche streicheln die Bronzefigur, andere berühren Beine und Schnauze des Esels eher flüchtig: Menschen aus aller Welt versammeln sich tagtäglich an der Skulptur der Stadtmusikanten, die etwas versteckt an der westlichen Seite des Bremer Rathauses steht. Vorderbeine und Schnauze des Esels sind längst blank gerieben, denn sie zu umfassen soll Glück bringen. So lässt sich vielleicht eine Brücke schlagen zu dem, wofür die Tiere aus dem weltbekannten Märchen der Brüder Grimm stehen.

In Solidarität etwas Großes schaffen, das drückt der wohl berühmteste Satz aus dem Märchen aus: "Zieh lieber mit uns fort nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall." Seit der ersten Veröffentlichung der "Bremer Stadtmusikanten" in der zweiten Auflage der "Kinder- und Hausmärchen" von Jacob und Wilhelm Grimm 1819 sind am 3. Juli 200 Jahre vergangen. Das würdigt Bremen mit einem "Stadtmusikantensommer". Die zentrale Festwoche startet am kommenden Mittwoch (3. Juli) - natürlich mit viel Musik.

Nie in Bremen angekommen

Dass es so weit kommen konnte, ist durchaus bemerkenswert. Denn die vier Märchenfiguren sind ja bekanntlich nie in der Hansestadt angekommen, sondern haben unterwegs eine Räuberbande aus deren Haus vertrieben und sind dort geblieben.

Trotzdem sind die Bremer heute stolz auf das Quartett. Die Bronzeskulptur neben dem Rathaus wurde vom Bildhauer Gerhard Marcks (1889-1981) geschaffen und 1953 zunächst als Leihgabe aufgestellt, später dann mit Spenden und einem Darlehen gekauft.

"Die Brüder Grimm haben sich intensiv mit Tierepen befasst", sagt der Kasseler Germanist und Grimm-Experte Holger Ehrhardt. Die Geschichte von den Stadtmusikanten sei ihnen "aus dem Paderbörnischen" von der Familie der Freiherren von Haxthausen zugetragen worden. Dabei sei es Jacob und Wilhelm Grimm vor allem darum gegangen, eine spannende Geschichte in ihre Sammlung aufzunehmen: "Ausgediente alte Figuren, denen Ungerechtigkeit widerfährt, kommen zu neuem Lebensglück."

Das Thema selbst sei uralt, erläutert Bernhard Lauer, Geschäftsführer der Brüder-Grimm-Gesellschaft in Kassel. Wie Menschen handelnde Tiere, die durch Klugheit und Kooperation ihr Ziel erreichten, seien schon in antiken Fabelwerken belegt, etwa im sogenannten "Froschmäusekrieg". Und dass es nach Bremen gehen sollte, ist Lauer zufolge auch kein Zufall: "Bremen war die Stadt hanseatischer Freiheiten, ein Sehnsuchtsort, von dem viele mit großer Hoffnung auf ein besseres Leben in die Neue Welt auswanderten."

Dass sich die Geschichte der rebellischen Rentner bis heute sozialutopisch ausdeuten lässt, betont der Bremer Stadtmusikanten-Experte Dieter Brand-Ruth. Er hat 2017 als Doktorarbeit eine soziokulturelle Studie über die Märchentiere und ihre Symbolik vorgelegt. Ein echter Wälzer, knapp 450 Seiten stark. "Die Tiere lehren uns die Ehrfurcht vor dem Leben und die Notwendigkeit von Bedingungen, die körperliche Unversehrtheit gewährleisten", bilanziert er.

Sympathieträger mit optimistischer Botschaft

Sie zeigten, was wirklich wichtig sei für das Leben, führt der Märchenexperte und Gymnasiallehrer für Deutsch und Biologie aus: "Genügend zu essen, ein trockener Platz zum Schlafen und jemand, der einem Geborgenheit und Schutz gibt." Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse fasst Brand-Ruth in einem neuen und populär geschriebenen Buch zusammen, das zum Start der Festwoche am 3. Juli unter dem Titel "Auf nach Bremen" erscheint.

Das Tierquartett ist ein echter Sympathieträger. Ein Grund für die ungetrübte Strahlkraft liegt wohl darin, dass die Vier eine optimistische Botschaft verbreiten. "Bei den Stadtmusikanten geht es nicht um etwas Altmodisches, sondern um etwas Zeitloses, das für Bremen steht, das wir weitergeben wollen - um Aufbruch, Mut, Teamgeist", sagt Peter Siemering, Geschäftsführer Marketing und Tourismus der Bremer Wirtschaftsförderung.

Längst sind die Esel, Hund, Katze und Hahn zu inoffiziellen Wahrzeichen der Hansestadt avanciert, sind als Souvenirs und auf Postkarten in allen Andenkenläden der Stadt präsent. Sie gehören zur bremischen DNA wie Weser, Dom, Bier, Kaffee und der Hafen.

"De musicis Bremensibus"

Und auch das Märchen selbst hat Furore gemacht. Auf der Webseite der Kasseler Grimm-Welt kann man sich die Erzählung in 13 Sprachen vorlesen lassen - unter anderem in Dari, Paschtu, Tigrinya und Urdu. Und gerade ist unter dem Titel "De musicis Bremensibus" eine Latein-Ausgabe in der eigenwilligen Erzählweise von Janosch im Bremer Temmen-Verlag erschienen.

