Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, hat die deutsche Arbeits- und Sozialpolitik kritisiert. Das Armutsrisiko sei in der Bundesrepublik trotz des Wirtschaftsbooms der vergangenen Jahre gestiegen, sagte der Ökonom dem Berliner "Tagesspiegel" (31. Dezember). Dass der Verdienst vieler Menschen im Land nicht ausreiche, um über die Runden zu kommen, sei sozialer Sprengstoff. 40 Prozent der Bundesbürger hätten zudem so gut wie kein Erspartes. Ein "Warnschuss" sei in dieser Situation der Erfolg der AfD.

Dringender Handlungsbedarf bestehe vor allem im Niedriglohnsektor, der in Deutschland außergewöhnlich groß sei, betonte Fratzscher. Jeder fünfte Beschäftigte arbeite in der Bundesrepublik im Niedriglohnbereich, darunter auch viele gut Qualifizierte. Hintergrund sei auch, dass es in vielen Niedriglohnbereichen keine ausreichende gewerkschaftliche Vertretung gebe. Gewerkschaften und Arbeitgeber müssten deshalb als Sozialpartner notfalls gezwungen werden, Tarifverträge abzuschließen.

Die Erhöhung des Mindestlohns von 8,84 Euro auf 9,19 Euro und ab 2020 auf 9,35 Euro sei nur ein Placebo, kritisierte Fratzscher. Wer diesen Mindestlohn bekomme, erhalte später keine Rente, von der er leben könne. "Man bekämpft Symptome, aber nicht die Ursachen", kritisierte der Ökonom. Zu den Ursachen gehöre, dass sich für viel zu viele Menschen in Deutschland Arbeit zu wenig lohne und es ihnen nicht möglich sei, "von der eigenen Hände Arbeit selbstbestimmt ihr Leben zu gestalten".

Familiensplitting empfohlen

Statt dies zu ändern und beispielsweise die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, werde verstärkt gefordert, sogenannte Leistungsträger mit hohen Einkommen zu entlasten, kritisierte Fratzscher. Deren Einkünfte seien jedoch in den vergangenen zehn Jahren bereits massiv gestiegen, die oberen 20 Prozent hätten heute bis zu 30 Prozent mehr Einkommen. Auch von der geplanten Abschaffung des Solidaritätszuschlags in der Einkommensteuer profitiere fast nur die obere Hälfte, die Hälfte der Entlastung komme den oberen zehn Prozent zugute.

Stattdessen müssten junge Leute besser qualifiziert, Zuwanderer besser integriert und das Ehegattensplitting zum Familiensplitting umgebaut werden, betonte der Ökonom. Auch in der Mieten- und Wohnungspolitik habe der Bund versagt. Die steigenden Wohnkosten in den Städten seien ein "Riesenproblem, aber auch Beweis dafür, dass die Politik schon seit 20, 30 Jahren ihrer Fürsorgepflicht nicht nachgekommen" sei. Den sozialen Wohnungsbau zurückzufahren und öffentliche Wohnungen zu privatisieren, sei ein "Riesenfehler" gewesen. Die Mietpreisbremse reiche als Gegenmittel "hinten und vorne nicht".