Genf (epd). Als sie sich an den 2. Oktober 2018 erinnert, stockt Hatice Cengiz erstmals die Stimme. Auf einmal ist ihre feste Miene dahin, sie scheint Tränen zurückzuhalten. Es ist der Morgen, an dem sie ihren Verlobten Jamal Khashoggi zum letzten Mal gesehen hat: "Wir haben über die geplante Hochzeit gesprochen, über unsere Pläne - und wer hätte sich ausmalen können, wie das Ende aussieht."
Khashoggi kehrte nie zurück. 17 lange Tage hoffte Cengiz, dass der Journalist, der die Regierung in Saudi-Arabien so oft kritisiert hatte, doch noch lebt. Dann gab die Regierung in Riad zu, er sei im Konsulat in Istanbul getötet worden. Er war wegen Papieren für die Hochzeit dorthin gekommen.
Die UN-Sonderberichterstatterin Agnès Callamard geht nach einer monatelangen Untersuchung davon aus, dass es sich um einen geplanten Mord gehandelt hat. Sie macht Saudi-Arabien als Staat dafür verantwortlich und sieht belastbare Beweise dafür, dass hochrangige Vertreter des Königreichs und auch der mächtige Kronprinz Mohammed bin Salman in den Mord verwickelt waren. Saudi-Arabien weist das zurück. Ihren seit einer Woche schriftlich vorliegenden Bericht stellte Callamard am 26. Juni im UN-Menschenrechtsrat vor.
Angstzustände
Cengiz ist nach Genf gekommen, um Callamard zu unterstützen. Und um ihre Forderung an die Vereinten Nationen zu bekräftigen, eine unabhängige Untersuchung einzuleiten. Callamards Bericht hält Cengiz für absolut glaubwürdig. "Ich fordere alle Staaten auf, Sanktionen gegen Saudi-Arabien zu verhängen", sagte sie - um Druck aufzubauen und die Aufklärung voranzutreiben.
In der kommenden Woche ist es neun Monate her, dass ihr Verlobter ermordet wurde. Sie leide bis heute unter Angstzuständen. Und doch ist klar: Sie will kämpfen. "Ich habe keinen exakten Plan, sondern werde spontan entscheiden, was ich tue." Etwa, ob sie nach Brüssel oder Berlin reist, um für Druck auf Riad zu werben. In Washington war sie bereits. Der Kongress habe ihr Hilfe zugesagt, und das sei besonders wichtig, da Khashoggi zuletzt im US-Exil gelebt hatte.
Ihr Gegner ist mächtig, das weiß Cengiz. Saudi-Arabien sitzt nicht nur im Menschenrechtsrat, der als erstes über den Callamard-Bericht befinden muss. Das Königreich übernimmt bald die Präsidentschaft der G20 - obwohl nach Angaben von Amnesty International noch mindestens 30 Journalisten in saudischen Gefängnissen sitzen. "Das saudische Regime hat schon viele Kritiker ermordet, Jamal ist nur einer davon", betont Cengiz. Sie kämpft gegen das saudische Narrativ, es habe sich um einen bedauerlichen Einzelfall gehandelt.
Cengiz ist nicht alleine nach Genf gekommen. Da ist etwa die Südafrikanerin Yumna Desai, die in Saudi-Arabien Englisch unterrichtete. Bis sie 2015 verhaftet und für drei Jahre ins berüchtigte Hochsicherheitsgefängnis von Dhahban gesteckt wurde. Warum, das weiß sie bis heute nicht. "95 Prozent derjenigen, die ich in Dhaban getroffen habe, hatten nichts getan", sagt die Frau im Niqab. "Es sind einfache Leute, über ihre Fälle berichtet niemand, sie werden einfach verhaftet." Vielleicht haben sie etwas Falsches gesagt, vielleicht wurden sie denunziert. Vielleicht diente ihre Festnahme nur der Abschreckung. Niemand weiß es.
Blut an den Wänden
Huda Mohammad ging es ganz ähnlich. Sie berichtet, wie sie von zwei Wärterinnen in ihre Einzelzelle geschleift wurde, an deren Wänden Blut klebte: "Das Schreien der Gefangenen, Tag und Nacht, das höre ich heute noch."
Cengiz hofft, dass Khashoggis Tod den Blick auf die Opfer eines brutalen Gewaltregimes lenkt. Womöglich ist es die Angst vor diesem Regime, die Khashoggis Familie zum Schweigen zwingt. Das deutet Cengiz nur an, denn für andere will sie nicht sprechen. Hat die saudische Regierung Geld angeboten gegen Schweigen? Ihr nicht, sagt sie. Überhaupt hätten saudische Stellen sie bis heute nicht kontaktiert.
Irgendwann will Cengiz ein Buch über Khashoggi schreiben. Aber im Moment sei sie noch zu sehr mit der juristischen und politischen Aufarbeitung beschäftigt. Wie die nun vorankommt, ist ungewiss. UN-Generalsekretär António Guterres ließ seinen Sprecher verkünden, er sehe sich nicht befugt, die geforderte Untersuchung ohne Auftrag eines Mitgliedsstaats oder eines UN-Gremiums einzuleiten. Womöglich wird es der oft als zahnlos geschmähte Menschenrechtsrat sein, der diesen Auftrag erteilt. Hatice Cengiz jedenfalls hofft darauf.