Symbolisch schließt sich auch mit dem Bremer Solidaritätspreis ein Kreis: Mit der Auszeichnung, die alle zwei Jahre verliehen wird, ehrt der Senat der Hansestadt Menschen, die sich für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte einsetzen und gegen Kolonialismus und Rassismus kämpfen. Neben dem Preisgeld in Höhe von 10.000 Euro wird eine Skulptur des Bremer Künstlers Bernd Altenstein verliehen - sie zeigt die Bremer Stadtmusikanten und steht für die Kraft des solidarischen Handelns. Erste Preisträger waren 1988 Nelson und Winnie Mandela.

Von Dieter Sell (epd)


Landschaften, Gesichter und weibliche Akte


Besucherin im Städel-Museum vor der Holzskulptur "Stehende mit aufgestütztem Kinn" von Erich Heckel (1912)
epd-bild/Thomas Rohnke
Zurück zum Ursprung, zur Quelle: Die deutschen Expressionisten Ernst-Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff verhalfen Anfang des 20. Jahrhunderts dem natürlichen Werkstoff Holz zu neuer Popularität.

Kein Material ist mit der Kunst des deutschen Expressionismus stärker verbunden als Holz. Für die drei Gründungsmitglieder der Künstlervereinigung "Brücke" Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), Erich Heckel (1883-1970) und Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976) begann die Auseinandersetzung mit diesem ältesten Werkstoff der Menschheitsgeschichte mit dem Holzschnitt, einem drucktechnischen Verfahren, bei dem die Darstellung wie ein Relief in eine meist dünne Holzplatte geschnitten wird. Etwa zeitgleich entstanden erste Holzskulpturen, die in ihrer Bearbeitung formal und inhaltlich auf den Holzschnitt zurückwirkten - und umgekehrt.

Mit der Ausstellung "Geheimnis der Materie. Kirchner, Heckel und Schmidt-Rottluff" will das Frankfurter Städel-Museum vom 26. Juni bis zum 13. Oktober den Wechselbeziehungen zwischen den beiden Medien Holzschnitt und Holzskulptur und dem natürlichen Werkstoff Holz nachspüren, wie Direktor Philipp Demandt hervorhebt. Holz schätzten die Künstler vor allem wegen der Unebenheiten und Maserungen, der unterschiedlichen Faserstruktur und Härte.

"Streben nach Unmittelbarkeit"

Zu sehen sind 98 Holzschnitte, zwölf Skulpturen und fünf Druckstöcke. Der Großteil der gezeigten Werke stammt aus eigenem Bestand, der Sammlung Carl Hagemann. Hinzu kommen Leihgaben unter anderem aus dem Brücke-Museum Berlin, dem Stedelijk-Museum in Amsterdam, der Albertina Wien und aus Privatbesitz.

"Die drei Brücke-Vertreter strebten nach künstlerischer Erneuerung, nach mehr Authentizität und Unmittelbarkeit", erläutert die Ausstellungs-Kuratorin Regina Freyberger. Sie hätten gleichsam mit ihrem Rückgriff auf das ursprünglichste aller Materialien gegen die wilhelminische Bürgerlichkeit und den etablierten Kunstbetrieb rebelliert. Dem Holz sei dabei eine "katalytische Rolle" zugekommen, "denn die drei Künstler schufen ihre Holzschnitte ganz bewusst im Dialog mit dem Material und schälten ihre Skulpturen aus zum Teil gefundenen Holzstämmen geradezu heraus."

Der in Aschaffenburg geborene Kirchner testete bei seinen Farbholzschnitten die Grenzen und Möglichkeiten der Technik aus: Er arbeitete mit mehreren, teils zersägten Druckstöcken, variierte die Druckreihenfolge der Farben und benutzte statt der Walze oftmals den Pinsel. Seine Motive fand Kirchner wie auch Heckel und Schmidt-Rottluff in der unmittelbaren Umgebung. Wiederkehrendes Thema war der Mensch, oftmals der weibliche, stehend, sitzend, kniend und in Bewegung. Die Ausstellung zeigt etwa die Arbeit "Badende Frauen" aus dem Jahr 1909, die Skulptur "Mutter und Kind" (1924) und den Holzschnitt-Zyklus "Schlemihl" (1915) nach der Erzählung von Adelbert von Chamisso. Zu sehen ist auch der Holzschnitt "Farbentanz" aus dem Jahr 1933 mit den noch erhaltenen drei Druckstöcken.

Maserung als Stilmittel

Der im sächsischen Döbeln geborene Heckel gilt unter den Brücke-Künstlern als der Lyrische, der In-sich-Gekehrte. Knapp 15 Jahre beschäftigte sich der Autodidakt mit dem Holzschnitt und der Holzbildhauerei. In Frankfurt sind etwa eine ganze Reihe Mädchen- und Frauenakte versammelt sowie die großen Skulpturen "Trägerin" (1907), "Frau mit Tuch" (1912), "Frau" und "Stehende mit aufgestütztem Kinn" (beide 1913), die aus Erlen-, Akazien- und Ahornholz herausgearbeitet sind.

Der bei Chemnitz geborene Schmidt-Rottluff arbeitete im Holzschnitt fast ausschließlich in Schwarz und in großer Flächigkeit. Dafür setzte er die Maserung des Holzes gezielt als eigenes Stilmittel ein, wie das Blatt "Köpfe" (1911) anschaulich macht. Die Druckstöcke bearbeitete er vereinzelt als Reliefs weiter und sägte sie später wie Stempel auf das zu druckende Motiv zu. Anders als Kirchner und Heckel konnte er jedoch der Aktdarstellung nicht viel abgewinnen. Seine Themen sind Landschaften und verfremdete Gesichter und Köpfe aus den Jahren während und nach dem Ersten Weltkrieg, wie das Bildnis seiner Mutter aus dem Jahr 1916.

