Die Mathildenhöhe ist der Stolz Darmstadts: Ein einzigartiges Jugendstil-Ensemble aus Architektur und Kunst. In diesem Jahr wurde die Bewerbung als Unesco-Weltkulturerbe eingereicht, die Stadt hat dazu öffentlichkeitswirksam einen Vertrag mit dem örtlichen Pharma- und Chemiekonzern Merck über eine "Partnerschaft" geschlossen - er wurde per Drohne auf die Mathildenhöhe geflogen und landete zu Füßen der dort versammelten Honoratioren. 2020 entscheidet nun die Unesco, ob der Darmstädter Hausberg zum Touristen verheißenden Weltkulturerbe geadelt wird.

Zu verdanken ist das Ensemble dem letzten Darmstädter Großherzog Ernst Ludwig (1868-1937). Vor 120 Jahren, im Jahr 1899, hat er auf der Mathildenhöhe eine Künstlerkolonie ins Leben gerufen und bis zu ihrer Auflösung mit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 finanziell großzügig unterstützt. Von der Verbindung von Kunst, Gewerbe und Handwerk erhoffte er sich eine wirtschaftliche Belebung für sein ganzes Land: "Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst."

Den Architekten, Designern und Künstlern ging es um die Verbindung von Funktionalität und Ästhetik auf dem Weg in die Moderne. Auch Dinge des täglichen Gebrauchs sollten künstlerisch gestaltet werden. Seinen Ursprung hatte der Jugendstil - auch Art Nouveau genannt - in der britischen "Arts and Craft"-Bewegung.

Finanzielles Desaster

Zu den ersten Malern, Bildhauern und Architekten, die Ernst Ludwig nach Darmstadt holte, zählten Joseph Maria Olbrich, Peter Behrens, Ludwig Habich, Rudolf Bosselt, Paul Bürck und Hans Christiansen. Ihre Aufgabe war es, in der parkähnlichen Anlage des Hügels im Osten der Stadt Ateliers und Künstlerhäuser zu errichten und einzurichten, einige als provisorische Bauten, andere auf Dauer angelegt.

Es entstanden prächtige Villen für das gehobene Bürgertum mit eigenwilligen Fassaden, gerundeten Fenstern, Erkern und Verzierungen. Auch Mobiliar und Geschirr - deren Serienproduktion Gewerbe und Handel ankurbeln sollten - stammten aus künstlerischen Entwürfen.

Mit der Ausstellung "Ein Dokument deutscher Kunst" trat die Künstlerkolonie 1901 erstmals ins Licht der Öffentlichkeit und präsentierte acht fertig eingerichtete Wohnhäuser. Hinzu kamen, zum Teil erst in späteren Jahren, große Ausstellungsgebäude. Finanziell war das Projekt allerdings ein Desaster, weshalb die zweite Ausstellung 1904 überwiegend mit preiswerten Provisorien bestückt wurde.

Viele der im Lauf von 15 Jahren auf der Mathildenhöhe errichteten Bauten existieren noch heute. Im Glückert-Haus, finanziert von einem Möbelfabrikanten und von Olbrich entworfen, residiert heute die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Das Haus Deiters, ebenfalls ein Entwurf Olbrichs und für den Geschäftsführer der Ausstellung errichtet, und Olbrichs eigenes Haus beherbergten bis 2016 das Deutsche Polen-Institut. Im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs wurde viele Gebäude auf der Mathildenhöhe allerdings schwer beschädigt und nur zum Teil - und nicht immer originalgetreu - wiederhergestellt.

Die Künstler bauten zwar zu Vorzugskonditionen, doch nur Olbrich, Christiansen, Habich und Behrens konnten sich eigene Häuser auch leisten. Für Normalbürger waren sie unerschwinglich. Ein Riegel Mehrfamilienhäuser zeigte allerdings zur dritten Ausstellung 1908, dass modernes Wohnen auch mit geringen Mitteln möglich war. Die Gebäude wurden im Krieg zerstört und nicht wiederaufgebaut. Drei Arbeiterhäuser aber waren nach der Ausstellung abgetragen und vor den Toren der Stadt wieder errichtet worden, wo sie den Krieg überstanden.

Heiraten im Fünf-Finger-Turm

Zwei Gebäude wirken wie Fremdkörper: Der Hochzeitsturm, wegen seiner charakteristischen Dachform auch Fünf-Finger-Turm genannt, ist das Wahrzeichen der Stadt. Teil der Künstlerkolonie aber war er nicht, auch wenn er ihre Formensprache aufgreift. Er wurde von Olbrich entworfen und 1908 errichtet - als Geschenk der Stadt an den Großherzog anlässlich dessen zweiter Ehe mit Prinzessin Eleonore zu Solms-Hohensolms-Lich. Heute kann jeder in dem Turm heiraten - das Standesamt hat darin eine Außenstelle errichtet.

Das zweite ist die Russische Kapelle mit ihren goldenen Zwiebeltürmchen. Sie entstand ebenfalls wegen einer Hochzeit: 1894 hatte Ernst Ludwigs Schwester Alix den russischen Thronfolger Nikolaus II. geheiratet. Der Zar wollte während seiner Besuche bei der Darmstädter Verwandtschaft nicht auf orthodoxe Gottesdienste verzichten. Also ließ er russische Erde nach Südhessen bringen und darauf eine Kapelle errichten. Architekt war Leon Benois, der Großvater des britischen Schauspielers Peter Ustinov.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der zum Abbruch der vierten Ausstellung führte, war das Kapitel Darmstädter Künstlerkolonie faktisch beendet, auch wenn sie erst 1929 formal aufgelöst wurde. Geblieben ist ein architektonisches Ensemble, das seinesgleichen sucht.