Frankfurt a.M. (epd). Die Friedenspreisträgerin Anne Applebaum hat Deutschland zu einer Führungsrolle bei der Verteidigung der westlichen Demokratie gegen die russische Aggression aufgerufen. Deutschland solle im Kreis der freiheitlichen Gesellschaften Europas „den Kampf mit anführen“ und müsse dabei auch Risiken eingehen, sagte die US-amerikanisch-polnische Historikerin und Publizistin am 20. Oktober bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche.
Ein waffenloser Pazifismus fordere Kriege heraus und verhindere sie nicht, sagte Applebaum in ihrer Dankesrede. Ziel müsse es sein, der angegriffenen Ukraine zum Sieg zu verhelfen und den „schrecklichen Gewaltkult“ in Russland zu beenden. Die Europäer verabscheuten den Krieg, doch manchmal sei dieser das kleinere Übel, um eine Unterdrückung der Freiheit zu verhindern.
„Das 'Nie wieder' hat uns blind gemacht“
Ein Pazifismus, der es zulasse, dass Menschen und Gebiete an Diktatoren gingen, habe nichts aus der leidvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt. „Das 'Nie wieder' hat uns blind gemacht“, sagte die Friedenspreisträgerin. Möglicherweise wäre der russische Angriffskrieg durch rechtzeitige Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine verhindert worden.
Die russische Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa sagte in ihrer Laudatio, Applebaum habe als eine der ersten Beobachterinnen im Westen die autoritäre Entwicklung Russlands unter Putin erkannt. Die Historikerin habe den westlichen Ländern vor Augen geführt, dass sie sich gegenüber der Aggressivität Russlands „im wahrsten Sinne des Wortes“ verteidigen müssten, sagte Scherbakowa.
Die Kulturwissenschaftlerin ist Mitbegründerin der seit 2022 in Russland verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial, der im selben Jahr der Friedensnobelpreis zuerkannt wurde. Scherbakowa, die ihr Heimatland 2022 verließ, warnte davor, die Gefahr zu unterschätzen, die von der Bedrohung durch das Putin-Regime ausgehe. Für Osteuropa habe das russische System mit seiner Mischung aus Terror und Gewalt nach dem Zweiten Weltkrieg eine andere Form von Diktatur gebracht.
Börsenverein: Wichtige Analytikerin von Autokratien
In der Begründung zur Verleihung des Friedenspreises lobte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Applebaum als eine der wichtigsten Analytikerinnen autokratischer Herrschaftssysteme. Sie helfe der Welt zu verstehen, wie sie ist: gespalten, mit einer sinkenden Zahl an Demokratien und einer wachsenden Zahl von Autokratien, sagte die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs.
Applebaum wurde 1964 in Washington D.C. als Kind jüdischer Eltern geboren. Sie studierte Russische Geschichte und Literatur an der Yale University sowie Internationale Beziehungen in London und Oxford. 1988 wurde Applebaum Auslandskorrespondentin in Polen für das britische Nachrichtenmagazin „The Economist“, dann arbeitete sie für britische Zeitungen. Bis 2019 schrieb sie als Kolumnistin für die „Washington Post“, seither vornehmlich für die US-amerikanische Zeitschrift „The Atlantic“.
Mit polnischem Außenminister verheiratet
2017 übernahm sie eine dauerhafte Professur an der London School of Economics and Political Science. Ihr Programm „Arena“ über Desinformation und Propaganda verlegte sie 2019 an das Agora-Institut der Johns Hopkins University in Baltimore. Applebaum lebt seit 30 Jahren mit Unterbrechungen in Polen, verheiratet ist sie mit dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski. Für ihre Bücher „Der Gulag“ (2003), „Der Eiserne Vorhang“ (2012), „Roter Hunger“ (2019) und die „Die Verlockung des Autoritären“ (2021) wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie 2004 den Pulitzer-Preis und den Carl-von-Ossietzky-Preis 2024.
Der mit 25.000 Euro dotierte Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird seit 1950 vergeben. Die Auszeichnung wird traditionell am letzten Tag der Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche verliehen. Im vergangenen Jahr wurde der Schriftsteller Salman Rushdie geehrt.