Von Dieter Schneberger (epd)


Zentralrat weist Vorwurf der Einflussnahme Israels zurück

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat im Zusammenhang mit dem Rücktritt des Direktors des Jüdischen Museum Berlin, Peter Schäfer, den Vorwurf zurückgewiesen, der verlängerte Arm der israelischen Regierung zu sein. Wer dies behaupte, irre, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster der Wochenzeitung "Jüdische Allgemeine" (Online). Er habe zu keinem Zeitpunkt den Rücktritt Schäfers gefordert. Es habe allerdings bereits vor dem vom Zentralrat kritisierten Tweet, der letztlich zum Rücktritt Schäfers führte, Entwicklungen im Jüdischen Museum gegeben, die ihn besorgt hätten, sagte Schuster weiter.

Zugleich warf Schuster dem Museum vor, sich einseitig politisch positioniert zu haben, "wie zum BDS‐Beschluss des Bundestages". Dafür habe er kein Verständnis, sagte der Zentralratspräsident.

Auch der israelische Botschafter in Deutschland, Jeremy Issacharoff, wies Vorwürfe von Einflussnahme der israelischen Regierung zurück. Zuletzt sei der falsche Eindruck erweckt worden, Israel versuche, deutsche kulturelle Institutionen zu zensieren und die künstlerische und intellektuelle Autonomie des Jüdischen Museums Berlin einzuschränken, schrieb Issacharoff in einem Beitrag für den Berliner "Tagesspiegel" (26. Juni).

"Das Maß ist voll"

Der bisherige Museumsdirektor Schäfer war vor zwei Wochen nach harscher Kritik des Zentralrates zurückgetreten. Aktueller Auslöser der Kritik von Zentralratspräsident Schuster am Museum war eine Leseempfehlung der Museums-Pressestelle über Twitter. Darin wurde auf einen Zeitungsartikel über eine Erklärung israelischer und jüdischer Wissenschaftler verwiesen, die einen Beschluss des Bundestages kritisierten, in dem das Parlament die israelkritische BDS-Bewegung als antisemitisch bezeichnet. BDS fordert den Boykott Israels sowie Sanktionen wegen der Besatzungspolitik. Das Jüdische Museum Berlin soll nun bis Frühjahr 2020 eine neue Leitung bekommen.

Schuster hatte am 11. Juni in einer Reaktion auf die per Twitter verbreitete Leseempfehlung selbst in einem Tweet geschrieben, "das Maß ist voll. Das Jüdische Museum Berlin scheint gänzlich außer Kontrolle geraten zu sein." Es dränge sich die Frage auf, ob Direktor Schäfer seiner Aufgabe noch gewachsen sei und wer eigentlich die Leitlinien des Jüdischen Museums vorgebe.

Issacharoff erklärte, "in demokratischen Gesellschaften sind Museen dazu da, Besucher mit kulturellem Wissen auszustatten, und nicht dazu, Menschen politisch zu indoktrinieren". Schuster unterstrich, "was ich als problematisch erachte, ist die politische Haltung, die durch das Jüdische Museum vertreten wurde". Selbstverständlich dürfe und soll ein Museum Ort des Austauschs und der Debatte sein. Weiter betonte er, er habe zu keinem Zeitpunkt Schäfer Antisemitismus vorgeworfen.

"Großer Freund Israels"

Der Präsident des Goethe-Institutes, Klaus-Dieter Lehmann, äußerte Bedauern über den Rücktritt Schäfers. Dieser sei "ein großer Freund Israels", ein "Judaist von internationaler Reputation" und ein profunder Kenner der jüdischen Geschichte. Schäfer habe im Judentum "nicht nur den Geist des Glaubens, sondern auch den der Kritik" gesehen und das Museum "als Ort einer liberalen, manchmal auch kontroversen Diskussion" begriffen. Damit habe Schäfer ein ideales Forum geschaffen, "um über aktuelle Fragen von Religion, Kultur und Politik zu reflektieren". Zuvor hatten sich schon zahlreiche Museumsdirektoren, Wissenschaftler und Kulturschaffende aus Israel, Europa und den USA mit Schäfer solidarisiert.



Türkisches Verfassungsgericht: Inhaftierung Yücels war rechtswidrig


Deniz Yücel nach seiner Freilassung im März 2018
epd-bild/Christian Ditsch

Die Inhaftierung von Deniz Yücel war rechtswidrig. Zu diesem Schluss kommt das türkische Verfassungsgericht in Ankara in einer am Freitag im Amtsblatt der Regierung veröffentlichten Entscheidung. Die rechtswidrige Untersuchungshaft habe Yücels Recht auf persönliche Sicherheit, Freiheit und Meinungsfreiheit verletzt, heißt es in dem auf den 28. Mai datierten Urteil. Das Gericht sprach dem früheren Türkei-Korrespondenten der "Welt" außerdem einen Schadensersatz von 25.000 Türkischen Lira (umgerechnet rund 3.800 Euro) zu.

Einen Verstoß gegen das Folterverbot, den Yücel vor dem Verfassungsgericht ebenfalls geltend gemacht hatte, erkannten die Richter jedoch nicht an. "Leider kommt dieses Urteil sehr spät; es hätte ganz andere Folgen haben können, wenn sich das Verfassungsgericht mit unserer Beschwerde befasst hätte, als mein Mandant noch in Haft war", sagte Yücels Anwalt Veysel Ok der "Welt". Das Gericht habe nun bestätigt, dass sich Yücel "nichts außer Journalismus" zuschulden kommen lassen habe, erklärte Ok.

