Es sind die beiden ersten Urteile ihrer Art durch eins der höchsten europäischen Gerichte, und sie geben der kritischen Presse gegen die türkische Regierung Recht: Mit der Inhaftierung von zwei Journalisten nach dem Putschversuch von 2016 hat Ankara die Europäische Menschenrechtskonvention mehrfach verletzt, urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 20. März in Straßburg. (AZ: 16538/17 und 13237/17)

Die inzwischen beendete Untersuchungshaft des nun unter Hausarrest stehenden Sahin Alpay und des inzwischen verurteilten und daher weiter inhaftierten Mehmet Hasan Altan verstießen gegen die Meinungsfreiheit und die Menschenrechte auf Freiheit und Sicherheit, erklärte der EGMR. Beiden muss der türkische Staat je 21.500 Euro Schadenersatz zahlen.

"Demokratie gedeiht auf Meinungsfreiheit"

Die Urteile aus Straßburg stellen Grundsätze der Pressefreiheit klar. Zwar hätten der letztlich gescheiterte Putschversuch vom 16. Juli 2016 und andere Terrorakte "eine große Bedrohung für die Demokratie in der Türkei" dargestellt, erkannten die Richter. Jedoch sei es eine der wichtigsten Eigenschaften der Demokratie, Probleme durch öffentliche Debatte lösen zu können. "Demokratie gedeiht auf der Meinungsfreiheit", heißt es wortgleich in beiden Urteilen. Auch wenn die Regierung kritisiert und Informationen veröffentlicht würden, "die von den Führern eines Landes als gefährlich für die nationalen Interessen angesehen werden", dürfe dies nicht Anklagen wie bei Altan und Alpay nach sich ziehen.

Der 1953 geborene Altan und der 1944 geborene Alpay hatten beide als Hochschullehrer und Journalisten gearbeitet, wie der EGMR weiter mitteilte. Altan veranstaltete im TV-Sender Can Erzincan TV ein politisches Diskussionsprogramm, während Alpay für die Zeitung "Zaman" schrieb. Nach dem Putsch wurden beide Medien geschlossen, Alpay noch im Juli 2016 und Altan im September des Jahres verhaftet. Die beiden teilten damit das Schicksal Tausender anderer Menschen in der Türkei.

Urteil missachtet

Beiden Journalisten wurden anschließend Verbindungen zur von Ankara als Terrororganisation eingestuften Gülen-Bewegung vorgeworfen. Angeklagt wurden sie unter anderem wegen Unterstützung für die Bewegung und wegen des Versuchs des Umsturzes der verfassungsmäßigen Ordnung. Allerdings kam ihnen das türkische Verfassungsgericht zu Hilfe. Am 11. Januar 2018 urteilte es, dass Altans und Alpays Rechte auf Freiheit und Sicherheit sowie auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzt worden seien, wie der EGMR weiter erklärte.

Ungeachtet dessen lehnten niedere Gerichte die Freilassungen zunächst ab. Erst nach einem neuerlichen Urteil des obersten türkischen Gerichts sei Alpay vor wenigen Tagen aus der Haft entlassen worden, laut Deutschem Journalisten-Verband (DJV) steht er jetzt unter Hausarrest. Altan wurde in der Türkei inzwischen im Februar zu lebenslanger Haft verurteilt, während das Urteil für Alpay noch aussteht. Der EGMR befasste sich bisher nur mit ihrer Untersuchungshaft.

Unterdessen sind mehr als 1.500 weitere Fälle vor dem EGMR anhängig, die wie bei Altan und Alpay die Untersuchungshaft von Journalisten und anderen Bürgern nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei betreffen, teilte eine EGMR-Sprecherin mit. Darunter ist auch der inzwischen freigelassene "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel. Altan und Alpan sind die ersten beiden Fälle, in denen der EGMR über die Inhaftierung von Journalisten nach dem Putschversuch geurteilt hat.

Sechs zu eins Stimmen

In beiden Fällen wurde Ankara nicht nur wegen Verletzung der Meinungsfreiheit, sondern auch der Rechte auf Freiheit und Sicherheit. Auch sie sind in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 verbucht, der die Türkei unterliegt. Der EGMR machte geltend, dass die Untersuchungshaft jeweils insbesondere nach dem Urteil des türkischen Verfassungsgericht nicht mehr rechtmäßig gewesen sei.

Die Urteile zugunsten von Altan und Alpay traf das Straßburger Gericht jeweils mit sechs gegen eine Stimme; der türkische EGMR-Richter stimmte dagegen. In mehreren anderen Beschwerdepunkten, etwa was die Länge eines Verfahrens anging, bekamen die Journalisten vom EGMR nicht Recht.

In Deutschland wurde das Urteil begrüßt. Es bedeute "einen Sieg für die Menschenrechte und die Meinungsfreiheit - in der Türkei und weltweit", erklärte die Grünen-Bundestagsabgeordete Margarete Bause. Reporter ohne Grenzen wies darauf hin, dass die Entscheidung vom Dienstag für die Betroffenen "bestenfalls eine Verschnaufpause" bedeute, "denn die Urteile in ihren eigentlichen Prozessen in der Türkei sind noch lange nicht gesprochen."