Saarbrücken/Oranienburg (epd). Zum Holocaust-Gedenktag hat der frühere Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter Morsch, auf neue Herausforderungen für die Erinnerungskultur hingewiesen. Mit dem "allmählichen Erlöschen der Erlebnisgeneration und dem absehbaren Ende der Zeitzeugenschaft" werde aus Zeitgeschichte Geschichte, sagte der Historiker am 27. Januar bei einer Gedenkveranstaltung im saarländischen Landtag in Saarbrücken. Die emotionale Kraft und Eindrücklichkeit in der Darstellung ihrer subjektiven Geschichte durch Überlebende des NS-Terrors sei jedoch unersetzbar.
"Die Zeitzeugen, vor allem aus dem Kreis der Opfer der NS-Verbrechen, waren in der Lage durch ihre Präsenz und ihre eindrucksvollen Berichte, eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu schlagen", betonte Morsch. Diese Brücke lasse sich nicht länger aufrechterhalten. Dadurch ändere sich auch die persönliche Auseinandersetzung.
Neuere Untersuchen ließen vermuten, dass mit zeitlichem Abstand unkritische Übernahmen von Rechtfertigungserzählungen der Großeltern und Urgroßeltern immer noch wirksam seien, sagte Morsch, der bis Ende Mai 2018 die Gedenkstättenstiftung in Oranienburg geleitet hat. "Immer schon klafften Familiengedächtnis und erlernte Geschichte auseinander", sagte der Historiker. Diese Kluft sei nicht kleiner, sondern eher noch größer geworden.
Die allgemeine Anerkennung und Verurteilung der zahlreichen nationalsozialistischen Verbrechen gehöre zwar zum allgemein akzeptierten Geschichtsverständnis, betonte Morsch. Gleichzeitig werde aber die Zustimmung oder Beteiligung eigener Familienmitglieder abgestritten oder zumindest tabuisiert.
Der Historiker plädierte zudem für eine Weiterbildungspflicht zum Jahrhundert der Extreme für möglichst alle Angestellten und Beamten des Staates, insbesondere in Bildungseinrichtungen, Justiz, Polizei, Verwaltung und Bundeswehr. Morsch bezeichnete es aber auch als mutmachend, dass über Initiativen, wie etwa die Verlegung und Pflege von Stolpersteinen, die zivilgesellschaftliche Erinnerungskultur in anderen Formen lebendig bleiben könne.
"Die Erinnerungskultur muss sich zunehmend auch aus ihrer einseitigen Fixierung auf die Nationalgeschichte lösen", sagte Morsch: "Das gebietet bereits der zunehmende Bevölkerungsanteil von Menschen mit migrantischem Hintergrund." Sie seien nur zu erreichen, wenn es gelinge, "auch an ihre tradierten Erinnerungskulturen anzuknüpfen".