Eine neue Biografie offenbart die Beteiligung der diakonischen Stiftung Eben-Ezer an Zwangssterilisationen während des Nationalsozialismus. "Wir setzen damit die Aufarbeitung unserer eigenen Geschichte fort", erklärte der Theologische Vorstand der Stiftung Eben-Ezer, Pastor Bartolt Haase, am 11. November in Lemgo. Im Auftrag der Stiftung hat der Bielefelder Historiker Frank Konersmann mit der Buchveröffentlichung "Der Heilpädagoge Herbert Müller in Eben-Ezer - Biographie eines Schul- und Anstaltsleiters (1906-1968)" das Wirken des langjährigen Leiters beleuchtet.

Enge Zusammenarbeit mit Nationalsozialisten

Eben-Ezer habe damals eng mit dem NS-Regime zusammengearbeitet, schreibt Konersmann. Wie auch andere Einrichtungen der Inneren Mission habe die Lemgoer Anstalt "die von ihr erwarteten Aufgaben insbesondere der Selektion nach damaligen Maßstäben professionell" erfüllt. Laut dem Wissenschaftler trug der Pädagoge Müller maßgeblich zur sonderpädagogischen Profilbildung der Einrichtung bei. Zugleich trat Müller dem Nationalsozialistischen Lehrerbund und 1937 der NSDAP bei und war förderndes Mitglied der sogenannten Schutzstaffel (SS).

Auf der Grundlage des im Jahr 1933 verabschiedeten "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wurden in Eben-Ezer 94 Bewohner, die meisten von ihnen unter 20 Jahren, unfruchtbar gemacht, wie Konersmann erklärte. Die Einrichtung habe sich auch als allgemeine Sichtungsstelle für die erforderlichen Intelligenztests empfohlen, um "jugendliche Geistesschwache" zu klassifizieren.

In den Folgejahren wurden dem Wissenschaftler zufolge 87 Frauen und Männer verlegt. Das war ein Drittel der Bewohner von Eben-Ezer. Viele von ihnen wurden in Vernichtungslagern umgebracht. „Als Vormund zahlreicher Klienten wäre Anstaltsleiter Müller eigentlich verpflichtet, für ihr Wohlergehen zu sorgen“, sagte Konersmann. Inwieweit Müller von dem systematischen Mordprogramm, im NS-Jargon „T4-Aktion“ genannt, gewusst habe, sei bislang nicht zu ermitteln. Es gebe auch keinen Beleg für die Legende, in Lemgo seien Kinder vor der Euthanasie gerettet worden.

Gedenkgottesdienst

Für die Stiftung Eben-Ezer gehen von der Biografie zahlreiche Impulse aus, die auch die Mitarbeitenden betreffen, sagte Pastor Haase. So fand am 15. November eine öffentliche Fachtagung zu dem Thema statt. Am 20. November wird mit einem Gedenkgottesdienst an die Opfer der NS-Zeit erinnert. Die Predigt in der Kapelle Alt Eben-Ezer in Lemgo hält der Theologische Kirchenrat der lippischen Landeskirche, Tobias Treseler.

Die Stiftung Eben-Ezer hatte bereits 2017 Forschungen über ihre Einrichtungen in der NS-Zeit veröffentlicht. Eine Gedenkstele auf dem Stiftungsgelände erinnert seitdem an die Opfer der systematischen Ermordung von Menschen mit geistigen, körperlichen und seelischen Behinderungen.

Die 1862 gegründete diakonische Stiftung betreut heute in der Region Lippe rund 3.500 hilfsbedürftige Menschen. Der Schwerpunkt liegt in der Begleitung und Unterstützung von Menschen mit Behinderungen und psycho-sozialen Problemen. Eben-Ezer bietet verschiedene Wohnangebote, Beratung, schulische und berufliche Bildung, Werkstätten, einen Integrationsbetrieb und Förderstätten an.