Frankfurt a.M., Berlin (epd). Leonardo da Vinci (1452-1519) ist nach Worten seines Biografen Klaus-Rüdiger Mai kein "Freigeist" gewesen, sondern "ein religiöser Mensch mit der Weite der Renaissance". Zwar seien nur wenige religiöse Äußerungen des Malers selbst überliefert, sagte Mai dem Evangelischen Pressedienst (epd) anlässlich des 500. Todestags von da Vinci. Doch habe der Künstler, Forscher und Erfinder die Welt seiner Zeit gemäß als Schöpfung Gottes verstanden. Allerdings habe Leonardo die Kirche als weltliche Institution skeptisch gesehen und über Fehler des "Bodenpersonals" gespottet. Der nahe Berlin lebende Philosoph und Historiker Mai ist Autor des in diesem Frühjahr in der Evangelischen Verlagsanstalt (Leipzig) erschienenen Buchs "Leonardos Geheimnis".
"Was Leonardo antrieb, war Neugier, die Leidenschaft zu entdecken, was die Welt im Innersten zusammenhält, wie Gottes Schöpfung konzipiert ist", sagte der Renaissance-Experte. "Er wollte das Buch der Schöpfung entziffern." Dass Leonardo als Maler, aber zugleich auch als Naturforscher und Konstrukteur gearbeitet habe, sei keine Grenzüberschreitung gewesen, wie man heute denken könnte. Vielmehr seien damals die Grenzen etwa zwischen Malerei, Baukunst und Technik fließend gewesen.
Gottes Harmonie
Da Vincis Denken sei bestimmt gewesen durch die Grundannahme, dass die Natur auf Gottes Harmonie zurückzuführen sei. Er habe diese richtig deuten wollen, etwa in der Suche nach der vollkommenen menschlichen Gestalt, die er im "Vitruvianischen Menschen" (1492) festhielt. Dabei handelt es sich um die Zeichnung eines Mannes mit ausgebreiteten Armen und Beinen, dessen Fingerspitzen und Zehen einen Kreis und ein Quadrat berühren.
Interessiert habe den Maler, der offen homosexuell lebte, vor allem Androgynität, die Zweigeschlechtlichkeit oder Zwischengeschlechtlichkeit. "Das Idealbild des Menschen ist androgyn, nicht Frau, nicht Mann, nicht männlich oder weiblich, es schwimmt", sagte der Da-Vinci-Experte. Eine Wurzel dieses Denkens bei Leonardo sieht er in Platons "Symposion", in der Erzählung vom zweigeteilten Kugelmenschen, aufgespalten in Mann und Frau, die es zueinander hinzieht. Zudem werde in der Renaissance-Theologie Gott als Mann und Frau in einem und zugleich als Inbegriff höchster Vollkommenheit verstanden. Das vielgerühmte Geheimnis der "Mona Lisa" (1503-1506) gehe mit darauf zurück, dass Leonardo dieses Bild als Porträt der Lisa del Giocondo begonnen habe und dann "Schicht für Schicht immer androgyner gemalt" habe.
"Leonardo ermalt sich die Welt. Malen ist für ihn eine Form, die Welt zu erkennen", sagte Mai. Dabei sei sein Weltbild kein modernes, sondern im "Analogiedenken" seiner Zeit gefangen. Danach werden im Mittelalter alle Dinge der Natur als Entsprechungen des einen Schöpfers betrachtet. Unter dieser geistigen Voraussetzung habe Leonardo begonnen, sehr konkret zu forschen, etwa den Flug der Vögel zu beobachten, Wasserwirbel zu untersuchen oder Leichen zu sezieren und dies auch zu dokumentieren. Das sei das eigentlich Moderne bei ihm.