Bremen (epd). Sie schmücken Böden und Fassaden, stehen in Gärten und Parks und können sogar auf Reisen mitgenommen werden: Bremen ist voller Sonnenuhren. "Es ist die Stadt mit der höchsten Sonnenuhren-Dichte in Deutschland", sagt Dieter Vornholz, Physiker und langjähriger Leiter des Planetariums der Hansestadt. Von wegen wolkiger Norden - der Experte kennt mindestens 125 ortsfeste Sonnenuhren, die über die ganze Stadt verteilt sind. "Dazu kommt eine große Zahl von Reisesonnenuhren in Museen und in Privatbesitz", ergänzt der 73-Jährige.
Ein besonders skurriles Exemplar ist die "Mittagskanone". Sie gehört zu den Prunkstücken unter den Sonnenuhren im Schaumagazin des Bremer Focke-Museums und unterscheidet sich in einer entscheidenden Eigenschaft von den anderen: Man kann nicht von einem stummen Zeugen der Zeit ausgehen. "Im Gegenteil", sagt Vornholz. "Die Sonnenuhr hat eigentlich nur die Funktion, den Mittag mit einem Böllerschuss zu melden."
Schon in der Bibel erwähnt
Das Wesentliche an der Konstruktion aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist eine Linse, die das Licht wie ein Brennglas auf den Zünder einer kleinen Kanone bündelt. Richtig ausgerichtet, löst das Gerät dann mittags den Schuss aus. "Es ist nicht ganz klar, ob diese Sonnenuhren mehr zur Zierde und zur Belustigung eingesetzt wurden, oder dazu, den Arbeitenden auf dem Feld die Mittagspause anzuzeigen", erklärt Vornholz.
Die Sonnenuhr dürfte wohl zu den ältesten Erfindungen der Menschheit zählen. Schon in der Antike wurde mit ihrer Hilfe der Tag vermessen. Selbst in der Bibel wird sie erwähnt, denn im Alten Testament wird beim Propheten Jesaja im 38. Kapitel, Vers 8, ein Schatten beschrieben, der nach Gottes Wille - ein Wunder - rückwärts läuft: "Siehe, ich will den Schatten an der Sonnenuhr des Ahas zehn Striche zurückziehen, über die er gelaufen ist."
Wie kompliziert die Wissenschaft der Sonnenuhren ist, wird schnell deutlich, wenn Dieter Vornholz einige bestimmende Elemente beschreibt. Der Physiker spricht von Hyperbeln, Datumslinien, temporalen Stunden, Zeitgleichung, Tagbögen, äquidistanter Einteilung, Polhöhe, Vertikal- und Horizontaluhren.
Eines wird schnell klar: Eine für Bremen gebaute stationäre Uhr funktioniert nur für Bremen. Denn der Winkel des Schattenstabes - die Fachleute sagen "Gnomon" - muss je nach geografischer Breite ausgerichtet werden. "Hier sind das 53 Grad", erläutert Vornholz. Auf diese Weise zeigen Sonnenuhren Grad für Grad und Ort für Ort die richtige Zeit an.
Warum gibt es aber nun gerade in Bremen so viele Sonnenuhren? Vornholz erklärt das mit den seefahrerischen Traditionen in der alten Hansestadt: "Die Kapitäne mussten immer die Zeit wissen. Außerdem gab es in Bremen eine ganze Reihe von Bildhauern, die Sonnenuhren gestaltet haben. Und schließlich sind im Krieg weniger Häuser mit Sonnenuhren an der Fassade zerstört worden als zum Beispiel in Berlin."
Zeit und Datum
Als wahres Meisterstück beschreibt der Sonnenuhren-Liebhaber ein Exemplar, das an der Südfassade des Bremer St.-Petri-Domes hängt und aus dem Jahr 1619 stammt. "Die Uhr zeigt drei verschiedene Liniennetze - eine Rarität", schwärmt Vornholz. So dokumentiert sie nicht nur Stunden, sondern auch das Datum in Form der Anzahl der lichten Stunden des Tages und die richtige Zeit für Gebete.
Als im 13. Jahrhundert die ersten mechanischen Zeitmesser im heutigen Sinne aufkamen, war die Ära der Sonnenuhren noch längst nicht vorbei. Denn Taschenuhren waren zunächst teuer und störanfällig. "Klapp- und Tischsonnenuhren waren deshalb noch lange als Zeitmesser für den Alltag unverzichtbar - auch, um mechanische Uhren richtig zu stellen", sagt Vornholz.
Heute werden Sonnenuhren vor allem zum Schmuck gebaut. Goldschmied Malte Groh aus Wildeshausen bei Bremen fertigt gebrauchsfähige tragbare Schmuckstücke und dekorative Sonnenuhren für Gärten und Hauswände. "Es ist auch die Faszination an den Gestirnen, die sich in den Sonnenuhren widerspiegelt", begründet der Kunsthandwerker die anhaltende Nachfrage.
Früher hätten die Astronomen mit ihren Sonnenuhren die Regie über die Zeit geführt, sagt Vornholz, der sich im Bremer Olbers-Planetarium engagiert. Heute definierten Physiker mit ihrer Atomuhr in Braunschweig die Zeit. Und trotzdem werde die Bedeutung der Gestirne und ihr Einfluss auf das Leben auf der Erde bleiben, glaubt der Experte: "Trotz aller Hochtechnologie zwingt uns die Sonne mit ihrem Lauf ihre Einheit der Zeit auf."