Tritte, Schläge, Drohungen

Yücel saß ab Februar 2017 knapp ein Jahr lang ohne Anklageschrift in türkischer Untersuchungshaft, davon neun Monate in strenger Einzelhaft. Nachdem die Staatsanwaltschaft schließlich eine Anklage vorgelegt hatte, wurde er aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Silivri bei Istanbul entlassen und verließ die Türkei. Seit Juni 2018 wird ihm in Istanbul in Abwesenheit der Prozess gemacht. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Journalisten Terrorpropaganda und Volksverhetzung vor. In seiner Verteidigungsschrift in dem Verfahren, die Yücel im Mai dem Berliner Amtsgericht Tiergarten vorlegte, berichtete er von wiederholten Tritten, Schlägen und Drohungen in der Haft.

Yücel wird ab Juli erstmals seit seiner Inhaftierung wieder regelmäßig für die "Welt" berichten. Von Dresden aus wird der 45-Jährige die kommenden Landtagswahlen in Ostdeutschland begleiten, wie Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt-Gruppe, am Donnerstag ankündigte.



Hatice Cengiz kämpft für die Aufklärung und gegen ein Gewaltregime


Hatice Cengiz
epd-bild/Marc Engelhardt
Jamal Khashoggi war Opfer eines geplanten Mords: So steht es in dem Bericht, den UN-Sonderberichterstatterin Callamard am 26. Juni im UN-Menschenrechtsrat vorstellte. Khashoggis Verlobte will Aufklärung - und Sanktionen gegen Saudi-Arabien.

Als sie sich an den 2. Oktober 2018 erinnert, stockt Hatice Cengiz erstmals die Stimme. Auf einmal ist ihre feste Miene dahin, sie scheint Tränen zurückzuhalten. Es ist der Morgen, an dem sie ihren Verlobten Jamal Khashoggi zum letzten Mal gesehen hat: "Wir haben über die geplante Hochzeit gesprochen, über unsere Pläne - und wer hätte sich ausmalen können, wie das Ende aussieht."

Khashoggi kehrte nie zurück. 17 lange Tage hoffte Cengiz, dass der Journalist, der die Regierung in Saudi-Arabien so oft kritisiert hatte, doch noch lebt. Dann gab die Regierung in Riad zu, er sei im Konsulat in Istanbul getötet worden. Er war wegen Papieren für die Hochzeit dorthin gekommen.

Die UN-Sonderberichterstatterin Agnès Callamard geht nach einer monatelangen Untersuchung davon aus, dass es sich um einen geplanten Mord gehandelt hat. Sie macht Saudi-Arabien als Staat dafür verantwortlich und sieht belastbare Beweise dafür, dass hochrangige Vertreter des Königreichs und auch der mächtige Kronprinz Mohammed bin Salman in den Mord verwickelt waren. Saudi-Arabien weist das zurück. Ihren seit einer Woche schriftlich vorliegenden Bericht stellte Callamard am 26. Juni im UN-Menschenrechtsrat vor.

Angstzustände

Cengiz ist nach Genf gekommen, um Callamard zu unterstützen. Und um ihre Forderung an die Vereinten Nationen zu bekräftigen, eine unabhängige Untersuchung einzuleiten. Callamards Bericht hält Cengiz für absolut glaubwürdig. "Ich fordere alle Staaten auf, Sanktionen gegen Saudi-Arabien zu verhängen", sagte sie - um Druck aufzubauen und die Aufklärung voranzutreiben.

In der kommenden Woche ist es neun Monate her, dass ihr Verlobter ermordet wurde. Sie leide bis heute unter Angstzuständen. Und doch ist klar: Sie will kämpfen. "Ich habe keinen exakten Plan, sondern werde spontan entscheiden, was ich tue." Etwa, ob sie nach Brüssel oder Berlin reist, um für Druck auf Riad zu werben. In Washington war sie bereits. Der Kongress habe ihr Hilfe zugesagt, und das sei besonders wichtig, da Khashoggi zuletzt im US-Exil gelebt hatte.

Ihr Gegner ist mächtig, das weiß Cengiz. Saudi-Arabien sitzt nicht nur im Menschenrechtsrat, der als erstes über den Callamard-Bericht befinden muss. Das Königreich übernimmt bald die Präsidentschaft der G20 - obwohl nach Angaben von Amnesty International noch mindestens 30 Journalisten in saudischen Gefängnissen sitzen. "Das saudische Regime hat schon viele Kritiker ermordet, Jamal ist nur einer davon", betont Cengiz. Sie kämpft gegen das saudische Narrativ, es habe sich um einen bedauerlichen Einzelfall gehandelt.

Cengiz ist nicht alleine nach Genf gekommen. Da ist etwa die Südafrikanerin Yumna Desai, die in Saudi-Arabien Englisch unterrichtete. Bis sie 2015 verhaftet und für drei Jahre ins berüchtigte Hochsicherheitsgefängnis von Dhahban gesteckt wurde. Warum, das weiß sie bis heute nicht. "95 Prozent derjenigen, die ich in Dhaban getroffen habe, hatten nichts getan", sagt die Frau im Niqab. "Es sind einfache Leute, über ihre Fälle berichtet niemand, sie werden einfach verhaftet." Vielleicht haben sie etwas Falsches gesagt, vielleicht wurden sie denunziert. Vielleicht diente ihre Festnahme nur der Abschreckung. Niemand weiß es.

Blut an den Wänden

Huda Mohammad ging es ganz ähnlich. Sie berichtet, wie sie von zwei Wärterinnen in ihre Einzelzelle geschleift wurde, an deren Wänden Blut klebte: "Das Schreien der Gefangenen, Tag und Nacht, das höre ich heute noch."

