Nairobi (epd). Noch ein paar Krümel, dann hat Anne Wachira es geschafft. Ihre Tochter Grace hat genug gefrühstückt. "Manchmal dauert es zwei Stunden, bis sie satt ist", sagt die Kenianerin. Das neunjährige Mädchen sitzt ihr gegenüber festgeschnallt im Rollstuhl. Grace und ihr Körper scheinen unentwegt miteinander zu kämpfen. Sie hat eine Schädigung des Gehirns, eine infantile Zerebralparese.
Weil Grace nur schlecht schlucken kann, braucht jede Mahlzeit viel Zeit: Wachira bricht eine Art Donut in kleinste Stücke, weicht sie in Tee ein und steckt sie ihrer Tochter in den Mund. Sie und ihr Mann Joseph haben noch zwei weitere Kinder: den vierjährigen David und den einjährigen Jonathan, der eine ähnliche Hirnschädigung hat wie seine Schwester.
Die Familie wohnt im zentralen Hochland Kenias, im Dorf Giacai. Ihre Lehmhütte steht auf einem kleinen Grundstück mit Bananenstauden und einem Kürbisbeet. Das kleine Wohnzimmer füllen drei Sofas, ein niedriger Tisch und ein Schrank für das Geschirr.
"Wir werden abgelehnt"
Seit Grace auf die Welt kam, haben sie nicht die besten Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht. "Wir werden abgelehnt", sagt Anne Wachira, während sie Tee serviert. Dennoch freut sich die warmherzige 38-Jährige mit weichen Gesichtszügen über den Besuch. "Manche haben Angst vor uns, andere verstehen einfach nicht, was mit unseren Kindern los ist." Ihr Ehemann ergänzt: "Die Leute halten uns für verhext oder verflucht."
Behinderung ist in Kenia noch immer ein Tabu, trotz einer fortschrittlichen Verfassung, die Menschen mit Beeinträchtigungen alle Rechte garantiert. Ob sich dadurch der Blick auf Behinderte mit den Jahren verändert hat, weiß Wachira nicht. "Ich habe schon länger keinen Kontakt zu anderen Menschen." Die Betreuung der Kinder lässt ihr kaum Zeit, das Grundstück zu verlassen. Auf dem Land sind Schulen oder Kindergärten für Behinderte selten, die Familien weitgehend auf sich gestellt.
Unterstützung erhalten Graces Eltern von der Selbsthilfegruppe für Behinderte "Ngakandu Disability Project", die Pharis Karani gegründet hat. Er ist nach einem Unfall erblindet. "Das war ein Schock", erzählt der 60-Jährige. "Ich habe mich selbst wertlos gefühlt." Karani war damals 37 Jahre alt, Vater von drei Kindern und Lehrer.
In einem Reha-Zentrum fand er sein Selbstvertrauen wieder und ließ sich anschließend zum Schuster umschulen. Dann gründete er die Selbsthilfegruppe, um "Behinderten und der Gesellschaft klar zu machen, dass unsere Behinderung nicht bedeutet, dass wir unfähig sind".
Eigenes Sozialsystem
Die Gruppe hat mittlerweile 25 Mitglieder mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen. Die Schatzmeisterin, die 51-jährige Philis Wakanyei, sieht auf einem Auge gar nichts und auf dem anderen nur wenig. Die 50-jährige Mary Waruguru ist seit einem Schlaganfall teilweise gelähmt. Der 62-jährige Schreiner Simon Kibara Njau hat seit Geburt ein verkürztes Bein und hinkt. Andere haben Kinder mit Trisomie 21.
Geld und das tägliche Überleben sind wichtige Themen in der Gruppe. Fast 70 Prozent der Behinderten in Kenia sind arm - im Vergleich zu 50 Prozent der gesamten Bevölkerung. "Laut unserer Verfassung sollen benachteiligte Gruppen Unterstützung kriegen", sagt Karani. "Aber das steht nur auf dem Papier." Deshalb macht er Lobbyarbeit und hilft Einzelnen hartnäckig dabei, ihr Recht einzufordern. Er weiß, wer Anspruch auf Hilfsmittel hat, hilft beim Papierkram. Nur deshalb haben die Wachiras es geschafft, einen Rollstuhl für Grace zu bekommen.
Jedes Mitglied der Selbsthilfegruppe muss bei der Aufnahme 500 kenianische Shilling zahlen, und 150 Shilling pro Monat - etwa 1,30 Euro. Damit finanziert die Gruppe ein eigenes Sozialsystem. Sie vergibt Mikrokredite, kümmert sich um Notfälle, zahlt auch die Miete einer Witwe, die keine Verwandte hat - neun Euro im Monat. Manchmal erhält jemand einen Zuschuss zum Schulgeld, oder im Härtefall Lebensmittel, wie die Wachiras.
Das vergangene Jahr sei für die Familie besonders schlimm gewesen, erzählt Anne Wachira: Alle waren krank. Und ihr Mann, der sein Geld bisher als Maurer verdiente, brach sich das Handgelenk beim Sturz von einer Leiter. Es wird noch dauern, bis er wieder arbeiten kann.
Solidarität
Pharis Karani sitzt auf dem Sofa und hört zu, den Becher warmen Tees in der Hand. "Er tröstet uns und bringt uns in Kontakt mit anderen Menschen, die unter denselben Schwierigkeiten leiden", sagt Joseph Wachira dankbar. In diesem Jahr hat die Selbsthilfegruppe der Familie Mais gebracht, weil sie sonst wohl hätte hungern müssen. "Nach jeder Ernte teilen wir mit denjenigen, die am meisten Schwierigkeiten haben", erklärt Karani.
Anne Wachira schiebt ihre Tochter vor das Haus an die frische Luft. Eine knifflige Übung, den großen Rollstuhl aus der engen Hütte zu fahren. Im Garten ist es nicht viel einfacher, der Weg zwischen Lehmwand und Kürbisbeet ist schmal. An den Bananenstauden knabbert eine Ziege, deren Milch Grace und ihren Geschwistern beim Wachsen hilft. Die Wachiras haben das Tier mit einem Kredit der Gruppe gekauft. "Gemeinsam sind wir stark", versichert Karani. Anne und Joseph sind davon noch nicht ganz überzeugt, aber Karanis Zuversicht macht ihnen etwas Mut.