Das weltbekannte "Brieflesende Mädchen am offenen Fenster" von Johannes Vermeer (1632-1675) wird derzeit in Dresden von einer Übermalung befreit. Nach Angaben der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ist das Gemälde künftig nahezu wieder so zu sehen, wie es das Atelier des holländischen Künstlers vor mehr als 350 Jahren verließ. Bei Restaurierungsarbeiten sei jetzt entdeckt worden, dass der Hintergrund nicht von Vermeer stamme, sagte der Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister, Stephan Koja, am 7. Mai in Dresden. Nach Beratung mit einer internationalen Expertenkommission hätten sich die Kunstsammlungen daher entschieden, diese Schicht abzunehmen.

Für sein Alter sei das Gemälde in einem guten, konservatorisch stabilen Zustand, sagte der Dresdner Restaurator Christoph Schölzel, der mit den Arbeiten betraut wurde. Eine völlige Rückführung in die Entstehungszeit sei allerdings nur theoretisch möglich.

"Wie unter einer Sonnenbrille"

Schon die Abnahme des stark nachgedunkelten Firnisses habe das gewohnte Erscheinungsbild des Werkes "grundlegend geändert". Zuvor seien die Farben "wie unter einer Sonnenbrille" nur gedämpft sichtbar gewesen. Jetzt erscheine das Bild wieder in der vom Maler beabsichtigten kühlen, fein abgestimmten Farbigkeit. Die Entfernung der Übermalung im Bildhintergrund bedeute zudem "eine völlig neue Realität".

Der Hintergrund sei vermutlich einige Jahrzehnte nach Entstehung des Bildes (um 1657 bis 1659) und damit deutlich nach Vermeers Tod übermalt worden, sagte Schölzel. Dass der Hintergrund verändert wurde, war bereits bei früheren Röntgenuntersuchungen bekanntgeworden. Jetzt belegten Laboruntersuchungen zweifelsfrei, dass diese Malschicht nicht von Vermeer stammt, sagte der Restaurator. Als das Gemälde 1742 nach Dresden kam, sei der Hintergrund des Bildes bereits verändert gewesen. Er zeigt ein Gemälde von einem nackten Knaben.

Ein Teil der Übermalung wurde bereits entfernt. Dabei hat Schölzel unter einem Mikroskop mit einem feinen Skalpell mechanisch die Schicht abgetragen. Kopf und Schulter des Knaben sind jetzt wieder zu sehen. Die komplette Restaurierung des Bildes wird nach Angaben der Dresdner Kunstsammlungen aber noch mindestens ein weiteres Jahr brauchen.

Das Forschungs- und Restaurierungsprojekt zum Vermeer-Gemälde hatte im Frühjahr 2017 begonnen. Der Zwischenstand der Arbeiten wird von Mittwoch an in der Galerie Alte Meister gezeigt. Bis zum 16. Juni präsentiert eine Ausstellung neben dem teilrestaurierten Bild auch die Ergebnisse der Forschungen.

"Bild im Bild" mit nacktem Knaben

Bei dem Projekt waren Röntgen- und Infrarotreflektografie-Aufnahmen sowie Mikroskopuntersuchungen erneut ausgewertet worden. Dazu seien eine genaue Analyse der Bildträgerleinwand und Recherchen zur Restaurierungsgeschichte gekommen, erklärte Schölzel. Mehrere Farbproben wurden ihm zufolge aus Vermeers Gemälde entnommen und im Labor an der Hochschule für Bildende Künste Dresden hinsichtlich ihrer Schichtung und Konsistenz analysiert.

Die Übermalung habe ein wichtiges Element des Gemäldes verdeckt, sagte Arthur Wheelock, Mitglied der Expertenkommission und früherer Kurator an der National Gallery in Washington. Schon nach der teilweisen Entfernung werde dieses Kunstwerk "mit gänzlich anderen Augen" betrachtet, ganz in der Bewunderung für Vermeers Gespür für Licht, Farbe und eine Harmonie des Bildes, betonte er.

Das Bild war für die Sammlung des sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. in Paris erworben worden. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde die "Briefleserin" in Dresden bereits mehrfach restauriert. Seit einer 1979 angefertigten Röntgenaufnahme des Bildes war bekannt, dass sich an der Wand im Hintergrund des Zimmers ein vollständig übermaltes "Bild im Bild" mit einem nackten Knaben befindet. Die Forschung ging aber bisher davon aus, dass Vermeer die Rückwand des Raumes selbst übermalte.

Das Gebäude der Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau wird derzeit grundlegend saniert und ist nur zum Teil zugänglich. Die Wiedereröffnung ist für Dezember geplant. Das "Brieflesende Mädchen" wird dann aber noch nicht zu sehen sein. Es ist gemeinsam mit dem Bild "Bei der Kupplerin" eines von zwei Werken des Delfter Künstlers Vermeer in der Dresdner Gemäldegalerie.