Cengiz hofft, dass Khashoggis Tod den Blick auf die Opfer eines brutalen Gewaltregimes lenkt. Womöglich ist es die Angst vor diesem Regime, die Khashoggis Familie zum Schweigen zwingt. Das deutet Cengiz nur an, denn für andere will sie nicht sprechen. Hat die saudische Regierung Geld angeboten gegen Schweigen? Ihr nicht, sagt sie. Überhaupt hätten saudische Stellen sie bis heute nicht kontaktiert.

Irgendwann will Cengiz ein Buch über Khashoggi schreiben. Aber im Moment sei sie noch zu sehr mit der juristischen und politischen Aufarbeitung beschäftigt. Wie die nach diesem Mittwoch vorankommt, ist ungewiss. UN-Generalsekretär António Guterres ließ seinen Sprecher verkünden, er sehe sich nicht befugt, die geforderte Untersuchung ohne Auftrag eines Mitgliedsstaats oder eines UN-Gremiums einzuleiten. Womöglich wird es der oft als zahnlos geschmähte Menschenrechtsrat sein, der diesen Auftrag erteilt. Hatice Cengiz jedenfalls hofft darauf.

Von Marc Engelhardt (epd)


Sechs Journalisten mit Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet

Sechs Journalisten sind am 26. Juni mit dem Theodor-Wolff-Preis der deutschen Zeitungen ausgezeichnet worden. In der Kategorie "Meinung überregional" ging der Preis an Daniel Schulz von der "tageszeitung" (taz), wie der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) in Berlin mitteilte. Schulz' Stück "Wir waren Brüder" über seine Jugend in Ostdeutschland und rechte Strukturen in der Gesellschaft sei ein "relevanter, tiefgründig archäologischer Text unserer Zeit", befand die Jury. Der Autor und Biograf Michael Jürgs (74) wurde für sein Lebenswerk geehrt.

Der schwer erkrankte Jürgs konnte den Preis nicht persönlich entgegennehmen. "Die Umschreibung unseres geliebten Berufes als vierte Macht war mir stets zu martialisch", erklärte der frühere Chefredakteur von "Stern" und "Tempo" in seiner von BDZV-Präsident Mathias Döpfner verlesenen Dankesbotschaft: "Jetzt aber, in Zeiten, da Barbaren unsere Zivilgesellschaft attackieren und vor Mord nicht zurückschrecken, ist es der passende Begriff."

Anwalt der Menschen in der Provinz

In der Kategorie "Meinung lokal" ging der Preis an Gregor Peter Schmitz von der "Augsburger Allgemeinen". In seinem Beitrag "Heimat-Schutz" habe sich der Autor zum Anwalt der Menschen in der Provinz gemacht. In der Kategorie "Reportage lokal" zeichnete die Jury Maris Hubschmid aus. Die "Tagesspiegel"-Redakteurin erhielt den Preis für ihre Reportage "Bis zum letzten Tropfen" über ein Heim für alkoholkranke Männer in Berlin.

Marius Buhl vom Magazin der "Süddeutschen Zeitung" wurde in der Kategorie "Reportage überregional" ausgezeichnet. Sein Text "Bis zum Letzten" über die langsamsten Mitläufer eines Marathons habe "die Perspektive genial umgedreht", würdigte die Jury unter Vorsitz des stellvertretenden "Bild"-Chefredakteurs Nikolaus Blome.

Preisträger beim Jury-Thema des Jahres "Welt im Umbruch - Demokratie in Gefahr" ist Andrian Kreye von der "Süddeutschen Zeitung". An seinem Text "Berührungspunkte" gefiel der Jury ein betont unaufgeregter Blick auf das Thema Künstliche Intelligenz.

Disput über "Zeit"-Beitrag

Die Auszeichnungen sind in den Standardkategorien je Preisträger mit 6.000 Euro dotiert. Der Preis wird seit 1962 verliehen und erinnert an Theodor Wolff (1868-1943), den langjährigen Chefredakteur des "Berliner Tageblatts". Wolff musste 1933 vor den Nazis ins französische Exil fliehen, dort wurde er verhaftet und der Gestapo ausgeliefert. 1943 starb er im Jüdischen Krankenhaus in Berlin.

Zu den Nominierten für den diesjährigen Preis hatten ursprünglich auch die beiden "Zeit"-Redakteurinnen Mariam Lau und Caterina Lobenstein gehört. Sie hatten für die Wochenzeitung im Juli 2018 einen umstrittenen Beitrag über das Für und Wider privater Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer verfasst. Lobenstein, die in dem Beitrag die Pro-Position vertreten hatte, wollte für diesen Beitrag jedoch nicht nominiert werden. Der "Zeit-Artikel hatte vor allem wegen der Überschrift "Oder soll man es lassen?" für Empörung gesorgt. Die Chefredaktion der Wochenzeitung hatte im Nachgang Fehler bei der Aufmachung des Artikels eingeräumt.



Filme der Woche

Geheimnis eines Lebens

Im Jahr 1999 wird die Rentnerin Joan Stanley in einer Kleinstadt von Agenten des MI 5 spektakulär verhaftet. Der Vorwurf: Spionage und Hochverrat. In Rückblenden enthüllt der Film des britischen Regisseurs Trevor Nunn die irrwitzige Geschichte. Als Physikerin hatte Stanley im Umfeld des britischen Atombombenprogramms seit den 40er Jahren mitgearbeitet und Informationen an die Sowjetunion weitergeleitet. Aus der Überlegung heraus, gewissermaßen ein Gleichgewicht des Schreckens der Atommächte herstellen zu wollen. Judi Dench brilliert in der Hauptrolle, doch die Erzählweise des Films bleibt leider etwa uninspiriert.

