Am Ende ihrer Karriere hat Christine Bergmann sich nicht gescheut, noch einmal eine schwierige Aufgabe zu übernehmen. Im März 2010 wurde die Sozialdemokratin von der damaligen CDU-FDP-Regierung zur Missbrauchsbeauftragten berufen. Als sie das Amt nach anderthalb Jahren an ihren Nachfolger Johannes-Wilhelm Rörig übergab, war sie "die Stimme geworden für all jene, die schweigen", wie es eine Frau formulierte, die selbst als Kind sexuelle Gewalt erlitten hatte.

Christine Bergmann, die in Dresden aufgewachsen ist und am 7. September 80 Jahre alt geworden ist, meint im Rückblick, mit ihrer Tätigkeit als Missbrauchsbeauftragte habe sich für sie der Kreis ihrer politischen Arbeit geschlossen. Sie habe unabhängig arbeiten, Betroffenen helfen und einem weitgehend tabuisierten Thema Aufmerksamkeit verschaffen können. Es gehört aber auch zu ihrem Wesen, ihren Anteil nicht zu überschätzen. Es brauche das Engagement vieler Menschen, bis sich wirklich etwas ändere, meint sie.

Als Beauftragte konnte Bergmann noch einmal zusammenführen, was sie als Politikerin ausgemacht hat. Sie schätzt "handfeste Politik", im Kontakt mit den Menschen. So startete sie auch in ihre politische Karriere. Sie wurde Anfang 1991 Arbeits- und Frauensenatorin in Berlin, als im Osten der Stadt die Betriebe zusammenbrachen. Der Bund finanzierte Zehntausende Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). "Wir mussten schnell handeln, die Stellen waren für viele der erste Rettungsanker", erinnert sie sich. Dabei kam es ihr darauf an - anders als etwa dem damaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU) - auch die Frauen im Berufsleben zu halten.

"Gedöns"

Noch als sie schon Ministerin im Kabinett von "Gedöns"-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) war, wurde sie zum Feiern eingeladen, wenn aus ABM-Projekten feste Arbeitplätze entstanden waren: "Ich habe das gute Gefühl, dass wir gemacht haben, was wir konnten", sagt sie über diese Zeit.

Berufstätigkeit ist für Ost-Frauen wie Bergmann eine Selbstverständlichkeit. Sie wollte mehr Chancengleichheit. Zwar schaffte sie es als Ministerin in der rot-grünen Koalition nicht, der Wirtschaft verpflichtende Vorgaben für die Gleichstellung zu machen. Sie brachte aber mit ihrem pragmatischen Politikstil eine Entwicklung in Gang, die heute, 20 Jahre später, dazu geführt hat, dass Beruf und Kinder zu haben normal ist.

Schon in den 1980er Jahren, in Berlin-Kaulsdorf, wo sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern wohnte, brachte sie frauenpolitische Themen in die Gesprächskreise ihrer Kirchengemeinde ein. Über häusliche Gewalt etwa wurde offiziell in der DDR nicht geredet, Hilfsangebote vom Staat gab es nicht. Als in Ostberlin 1990 das erste Frauenhaus eröffnet wurde, war es über Nacht voll, ein "Schlüsselerlebnis" für Bergmann. Als Bundesministerin brachte sie dann das Gewaltschutzgesetz auf den Weg. Seitdem muss ein gewalttätiger Mann die Wohnung verlassen und nicht die Frau mit den Kindern.

Gerhard Schröder erklärte übrigens später, er habe das Familienressort, das er Bergmann 1998 übertrug, damals leichtfertigerweise als "Gedöns" bezeichnet. Er habe dazugelernt, "auch dank der Arbeit von Christine", der einzigen Ostdeutschen an seinem Kabinettstisch. Wegbegleiterinnen und -begleiter beschreiben Bergmann als geradlinig, kritisch, zupackend, mutig, fröhlich und sehr sympathisch - und "betörend schön", so der Theologe Friedrich Schorlemmer. "Sieht super aus", meint auch Margot Käßmann, frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Demokratie gelernt

Bergmann gehört wie Schorlemmer und Käßmann der evangelischen Kirche an. Während des Studiums in Leipzig ging sie in die Studentengemeinde und erwarb dort, wie sie sagt, das erste Rüstzeug für ihre spätere politische Karriere. In dieser Gemeinschaft war sie zu Hause, konnte sich austauschen. Man habe gelernt, andere Meinungen zu respektieren und Kompromisse zu suchen, sagt sie, das was eine Demokratie ausmache: "Das war für mich ganz wichtig." Es wundere sie nicht, dass nach 1990 so viele Theologen in der Politik gelandet seien. Als sie selbst Politikerin wurde, schöpfte sie Kraft aus ihrem Glauben und der Gewissheit, dass man in ihrer Gemeinde an sie dachte, auch wenn sie nicht da war. Nach dem Ausstieg aus der Politik 2002 wurde sie in die Leitung ihrer Landeskirche gewählt.

Christine Bergmann wuchs mit drei Brüdern und Eltern auf, die die Bildung ihrer Kinder immer förderten. Schon als Oberschülerin eckte Christine mit kritischen Fragen an. Aber weil sie "Arbeiterkind" war, konnte sie - nach einem Jahr Bewährung in der Produktion, das sie nie vergessen hat - in Leipzig Pharmazie studieren. Sie wurde Apothekerin und leitete schließlich im Institut für Arzneimittelwesen der DDR dreizehn Jahre lang die Abteilung für Arzneimittelinformation. Gerade noch rechtzeitig habe sie 1989 ihre Doktorarbeit beendet, zu der sie sich spät noch entschlossen hatte, sagt sie. Dann erzwangen die DDR-Bürger die Öffnung der Mauer, Christine Bergmann trat in die Sozialdemokratische Partei ein und stürzte sich in die Politik. Da war sie 50 Jahre alt.

Heute, 17 Jahre nach ihrem Abschied aus der Politik, zerbricht sie sich wie viele andere den Kopf darüber, warum die AfD so starken Zulauf hat. "Ist der Frust so groß?", fragt sie sich. Und inwiefern es eine Rolle spiele, dass in Ostdeutschland zwei Diktaturen nie richtig aufgearbeitet worden seien. Sie beobachtet "dieses Nicht-Umgehen-Können mit anderen Meinungen", sieht die Fremdenfeindlichkeit, die Unzufriedenheit, "die umschlägt in Aggression und Hass". Die Demokratie könne mit Vielem leben, meint Bergmann: "Aber die Form, in der das heute ausgelebt wird, damit kann man nicht mehr gut leben."