Berlin, Bonn (epd). Zehn Jahre nach der Aufdeckung von sexuellem Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche hat der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig die seitdem erfolgten Maßnahmen zum Kinderschutz als nicht ausreichend kritisiert. Jährlich gebe es noch immer mehr als 20.000 Fälle von Kindesmissbrauch, es gebe "Kinderpornografie in Terrabytedimension", sagte der Beauftragte der Bundesregierung am 28. Januar in Berlin: "Die bisherigen Fortschritte reichen überhaupt nicht aus, um sexuelle Gewalt in Deutschland konsequent einzudämmen."
Rörig forderte einen "Pakt gegen sexuellen Missbrauch". Dieser müsse ein großes Ziel haben: "die maximale Reduzierung der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche". Dafür werde die Unterstützung aller Bürger benötigt. Rörig forderte vor allem Unterstützung der politischen Spitzen des Landes, namentlich vom "ersten Mann im Staat", Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er müsse "diesen Abgrund der Gesellschaft in seine Reden aufnehmen" und damit die Priorität erhöhen, sagte Rörig.
"Ohrenbetäubendes Schweigen"
Auch von den Parteien forderte er "eine viel stärkere Programmatik". Bislang werde die Bekämpfung von Missbrauch allein dem Kinderschutz zugeordnet ohne konkrete Vorhaben und ohne interdisziplinären Blick. Insgesamt kritisierte der unabhängige Beauftragte zu viel Gleichgültigkeit: "Auch im Jahr 2020 wird zum Thema sexuelle Gewalt ohrenbetäubend geschwiegen, das Thema mit großer Gelassenheit zur Kenntnis genommen von weiten Teilen der Politik, weiten Teilen der Gesellschaft und auch der Bevölkerung."
Ende Januar 2010 hatte der Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, Missbrauchsfälle an dem katholischen Internat aus den 70er und 80er Jahren öffentlich gemacht. Der Missbrauchsskandal löste deutschlandweit Erschütterung aus. Zahlreiche weitere Fälle in der katholischen und evangelischen Kirche, an der hessischen Odenwaldschule sowie in Sportvereinen und weiteren Einrichtungen wurden in der Folge bekannt.
Seitdem beobachtet er in der katholischen Kirche grundlegende Veränderungen. Es seien Themen wieder ansprechbar, die früher nicht angesprochen werden konnten, sagte Mertes am 28. Januar im WDR5-"Morgenecho" und verwies beispielhaft auf die katholische Frauenbewegung "Maria 2.0" oder den Synodalen Weg. "Es hat sich aber auch dahingehend verändert, dass eine Spaltung sichtbar geworden ist, und unter der leidet dann auch der weitere Aufarbeitungsprozess, und das ist ein großes Problem."
Kirchliche Amtsträger, die aufklärungswilligen Kirchenvertretern einen "Missbrauch des Missbrauchs" vorwerfen, damit kirchliche Reformen durchgesetzt werden könnten, bezeichnete Mertes als "reaktionäre Verweigerungsfront". Von einem Missbrauch des Missbrauchs zu sprechen, sei nichts anderes als ein "Totschlagargument", um nicht an systemische Fragen herangehen zu müssen.
Kirchen Verschleppung vorgeworfen
Matthias Katsch von der Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch" kritisierte, dass die Aufklärung und Aufarbeitung des Skandals bis heute zäh verlaufe. Beim damals eingesetzten Runden Tisch habe es drei zentrale Forderungen gegeben: Aufklärung, Hilfe und Entschädigung. "An allen drei Baustellen arbeiten wir immer noch", sagte Katsch.
Insbesondere den Kirchen warf er Verschleppung vor. Die katholische Kirche diskutiere noch immer über Entschädigung. "Die Betroffenen warten und die Bischöfe streiten", sagte Katsch. Zugleich ergänzte er, auch wenn die katholische Kirche zurecht im Fokus stehe, sei bei der evangelischen Kirche noch weniger passiert. "Bei der Entschädigung tun sie so, als wenn sie das gar nichts anginge", sagte Katsch.
Bischöfe: Missbrauchsaufarbeitung braucht Zeit
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte bei ihrer Synode im vergangenen September unterstrichen, individuelle Leistungen erbringen zu wollen. Dafür soll ein neues Verfahren entwickelt werden. Die katholischen Bischöfe erklärten am 28. Januar, weiter an dem Thema zu arbeiten, baten aber gleichzeitig für Verständnis, dass Aufarbeitung Zeit brauche. "Aus der Verantwortung werden wir uns nicht nehmen", hieß es in einer Erklärung des Ständigen Rates der katholischen Deutschen Bischofskonferenz.
Rörig appellierte auch an Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), Geld für eine große Anti-Missbrauchs-Kampagne freizugeben. Zugleich präsentierte sein Team einen neuen Spot für Fernsehen und Kino, der auf das Hilfetelefon für Opfer von Missbrauch und Nahestehende hinweist. 100.000 Anrufe sind nach Angaben der Leiterin Silke Noack in den vergangenen zehn Jahren dort eingegangen.