Geheimnis eines Lebens (Großbritannien 2019). R: Trevor Nunn. B: Lindsay Shapero. Mit Judi Dench, Sophie Cookson, Stephen Campbell Moore, Tom Hughes, Tereza Srbova. 102 Min.

Erde

Der Österreicher Nikolaus Geyrhalter gehört zu den wichtigsten Dokumentarfilmern im deutschsprachigen Raum. In seinem neuen Film beobachtet er, wie Menschen an sieben Orten der Welt die Oberfläche unseres Planeten verändern. Etwa im kalifornischen San Fernando Valley, wo Berge umgeformt werden, um mehr Bauland für Häuser zu bekommen. Geyrhalter spricht mit den Arbeitern, er klagt nicht vordergründig an oder sucht Schuldige für die gigantischen Verletzungen der Erde. Die Bewertung überlässt er den Zuschauern.

Erde (Österreich 2019). R u. B: Nikolaus Geyrhalter. 115 Min.

Kroos

Der Fußballer Toni Kroos steht nicht gerade in dem Ruf, ein Glamourathlet zu sein wie, sagen wir mal, Diego Maradona. Aber in seiner großen Zeit bei Real Madrid war er der Mittelfeldregisseur, der den Stars wie Bale oder Ronaldo die Vorlagen für die Tore lieferte. Der Dokumentarfilm von Manfred Oldenburg folgt der Biografie des einzigen deutschen Fußballweltmeisters, der in den neuen Bundesländern geboren wurde. Und mit schillernden Gesprächspartnern und aussagekräftigen Spielbeobachtungen versucht der Film zu ergründen, woher Toni Kroos seine unvergleichliche innere Ruhe bezieht.

Kroos (Deutschland 2019). R: Manfred Oldenburg. 113 Min.

Santa & Andrés

Santa wird im Kuba der frühen 80er Jahre vom Volksrat zu Andrés geschickt, der in einer bescheidenen Hütte abgeschieden lebt. Santa soll verhindern, dass er zu einem Friedensforum kommt, das in der Nähe stattfindet. Andrés ist ein Verbannter, ein Dissident, ein Schriftsteller, vor dem sich die lokalen Parteikader immer noch fürchten. Und er ist schwul, also ein doppelt Verfolgter. Der kubanische Regisseur Carlos Lechuga hat die wachsende Freundschaft zwischen beiden als ein Kammerspiel unter freiem Himmel in Szene gesetzt. "Santa & Andrés" darf in Kuba nicht gezeigt werden.

Santa & Andrés (Kuba 2016). R u. B: Carlos Lechuga. Mit Lola Amores, Eduardo Martinez, George Abreu, Luna Tinoco, Cesar Dominguez. 105 Min.

www.epd-film.de




Entwicklung

Gegen die Armut: Laufschuhe "Made in Kenya"


Die kenianische Juristin Navalayo Osembo und der US-amerikanische Kommunikationsexperte Weldon Kennedy haben den ersten Laufschuh "Made in Kenya" der Marke "Enda" entwickelt.
epd-bild/Bettina Rühl
Aus Kenia kommen Spitzenläufer. Zwei junge Unternehmer möchten, dass dieser Erfolg noch mehr Menschen im Land zugutekommt - und präsentieren den ersten Laufschuh "Made in Kenya".

2018 stellten zwei Kenianer Weltrekorde bei Langstrecken auf. Eliud Kipchoge lief den Marathon in Berlin in 2:01:39 Stunden. Abraham Kiptum brauchte für den Halbmarathon im spanischen Valencia 58:18 Minuten. International erfolgreiche Athleten wie diese beiden trainieren und laufen in Schuhen aus westlicher Produktion, meist aus den USA.

Daniel Simiyu hingegen trägt "Enda", die ersten Laufschuhe "Made in Kenya", ersonnen von der kenianischen Juristin Navalayo Osembo und dem US-Kommunikationsexperten Weldon Kennedy. Der 20-jährige Simiyu trabt darin leichtfüßig über die rotbraune Lehmpiste in der Stadt Iten. Hier im Hochland ist es frisch, was Simiyu recht ist, denn er läuft jede Woche etwa 160 Kilometer. "Ich träume davon, bei internationalen Wettkämpfen für mein Heimatland zu starten", sagt der drahtige junge Mann.

"Im Sport wirklich gut"

Das wird nicht leicht. Im Läuferland Kenia, das zurzeit auch wegen Dopings Schlagzeilen macht, ist die Konkurrenz stark. Dass Simiyu einer der beiden Athleten ist, die "Enda"-Schuhe testen, könnte ihn seinem Ziel näher bringen. Denn sonst sind gute Laufschuhe für ihn, der ganz am Anfang seiner Karriere steht, fast unerschwingliche Luxusgüter. Ein Schuh von "Enda" kostet wie andere hochwertige Laufschuhe rund 100 US-Dollar.

"Enda" bedeutet "Lauf!" in der Landessprache Kisuaheli - der Ruf, mit dem Fans ihre Athleten anfeuern. Osembo und Kennedy haben das Unternehmen 2016 gegründet. Sie habe sich lange gefragt, "wie wir erreichen können, dass Sport den größtmöglichen gesellschaftlichen Einfluss hat", erklärt die 33-jährige Wirtschafsprüferin. "Denn im Sport sind Kenianer wirklich gut." Bei einem Forum für Unternehmensgründer traf sie Kennedy, ein Experten für soziale Kampagnen.

