Berlin (epd). Ein Wanderer hat den Gipfel erreicht: Der Mann ist von hinten zu sehen, sein Haar sturmzerzaust, er stützt sich auf den Wanderstab, hält inne, blickt auf eine weite Wolkenlandschaft, aus der einzelne Felsen ragen, am Horizont erhebt sich ein höherer Berg. Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer von 1817 markiert den Anfang der Begeisterung der Kunst für ein Thema, die zur Leidenschaft wurde und sich über mehr als ein Jahrhundert zieht.
Den Schlusspunkt setzt das monumentale Gemälde einer Frau: 1912 stellt der dänische Künstler Jens Peter Willumsen mit der Bergsteigerin eine Frau in den Mittelpunkt. Sie steht am Hang, dem Betrachter zugewandt. In langem Rock, das Cape über die Schulter geworfen, den Stock in die Seite gestützt hält auch sie inne, genießt den Blick auf die in expressiven Farben gemalte sonnige Berglandschaft.
Caspar David Friedrichs romantisches Hauptwerk und diese Ikone der dänischen Malerei um 1900 bilden die geistige und künstlerische Klammer der Sonderausstellung "Wanderlust. Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir" in der Alten Nationalgalerie in Berlin. Erstmals spürt die Schau einem Thema, mit dem sich seit der Romantik Künstler aller Genres immer wieder auseinandersetzten, auf dem Gebiet der Malerei nach. Ausgehend von der hauseigenen Sammlung mit bedeutenden Arbeiten von Caspar David Friedrich, Carl Blechen und Karl Friedrich Schinkel, ergänzt durch internationale Leihgaben, führen mehr als 120 Meisterwerke vor Augen, wie sehr das Wandern als Leidenschaft und die Natur als Motiv die bildenden Künstler in ganz Europa begeisterte.
Humboldt und Schinkel
Der Rundgang im zweiten Obergeschoss der Alten Nationalgalerie ist in verschiedene Kapitel gegliedert. Er beginnt mit der Entdeckung der Natur und dem Hochgebirge als bevorzugtes Motiv. Den Auftakt macht der Pionier der Hochgebirgsmalerei, Jakob Philipp Hackert, mit dem Gemälde Vesuvausbruch von 1774. Daneben sind seine Schweizer Zeitgenossen Caspar Wolf und Johann Heinrich Wüest zu entdecken.
Alexander von Humboldt als Prototyp des forschenden Reisenden darf in der Berliner Ausstellung nicht fehlen, die hier den jüngsten Ankauf des Museums präsentiert: eine Ölstudie von Ferdinand Keller von 1875, auf der Humboldt mit seinem Assistenten Bonplands beim Botanisieren in Brasilien dargestellt ist. Karl Friedrich Schinkel hält 1818 seine Eindrücke einer Reise nach Rom in dem eindrucksvollen Bild eines Felsentors in Friaul fest. Neben den tonigen Farben der Romantiker wirkt Ernst Ludwig Kirchners Gemälde "Sertigtal" mit seinen schrillen Farben von 1926 in dem engen Ausstellungsgang deplatziert, auch wenn es thematisch passt.
Ähnlich unglücklich gehängt ist im Kapitel "Spaziergänge" das kleinformatige Gemälde von August Macke "Spaziergang in Blumen" von 1906. Trotz seiner expressiven Farben wird es von dem benachbarten Monumentalbild "Reifende Ären" des Berliner Secessionisten Otto Heinrich Engel geradezu erdrückt. Die Darstellung dreier Frauen im sommerlichen Kornfeld von 1904 belegt, wie unterschiedlich das Thema künstlerisch aufgefasst wurde.
Gipfeltreffen
Dass die neue Wanderlust in der Malerei auch Ausdruck neuen Sehens und einer subjektiven Weltsicht war, zeigt das Kapitel "Künstlerwanderung". Hier kommt es zu einem Gipfeltreffen der besonderen Art: 1854 zeigt sich Gustave Courbets in seinem Gemälde "Bonjour Monsieur Courbet" mit Rucksack und wallendem Bart als Naturenthusiast, der auf seinen gut gekleideten Mäzen Alfred Bruyas und dessen Diener trifft - eine Darstellung, die vor Selbstbewusstsein strotzt und als Leihgabe aus Montpellier kommt.
Gleich daneben ein kleineres Gemälde von Paul Gauguin mit dem Titel "Bonjour Monsieur Gauguin". 1889, vor seiner Anerkennung als Maler und geplagt von finanziellen Nöten, malte er sich in intensiven Farben als Außenseiter der Gesellschaft mit tief ins Gesicht gezogener Mütze, der auf eine bretonische Bäuerin trifft - die Antwort des Jüngeren auf Courbets Anmaßung. Erstmals hängen beide Bilder für vier Wochen nebeneinander in einer Ausstellung. Die Gauguin-Leihgabe aus Prag wandert dann für eine Schau nach Quimper in der Bretagne weiter - auch Bilder packt mitunter die Wanderlust.
Wie der Aufbruch in die Natur insbesondere nach 1900 zum Bild für das Ablegen gesellschaftlicher Fesseln wird, zeigen zum Abschluss der Schau zwei höchst unterschiedliche Werke: Otto Dix’ Selbstbildnis als junger Wanderer mit Hut von 1912 ist noch romantisch geprägt und verrät die Nähe zur Wandervogelbewegung. Ernst Barlachs 1934 entstandene Holzfigur Wanderer im Wind kündet bereits von stürmischen Zeiten, die der Wanderlust endgültig das Ende bereiteten.