Gießen (epd). Ulrich Ott startet auf seinem Handy eine App mit einer Atemübung: Ein blauer Ball bläht sich auf, größer und größer, und fällt dann in sich zusammen: Einatmen, Pause, Ausatmen, Pause. Die Konzentration auf den Atem "führt uns in die Gegenwart", erklärt der Gießener Neurowissenschaftler. Der immerwährende Fluss der Gedanken stoppt, Ruhe tritt ein.
Gemeinsam mit seiner Kollegin Janika Epe hat der Psychologe und Meditationslehrer Ott ein Acht-Wochen-Programm mit Atemübungen entwickelt. "In der hektischen Betriebsamkeit des Alltags kann es passieren, dass wir unseren Körper kaum noch beachten", schreibt Ott in seinem Buch "Gesund durch Atmen". Die Wirkung der Atmung auf die Abläufe im Gehirn sei bisher unterschätzt worden, sagt der Forscher am Fachbereich Psychologie und Sportwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mit Atemübungen kann man den Körper entspannen.
Ott zückt wieder sein Handy und legt einen Finger auf die Handykamera: Mittels eines Sensors misst eine App seine Herzrate. Einatmen, Pause, Ausatmen: Mit etwas Übung lassen sich die Atmungsphasen verlängern, die Atemzüge auf wenige pro Minute reduzieren. "Das hat eine entspannende und sammelnde Wirkung", erklärt der Wissenschaftler.
Übungen bei Schlafstörungen hilfreich
Eine weitere Übung: abwechselnd durch die beiden Nasenlöcher atmen. Bei der Atmung durch das linke Nasenloch wird der Blutdruck gesenkt, durch das rechte steigt er an. "Es ist erstaunlich", sagt Ott. "Man kann es nachweisen, aber nicht erklären."
Janika Epe wertet gerade in ihrer Doktorarbeit das achtwöchige Programm aus, gleichzeitig absolviert sie ihre Ausbildung zur Psychotherapeutin. Mit Versuchspersonen hat sie die Übungen ausprobiert: Vor allem bei Schlafstörungen seien sie sehr hilfreich, sagt sie. Eine verlängerte Ausatmung beruhige die Probanden, Menschen mit Antriebsschwierigkeiten könnten "aktivierende Atemtechniken nutzen".
Die bewusste Wahrnehmung der Atmung hat in vielen Kulturen eine lange Tradition. So sei das Beobachten des Atems "eine Technik, die bei allen Meditationstraditionen eine zentrale Rolle spielt", schreibt der Chemnitzer Forscher Peter Sedlmeier in seinem Buch "Die Kraft der Meditation", in dem er einen Überblick über wissenschaftliche Erkenntnisse zur Meditation gibt. "Viele Meditierende haben schon einmal die Erfahrung gemacht, dass Schmerzen nach einiger Zeit verschwinden oder sich zu einem anderen Körperteil verlagern, wenn man den Atemstrom bewusst auf sie lenkt", erklärt Sedlmeier.
Beim Einatmen in die Tiefe gehen
Kerstin Veigt ist Meditationslehrerin und praktiziert das Herzensgebet, eine uralte christliche Gebetsform, bei der die Betenden ein persönliches Wort oder ein Mantra im Stillen beten. Eine Grundübung sei das Beobachten des Atems. "Über den Atem kommen wir wieder in Verbindung mit unserem natürlichen Rhythmus", sagt sie, etwa so: Beim Einatmen in die Tiefe gehen, beim Ausatmen in die Weite.
Heilen durch Atmen, das machen auch die rund 500 Atemtherapeuten und -pädagogen, die in Deutschland dem Bundesverband BV-Atem angehören. Die Atemtherapie zählt zu den alternativen Heilverfahren. Allein schon, wenn man die Aufmerksamkeit auf den Atem richte und ihn zulasse, verändere sich etwas, sagt Annechien Ihnen vom Vorstand.
Den Körper wahrnehmen
Ihnen arbeitet als Sonder- und Atempädagogin unter anderem an einer Schule mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern und macht mit ihnen einfache Atemübungen. In andere Praxen kämen Patienten mit Asthma oder der Lungenkrankheit COPD, Burn-out-Erkrankte und Stressgeplagte. Einige Krankenkassen haben die Atemtherapie in ihr Programm aufgenommen. Sie könne beispielsweise die Rehabilitation nach Operationen im Brustbereich unterstützen, erklärt die AOK Hessen.
Sich nach innen richten, den Körper wahrnehmen - spannend werde es, wenn die Übung beendet sei, sagt Ulrich Ott: "Wenn man mit sich selbst im Reinen ist, kann man auch besser mit anderen umgehen." Dann könne man "offen und innerlich befreit auf die anderen zugehen."