Arbeitsplätze und Chancen schaffen

Die beiden überlegten, wie Kenia auch wirtschaftlich vom Erfolg seiner Läufer profitieren könnte. Sie wollten Arbeitsplätze und Chancen schaffen, damit mehr Menschen etwas aus ihrem Leben und für die Zukunft ihrer Kinder machen könnten, erklärt Osembo.

So entstand die Idee, einen Laufschuh in Kenia zu produzieren. Das Geld für ihr erstes Modell sammelten die jungen Unternehmensgründer durch eine Kampagne auf der Online-Plattform Kickstarter. Sie bekamen fast das Doppelte der Summe, auf die sie gehofft hatten: 140.000 US-Dollar. Ihre Schuhe entwickelten sie zusammen mit Athleten. "Wenn unsere Schuhe bei kenianischen Läufern ankommen sollen, müssen wir sie als Experten fragen", sagt Osembo.

Laufen einzige Hoffnung

Daniel Simiyu testet gerade den Prototyp des zweiten "Enda"-Modells, "Lapatet". Für den jungen Mann ist das Laufen die einzige Hoffnung. Er gehört zum Hirtenvolk der Rendile und verlor seine Eltern 2002 bei einem bewaffneten Raubüberfall, der dem Vieh der Familie galt. Weil Geld immer knapp war, hat Simiyu nur die Grundschule besucht. Derzeit kann er sich nur dank des Großmuts eines Kollegen, der ihn bei sich wohnen und essen lässt, auf den Sport konzentrieren. Auch bei den Startgebühren ist Simiyu auf Sponsoren angewiesen, bisweilen übernimmt "Enda" die Kosten.

Die 28-jährige Joan Cherop Massah, die ebenfalls für Enda testet und startet, kann bereits von ihren Preisgeldern leben. Sie ist schon in Deutschland, Korea, Peru und den USA gelaufen. Auch für sie gab es keine Alternative zum Laufen: Sie ist Angehörige der Pokot, ebenfalls ein Hirtenvolk. "Ich bin kaum in die Schule gegangen, weil mein Vater das nicht wollte", erzählt sie. Ihr Vater sah in seinen Töchtern vor allem den Gegenwert: den Brautpreis, der in Rindern gezahlt wird.

Ziel fest vor Augen

Zwei Mal lief Massah von zu Hause fort: zuerst, um ihrer Beschneidung zu entgehen. Ein zweites Mal und dann endgültig, um nicht schon als Mädchen verheiratet zu werden. Erst vor fünf Jahren kehrte sie für einen Besuch zurück und ließ ihren Eltern ein Haus aus Stein bauen, das sie von Preisgeld bezahlte. "Ich wollte ihnen zeigen, dass auch Mädchen etwas leisten können."

Beide Athleten träumen davon, eines Tages genug Geld zu haben, um anderen helfen zu können: Simiyu möchte ein Waisenhaus gründen, Massah ein Trainingsheim für Sportlerinnen und Sportler. Außerdem möchte sie in ihrer Gesellschaft gegen Beschneidung und gegen Zwangsheiraten werben.

Auch die "Enda"-Gründer haben ihr Ziel fest vor Augen. Zwar werden ihre Schuhe bisher erst zu einem guten Drittel in Kenia produziert, weil Wissen und Produktionskapazitäten noch nicht reichen. "Aber wir sind sicher, dass wir eines Tages zu 100 Prozent 'Made in Kenya' sind", meint Osembo. Das bedeutete noch mehr Arbeitsplätze, und weitere Sponsorenprogramme für Athleten.

Von Bettina Rühl (epd)


Eritrea verteidigt Enteignung katholischer Krankenhäuser

Eritrea hat die Enteignung katholischer Krankenhäuser als rechtmäßig verteidigt. Mit der Beschlagnahme von 40 Hospitälern und Krankenstationen im kirchlichen Besitz setze der Staat ein Gesetz um, das Glaubensgemeinschaften den Betrieb solcher Einrichtungen verbiete, hieß es in einer am 27. Juni verbreiteten Erklärung der eritreischen UN-Botschaft in Genf. Damit solle vermieden werden, dass in dem säkularen Staat Anhänger einer der vier offiziell anerkannten Religionen bevorzugt würden. Kliniken dürften nur vom Staat betrieben werden.

Die eritreische Botschaft reagierte damit auf die jüngste Kritik der für die Menschenrechtslage in Eritrea zuständigen UN-Sonderberichterstatterin Daniela Kravetz, die zur Freiheit von Religion und Kirche in dem Land am Horn von Afrika aufgerufen hatte. Aus Kravetz' Sicht zeigt die Beschlagnahme, dass die Menschenrechtslage in Eritrea trotz des jüngst geschlossenen Friedensvertrags mit Äthiopien unverändert schlecht sei. Sie kritisierte zudem die Festnahme zahlreicher Christen. Seit Anfang Mai seien mehr als 170 von ihnen in Gewahrsam genommen worden, nur weil sie ihrem Glauben nachgingen.

Mandantsverlängerung unklar

Auf diese Vorwürfe ging die Botschaft in ihrem Statement nicht ein, sondern warf Kravetz generell Stimmungsmache vor. In der kommenden Woche diskutiert der UN-Menschenrechtsrat in Genf über ihren Bericht zur Lage der Menschenrechte in Eritrea. Ob das Mandat der Chilenin Kravetz verlängert wird, ist noch unklar. Bisher hat kein Mitgliedsland einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Eritrea gehört dem Rat ebenfalls an, der 47 Mitglieder hat.



Welthungerhilfe: "Wir brauchen endlich Taten"

Die Welthungerhilfe rechnet in Zukunft mit weniger Ernte infolge des Klimawandels. Die Haushaltsmittel für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit dürften deshalb nicht stagnieren oder gar sinken, betont die Organisation.

