Schon durch die Fenster sieht man die erleuchtete, lebensgroße Figur: den wilden Kerl mit Löwenmähne und ellenlangen Fingernägeln. Ebenso die Figur des Paulinchens und des Hanns Guck-in-die-Luft. Der "Struwwelpeter" ist mit seinen Buchgenossen in die neue Altstadt von Frankfurt am Main eingezogen. Am 23. September wurde das gleichnamige Museum mit 600 Quadratmetern am Hühnermarkt eröffnet, und nun kann die weltweit größte Sammlung an Exponaten zu dem Bilderbuchklassiker und dessen Autor besichtigt werden.

Das erste deutsche Bilderbuch mit Zeichnungen und Text - so die Museumsleiterin Beate Zekorn von Bebenburg - wartet mit Superlativen auf: Allein auf Deutsch wurde es in 35 Millionen Exemplaren gedruckt, daneben in mehr als 40 Sprachen und 80 deutsche Dialekten übersetzt, vielfach nachgeahmt und parodiert. "Das Museum hebt das Lebendige, Krasse, Rebellische des Struwwelpeters hervor", sagt die Leiterin und zitiert die Schauspielerin Iris Berben: "Struwwelpeter ist Rock 'n' Roll."

"Schwarze Pädagogik"

Die Museumsbesucher erfahren, wie es aus einer Not dazu kam: Der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann (1809-1894) fand vor 175 Jahren kein passendes Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn Carl. Kurzerhand griff er selbst zur Feder, zeichnete und reimte die Geschichten. Von Freunden 1845 zum Druck überredet, wurde der "Struwwelpeter" ein Riesenerfolg. Die Geschichten vom Zappel-Philipp, vom Suppen-Kaspar, vom Daumenlutscher oder vom Hanns Guck-in-die-Luft begeisterten Kinder und Eltern - nur nicht die Pädagogen.

Diese kritisierten zur Zeit Hoffmanns, dass die unbotmäßigen Kinder sich in den Geschichten nicht besserten. Pädagogen ab den 1960er Jahren kritisierten hingegen, die Geschichten seien brutal und verbreiteten "schwarze Pädagogik". Hoffmann habe eine Lust am Übertreiben, am Nonsens und am karikaturenhaften Strich gehabt, erklärt Zekorn von Bebenburg. Gleichzeitig hätten die Geschichten für den Arzt einen ernsten Hintergrund gehabt: Das Schicksal des Daumenlutschers etwa warne vor der Ursache, dass damals jedes zweite Kind bis fünf Jahre an Infektionskrankheiten starb, ebenso warne das brennende Paulinchen vor einer häufigen Unfallursache.

Struwwelhitler

"Das Kind lernt einfach nur durch das Auge, und nur das, was es sieht, begreift es", resümierte Hoffmann 1893 kurz vor seinem Tod. "Mit moralischen Vorschriften zumal weiß es gar nichts anzufangen." Respekt gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe ist Thema der Geschichte von den schwarzen Buben. Mediziner und Psychologen heute finden die Figuren interessant, weil sie in ihnen Typen erkennen: etwa den Hyperaktiven, den Unaufmerksamen, den Aggressiven und den Magersüchtigen.

Museumsbesucher können heute verschiedene Ausgaben des Struwwelpeters, Übersetzungen und satirische Abwandlungen in Augenschein nehmen. Zu letzten gehört etwa der "Struwwelhitler", mit dem ein englischer Autor zur Zeit des Zweiten Weltkriegs den deutschen Diktator verspottete. Aktuell trägt ein Buch über den Brexit als Titelbild die Figur des Hanns Guck-in-die-Luft. An Kinder richten sich einige Spielstationen, analog zum Anfassen oder digital zum Berühren. So lässt sich am Bildschirm eine Geschichte zum Struwwelpeter heute entwickeln, die etwa zu den Rastafari nach Jamaika führt.

Politischer Zeitgenosse

Genauso ausführlich wie die berühmte Bilderbuchfigur stellt das Museum den Erfinder Heinrich Hoffmann vor. Dieser habe die Psychiatrie in Frankfurt in die Moderne geführt, erläutert Zekorn von Bebenburg. 1851 wurde er ärztlicher Leiter der "Anstalt für Irre und Epileptische" auf dem heutigen Geländes des I.G. Farben-Gebäudes. Statt die "Irren" nur unter Zwang zu verwahren, etablierte er die Ziele Therapie und Heilung für psychisch Kranke.

Ebenfalls erregte Hoffmann als politischer Zeitgenosse Aufmerksamkeit. Zum Vorhaben der bürgerlichen Revolution 1848 schrieb er eine Hymne, war dann aber vom Streit der Revolutionsanhänger enttäuscht. Die Ausstellung zeigt satirische Schriften, mit denen Hoffmann sowohl Linksrevolutionäre wie auch Erzkonservative verspottete.

Hoffmanns Erbe wird vom Struwwelpeter-Museum auch auf praktische Weise fortgeführt: Die gemeinnützige Gesellschaft des Vereins "frankfurter werkgemeinschaft", eines Sozialwerks für psychisch kranke Menschen im Caritasverband, bietet psychisch Kranken Beschäftigung. Knapp die Hälfte der vorgesehenen zwölf Angestellten sollten Schwerbehinderte sein, sagt der Geschäftsführende Vorstand der Werkgemeinschaft, Torsten Neubacher. Für das Museum hat die Werkgemeinschaft knapp 4,4 Millionen Euro investiert, die Stadt fördert es mit jährlich 240.000 Euro.