Es ist Mitternacht in Sevilla, der Himmel sternklar, ein Duft von Orangenblüten liegt in der Luft. Die geheimnisumwobene Nacht des Karfreitags bricht an. Aus dem Portal der Basilica de la Macarena treten mit schleppendem Schritt die langen Reihen der "Nazarener" mit ihren spitzen Kapuzen, das Gesicht hinter einem schwarzen oder violetten Tuch verborgen, das nur für die Augen schmale Schlitze hat, brennende Kerzen in den Händen. Die "Kapuzenmänner" der Nazarenos gehören einer der zahlreichen Bruderschaften an, die seit Jahrhunderten die Karwochenprozessionen zur Erinnerung an Leiden und Sterben Christi in der andalusischen Stadt gestalten.

Unter dem dumpfen Klang von Trommeln folgt "Jesus Nazareno el Pobre", der "arme Jesus aus Nazareth": eine lebensgroße Holzfigur, in purpurroten Samt gekleidet, die Haare wehen im Wind, auf dem Kopf eine Dornenkrone. Die Figur steht auf einem Podest, das mit Dornen mit Kerzen, silbernen Laternen und roten Nelken geschmückt ist und von 30 bis 50 jungen Männern getragen wird.

Der "arme Christus" wiegt drei Tonnen

"Pasos" heißen die Holzpodeste, auf denen die Figurengruppen der Karwochenprozessionen stehen. Sie stammen teils noch aus der Barockzeit. Bis zu drei Tonnen wiegt ein Paso. Die Träger gehen dicht an dicht unter der riesigen Plattform, von Samtvorhängen verdeckt. Sie sehen ihren Weg nicht, werden von einem Anführer mit lauten Rufen und Klopfzeichen auf dem Kopfsteinpflaster dirigiert. Wenn sie eine Kirche oder einen großen Platz passieren, stemmen sie das Holzpodest hoch und lassen den Paso unter dem Applaus des Publikums "tanzen".

Zu ohrenbetäubender Höhe schwillt der Beifall aber erst an, wenn der Paso mit der Macarena sichtbar wird, der von allen Sevillanern heiß geliebten Madonna. "Guapa! Guapa!" rufen die Menschen der Figur zu; "wunderschön" sieht sie wieder aus, die Muttergottes, in Trauer um den sterbenden Christus zusammengesunken und doch lächelnd. Ihre Gestalt verschwindet fast unter dem Brokat-Baldachin und einem Meer aus weißen Nelken.

Friedliches Miteinander

Macarena ist der Name einer arabischen Prinzessin, er erinnert an die Zeit, als die Mauren über Spanien herrschten und ein verhältnismäßig friedliches Miteinander von Muslimen, Christen und Juden in gegenseitiger Achtung möglich war. Die Madonnenfigur aus dem 17. Jahrhundert, die eine kostbare Goldkrone trägt und am in der Nacht zum Karfreitag durch die Straßen zieht, wird als Schutzpatronin, Schönheitskönigin und Stadtregentin verehrt. Die gleichnamige, 1595 gegründete Bruderschaft ist die berühmteste in Spanien.

Mit insgesamt 60.000 Bruderschaftsmitgliedern ist Sevilla immer noch die Hochburg der malerischen Prozessionen, die in Spanien, aber auch in Italien und Lateinamerika die Semana Santa prägen, die "Heilige Woche" vom Palmsonntag bis zum Ostermorgen. Unter der magischen Lichtfülle des andalusischen Himmels, in den bühnenbildhaften Straßenlabyrinthen barocker Städte, würden Tod und Leben, Liebe und Einsamkeit, Wollust und Agonie schmerzhaft intensiv empfunden - so beschrieb es einst die sevillanische Kunsthistorikprofessorin Aurora León.

Die Heilige Woche in Sevilla ist auch eine bunte Attraktion mit Straßenhändlern, die Kerzen und Luftballons verkaufen, und Nazarenos, die Bonbons an die Kinder verteilen. Aber wenn ein Paso in Sicht kommt, fließen echte Tränen, brechen emotionale Rufe heraus.

Knapp 700.000 Einwohner hat Sevilla; das heißt, ungefähr jeder zwölfte Stadtbewohner gehört einer der 57 Bruderschaften an und ist an einer der Karwochenprozessionen beteiligt, die auf exakt festgelegten Routen von den Pfarrkirchen der einzelnen Stadtbezirke zur Plaza La Campana und von dort zur Kathedrale führen.

Kapuzenmänner und Büßer

Wer nicht bei den Nazarenos, den Kapuzenmännern, oder den Costaleros, den unsichtbaren Paso-Trägern, mitmacht, gehört vielleicht zu den Penitentes, den Büßern. Sie erinnern an mittelalterliche Geißlerzüge. Und man trifft auch heute noch solche, die Holzkreuze und schwere eiserne Fußkreuze schleppen oder sich den nackten Oberkörper peitschen, um dem leidenden Christus auf seinem Kreuzweg besonders realistisch nahe zu kommen. Die Demandantes bitten bei den Zuschauern um Almosen, die Aguadores versorgen die schweißüberströmten Träger der schweren Altarbühnen mit Wasser.

Und manchmal wird es ganz still. Plötzlich hält die Prozession mit dem Paso an, das Murmeln der Menge verstummt, und auf einem Balkon stimmt jemand ein Klagelied der Muttergottes über das Leiden ihres Sohnes an, eine "Saeta". Der Gesang erinnert an den den eintönigen Gebetsruf eines Muezzins, immer wieder wird er unterbrochen durch den Ruf "Ay!", den man aus dem Flamenco kennt.

Die ersten Bruderschaften bildeten sich in Sevilla im 14. Jahrhundert - Vereinigungen, die das gemeinsame religiöse Leben pflegten und meist aus Zünften entstanden sind. Deshalb gibt es heute noch die Bruderschaften der Tischler, der Bäcker, der Rechtsanwälte, der Dienstmädchen, der Arbeiterinnen aus der Zigarettenfabrik, vor allem aber die Bruderschaften der einzelnen Stadtviertel.

Zwei Jahrhunderte später - Heimkehrer aus dem Heiligen Land hatten die Sitte des Kreuzwegs mitgebracht - begannen die Prozessionen zur Erinnerung an die Passion Jesu. Heute übernehmen sie mit Glaubensseminaren, Diskussionsveranstaltungen, Stipendien, Feriencamps, Einsatz in Krankenhäusern und Armenvierteln auch zunehmend kulturelle und soziale Aufgaben.