Die Deutsche Welthungerhilfe hat die internationale Staatengemeinschaft aufgerufen, beim G20-Gipfel in Japan dringend Maßnahmen für eine klimagerechte Politik zu vereinbaren. "Wir brauchen endlich Taten", sagte die Präsidentin der Welthungerhilfe, Marlehn Thieme, am 26. Juni in Berlin bei der Vorstellung des Jahresberichtes 2018. Der Konsum und der Lebensstandard der Industrieländer verursachten ökologische und wirtschaftliche Kosten. Und die Welthungerhilfe spüre "die fatale Verbindung zwischen Klimawandel und Welternährung" zunehmend in ihrer Arbeit, sagte Thieme.

An die Adresse der Bundesregierung richtete Thieme die Forderung, die Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag einzuhalten und die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit im gleichen Verhältnis steigen zu lassen wie die Verteidigungsausgaben. Die Hilfsorganisation verfügte im vergangenen Jahr über rund 213,6 Millionen Euro, knapp 50 Millionen Euro weniger als im Jahr zuvor. Grund seien etwa Verträge mit Projektpartnern wie dem Welternährungsprogramm, die Ende 2018 abgeschlossen wurden und erst in die Bilanz für 2019 einfließen, sagte Generalsekretär Mathias Mogge.

Weniger private Spenden

Fast drei Viertel der Erträge (155,4 Millionen Euro) waren 2018 sogenannte institutionelle Zuschüsse, etwa vom Bundesentwicklungsministerium (38,6 Millionen Euro), dem Auswärtigen Amt (20,3 Millionen Euro) oder dem Welternährungsprogramm (16,9 Millionen Euro). 54,9 Millionen Euro kamen aus privaten Spenden, knapp neun Millionen weniger als im Jahr davor. Zur Begründung hieß es, 2018 habe es keine medial präsenten Katastrophen gegeben, die die Spendenbereitschaft in der Regel mitbeeinflussen.

Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 404 Projekte im Ausland finanziert. Die höchsten Förderungen gingen nach Burundi, Liberia und Syrien/Türkei. Die schlechte Sicherheitslage in vielen Projektländern erschwere den Zugang zu Menschen in Not und stelle die Welthungerhilfe vor große Herausforderungen, sagte Mogge. "Ganze Regionen sind bei Kämpfen von der Außenwelt abgeschnitten und Kriegsparteien verhindern die Einfuhr und den Transport von Hilfsgütern."

Im Mittelpunkt der Arbeit des vergangenen Jahres standen nach Angaben Thiemes die Folgen von Kriegen und Klimawandel. Wegen steigender Temperaturen müsse in den kommenden Jahren mit drastischen Ernterückgängen, der Ausdehnung von Trockengebieten und abnehmenden Fischbeständen gerechnet werden, sagte die Präsidentin der Welthungerhilfe, die auch Vorsitzende des Rates für nachhaltige Entwicklung bei der Bundesregierung ist. So sei die Zahl der Hungernden wieder auf 821 Millionen Menschen weltweit angestiegen.

"Landimportierende Staaten"

Die Folgen des Klimawandels träfen am stärksten die Bevölkerungsgruppen, die am wenigsten dafür verantwortlich sind, sagte Thieme: "Die Ärmsten des Südens tragen die Hauptlast eines Problems, das die reichen Länder des Nordens ausgelöst haben."

Deutschland gehöre aktuell zu den zehn größten "landimportierenden" Staaten: "22 Millionen Hektar Ackerland müssen für unseren Konsum bewirtschaftet werden. Davon werden nur zwölf Millionen Hektar durch die Produktion im eigenen Land gedeckt." Den Rest müssten Flächen im Ausland bereitstellen etwa für Futtermittel aus Brasilien und Argentinien oder Palmöl aus Indonesien und Malaysia.




Termine

16.7. Siegburg

Die politischen Dimensionen des Islam. Vortrag zu den aktuellen Herausforderungen des sogenannten Islamismus oder Salafismus. www.akademie.ekir.de

30.7.-1.8. Bad Herrenalb

Alte Message - Neues Image?! Aktuelle Formen des Antisemitismus. Der aktuelle Anstieg antisemitisch motivierter Gewalt und die erneute Verbreitung und zunehmende Akzeptanz antisemitischer Ressentiments zeigen es: Antisemitismus ist kein längst überwundenes Problem vergangener Zeiten. Allerdings werden antisemitische Ansichten heute selten offen geäußert. Dennoch ist Antisemitismus nicht weniger präsent. Wie kommt es, dass diese Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sich bis heute hält und im Lauf der Geschichte immer wieder gesellschaftsfähig werden konnte? www.ev-akademie-baden.de

9.-16.8. Neudietendorf

Economics in Transformation. Internationale Sommerakademie für Plurale Ökonomik. Klimawandel, Nationalismus, Altersarmut, mangelnde Chancengerechtigkeit: Warum ist die Marktwirtschaft nicht in der Lage, sowohl den sozialen Ausgleich als auch den Schutz der ökologischen Lebensgrundlagen zu sichern? Möglicherweise liegt es an der neoklassischen Schule, die an den Universitäten nahezu ausschließlich gelehrt wird – und damit die Wirtschaftspolitik seit Jahrzehnten bestimmt. Um tragfähige Konzepte für den ökologisch-sozialen Umbau der Gesellschaft zu finden, ist mehr theoretische und methodische Vielfalt in Wirtschaftswissenschaft notwendig. www.ev-akademie-thueringen.de