Frankfurt a.M. (epd). Sommer 1968: Im Werkraumtheater der Münchner Kammerspiele wird am 5. Juli der "Viet Nam Diskurs" von Peter Weiss aufgeführt, Regie hat Peter Stein. Nach der Vorstellung fordert Schauspieler Wolfgang Neuss das Publikum auf, Geld für Waffen der Vietcong-Guerilla zu spenden. Viele Zuschauer geben Geld, andere buhen. Die Inszenierung wird schon nach vier Aufführungen abgesetzt. Kaum jemand hat sie gesehen, trotzdem gilt sie bis heute als ein Symbol für die Politisierung des Theaters im Jahr 1968.
Das Kammerspiel-Ensemble war überhaupt politisch wach. Als im Mai 1968 im Bundestag die Notstandsgesetze verabschiedet wurden, mit deren Hilfe die Rechte des Einzelnen stark beschnitten werden können, zog das Ensemble protestierend durch die Münchner Innenstadt. Theaterzuschauer und Passanten schlossen sich an.
Aggressive Inszenierung
Ein zweiter, weniger wahrgenommener Schwerpunkt des theatralischen Widerstands in München fand in Schwabing statt: Ein kleines Ensemble um Rainer Werner Fassbinder zeigte sozialkritische Stücke in meist aggressiven Inszenierungen. Um zu zeigen, wie brutal die Polizei oft gegen Demonstranten vorging, wurden an einem Abend die Besucher am Ende der Vorstellung mit einem Wasserstrahl aus dem Theater gejagt. Die einzige Rettung war, nicht nach hinten zum Ausgang zu fliehen, sondern nach vorne zur Bühne - dann ging das Wasser über einen hinüber.
Mochten viele der Aktionen der jungen Demonstranten eher ziellos wirken, so hatten sie doch einen harten politischen Kern. Besonders der Mord an Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 in Berlin trieben die jungen Leute auf die Straße. Dazu kamen Proteste an den Universitäten (Motto "Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren"), Hausbesetzungen, weil es zu wenige Wohnungen für Studenten gab, und nicht zuletzt die Empörung über die Nazivergangenheit vieler Politiker und Beamten.
Beginn des Regietheaters
Wie haben die professionellen Bühnen auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagiert? Schnell oder zögernd - insgesamt aber waren die gesamten 60er Jahre ein Jahrzehnt, in dem sich das Schauspieltheater erneuert hat. Regisseure wie Peter Stein, Claus Peymann oder Peter Zadek wurden schon frühzeitig und dann regelmäßig zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen - die Zeit des Regietheaters hatte begonnen. Mit Stücken und den Texten wurde freier umgegangen.
Das Regietheater ist sicher das wichtigste Erbe aus dem Jahr '68 für das deutsche Sprechtheater. Das Theater näher an die Gegenwart heranzuführen, den konservativ-gepflegten Schauspielstil zu überwinden - darum ging es Zadek, Stein oder Peymann, aber auch Bühnenbildnern wie Wilfried Minks, der in diesem Jahr gestorben ist, oder Dramaturgen wie Hermann Beil, meist Partner von Peymann.
Bei neuen Stücken, die bevorzugt gespielt wurden, verstand sich das von selbst. Aber auch in den Klassikern suchte und fand man Bezugspunkte zur Gegenwart.
Berühmt ist die Inszenierung von Schillers "Räubern" durch Zadek und Minks 1966 in Bremen: Die Bühne, eine Comic-Welt, war angelehnt an ein Bild des Pop-Art-Künstlers Roy Lichtenstein.
Sehr schnell wurde die Schaubühne in Berlin, geleitet ab 1970 von Peter Stein, zum wichtigsten Theater. Der 68er-Geist der Erneuerung wurde realisiert, ohne dass man sich ausdrücklich auf ihn berief.
"Publikumsbeschimpfung" im TAT
Eine spektakuläre Aufführung des neuen Theaters kann man heute noch ungekürzt auf der Videoplattform Youtube sehen: Die Uraufführung von Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" vom 8. Juni 1966 im Theater am Turm in Frankfurt, inszeniert von Claus Peymann. Das Spiel steigert sich zum Ende hin immer mehr zu einer Schimpforgie. Die noch sehr bürgerlich gekleideten meist jungen Zuschauer sind begeistert.
Das damals entstandene Regietheater und seine Persönlichkeiten haben fast 50 Jahre lang das Schauspiel in Deutschland bestimmt. Das ändert sich seit einiger Zeit. Junge Regie-Talente, zu denen endlich auch Frauen gehören, setzen sich durch. Das Theater ist international geworden, hat sich gegenüber Regisseuren und Schauspielern aus Europa, aber auch Asien, Afrika und Lateinamerika geöffnet. Was damals die Schaubühne war, ist jetzt das Maxim-Gorki-Theater in Berlin: beispielhaft.